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Sechstes Kapitel.
Die Zwillingshäuschen.

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Eine kleine Stadt ist es, klein und altertümlich und mit einer Einwohnerzahl von fünf- bis sechstausend Seelen. Sie liegt in der norddeutschen Ebene, umringt von fruchtbaren Gefilden und in der weiteren Nachbarschaft von wohlbestandenen Forsten. Braunrot erhebt sie sich mit ihren Ziegeldächern, einigen von Wachtürmen überragten Mauerresten aus verschollenen Zeiten, den beiden griesgrämig dareinschauenden Kirchtürmen und dem ebenfalls anspruchslos betürmten Rathause. Was die Obstbäume der sie umkränzenden Gärten und die auf dem einstigen Stadtwall angelegte Lindenallee dem Auge entziehen und nicht entziehen, ist im allgemeinen krumm, schief und unregelmäßig: die Straßen wie die bejahrteren Häuser und der Marktplatz.

Ähnliche unansehnliche Äußerlichkeiten beobachtete man an einer älteren, mittelgroßen Frauengestalt, die, obwohl außerhalb wohnend, seit einer langen Reihe von Jahren jedem in der Stadt, jung wie alt, eine vertraute Erscheinung war. Jeder schwor darauf, daß sie in den letzten fünfundzwanzig Jahren, abgesehen von einem wachsenden Vorrat von Runzeln, sich nicht verändert habe. Wie früher war sie immer noch sicher und würdevoll in Haltung und Bewegungen: wie damals trug sie noch immer einen etwas schlotterigen dunkelfarbigen Rock; wie damals Sommer und Winter ein großes, schwarz und grau gewürfeltes Umschlagetuch, das in seinem seltsamen Faltenwurf an phantastisch bekleidete Kreuze erinnerte, wie solche zum Schrecken der Sperlinge in Getreidefeldern errichtet werden. Wie damals auch eine blendend weiße Haube mit schmaler Rüsche und darüber einen altmodischen, schwarzseidenen Hut. Im übrigen sah man sie, wenn sie zur Stadt kam, was dreimal die Woche geschah, nie anders, als mit einer beutelartigen Ledertasche am linken Arm, zu der bei gutem Wetter in der rechten Hand sich ein verschossener, halbseidener grüner Sonnenschirm gesellte, bei trübem Himmel dagegen ein nicht minder verblichener, ursprünglich knallroter Regenschirm von respektablem Umfange. Ihr noch immer volles Gesicht war allerdings im Laufe der Zeiten gewelkt, das hinderte indessen nicht, daß ihre blauen Augen nach wie vor mit jugendlicher Lebhaftigkeit blickten und die hübsch geformte Nase wie der Schnitt des Mundes und zwei Reihen tadelloser weißer Zähne von früheren Reizen verständlich berichteten.

Was man von ihr wußte, war nur wenig. Vor vielen Jahren war sie eines Tages zum ersten Male als junges, frisches Weib in der Stadt erschienen, um kleine Einkäufe zu besorgen. Dann erfuhr man, daß sie aus dem nur zwanzig Minuten von der Stadt gelegenen Landsitz des dort hineingeheirateten Barons von Scherben als Amme des erstgeborenen Sohnes zugezogen sei. Leider starb die Mutter, bevor das Kind sein viertes Jahr vollendete. Der Vater, dem es auf dem stillen Landsitz zu einsam geworben sein und den es auch verdrießen mochte, daß ihm die freie Verfügung über den »Hof«, wie der alte Edelsitz weit und breit hieß, laut testamentarischer Bestimmung seiner Frau entzogen worden, blieb nur bis kurz vor seiner zweiten Verheiratung dort, dann siedelte er nach der Hauptstadt über. Für Frau Gertrud Blister war dies Ursache, sich von ihrem geliebten Pflegling zu trennen, zumal niemand sie aufforderte, ihn nach der Stadt zu begleiten. Man verzieh ihr offenbar nicht, daß sie das Vertrauen der verstorbenen jungen Frau in vollstem Maße besessen hatte und von dieser in alle Familienverhältnisse tiefer eingeweiht worden war, als es wünschenswert erschien. Man mochte ahnen, daß die Sorge um ihr bald mutterloses Kind für die Baronin maßgebend gewesen war, als nach ihrem Tode sich erwies, daß sie als unumschränkte Besitzerin des Erbes ihrer Väter von dem ihr zustehenden Rechte Gebrauch gemacht und die beiden die Einfahrt in den Park begrenzenden kleinen massiven Häuser der schon damals verwitweten Gertrud Blister auf Lebenszeit zur freien Benutzung übermacht, dieser aber die Verpflichtung auferlegt hatte, zuzeiten, in denen der Hof unbewohnt stand, des Amtes einer Art Kastellanin zu walten und ein wenig nach dem Rechten zu sehen.

Diese Zeiten hatten sich indessen schon über mehr als dreißig Jahre ausgedehnt, und wenn die ihren Tod ahnende junge Mutter davon ausging, daß ihres Sohnes Anhänglichkeit an seine alte Amme ihn immer wieder zu dieser hinführen würde, so hatte sie sich nicht getäuscht. Aber nur selten, meist im verlockenden Spätsommer, kam der Baron mit seiner zweiten Frau, deren Sohn Joachim und Hans, seinem Ältesten und früheren Pflegling der Frau Blister, dorthin, um indessen nach kurzer Zeit wieder in die Hauptstadt zurückzukehren. Diese wenigen Tage genügten jedoch, Gertrud Blister zu überzeugen, daß ihrem Pflegling bei der Stiefmutter kein glückliches Los beschieden war und diese es verstanden hatte, auch dessen Vater zugunsten ihres eigenen Sohnes gegen ihn einzunehmen. Die nächste Folge hiervon war, daß der vertrauliche Verkehr zwischen der früheren Amme und ihrem Liebling streng überwacht wurde und sich daher auf nur wenige heimliche Gelegenheiten beschränkte.

Die Besuche des Barons auf dem Hofe wurden allmählich in demselben Maße seltener, in dem die Baulichkeiten vermorschten und sein Sohn Hans verbitterte, obwohl er sich mehr und mehr als Eigentümer des Hofes fühlte. Auf alle Fälle geschah nichts, den alten Sitz auch nur einigermaßen vor dem Verfall zu bewahren. Und doch bot er eine Stätte, die unter mäßigen Geldopfern in ein kleines Paradies hätte verwandelt werden können.

Der Eingang in den fest eingefriedigten Park wurde durch ein breites Gittertor von geschmiedetem, mit einer dicken Rostlage überzogenem Eisen verschlossen gehalten. In dem Häuschen links davon, dessen Tür und zwei Fenster sich auf die Landstraße öffneten, wohnte Gertrud Blister. In dem anderen dagegen, an das eine geräumige Werkstatt nebst Esse, Stallung für eine Kuh, Schweine und Hühner, sowie ein kleiner Schuppen angebaut worden waren, trieb seit etwa zehn Jahren ein Grobschmied sein Handwerk. An ihn hatte Blisterchen, wie sie sich von Freunden gerne nennen hörte, dies bescheidene Heimwesen vermietet, und so galten für den Schmied dieselben Bedingungen, wie für seine Vermieterin, so lange er eben gute Nachbarschaft mit ihr hielt. Beide konnten nicht vertrieben werden, nicht einmal durch den Baron Hans, den eigentlichen Besitzer.

Von dem Torwege aus führte eine breite Allee prachtvoller, mehrere hundert Jahre alter Kastanienbäume nach dem etwa acht Minuten entfernten Hofe. Andere Wege zweigten sich hier und da ab, und diesen folgend bewegte man sich bald über Wiesenflächen, bald durch dichtbestandenes Gehölz einher. Wege und Pfade waren indessen mehr oder minder zugewuchert, kaum daß in der Hauptallee, begünstigt durch den der Vegetation feindlichen Schatten, dem überhand nehmenden Graswuchs einigermaßen gesteuert wurde.

Und so trug auch der Park trotz seiner schönen Waldriesen und malerischen Haine einen eigentümlich melancholischen Charakter der Verwahrlosung und des Verfalls, den sogar die scheidende Sonne eines klaren Oktobertages nicht zu mildern vermochte. Wohl erglühten die herbstlich gelben und braunen Flächen hier und da unter den sie suchenden rötlichen Strahlen, allein sie erinnerten ans Sterben, zumal zahlreiche tote Blätter, durch die jüngsten Regenströme den Wipfeln entführt, auf Wegen und Rasenflächen zerstreut umherlagen. Doppelt munter ertönten dafür in der Schmiedewerkstatt die Schläge mehrerer schwerer Hämmer, die das ganze Gebäude förmlich erbeben machten, und eines leichten, der mit seinem hellen Klingen gewissermaßen den Takt regelte. Hin und wieder rastete auch einer der schweren Hämmer, und dann wurde das Fauchen und Ächzen laut, mit dem unter den Händen des Lehrburschen der Blasebalg in die Kohlenglut hineinschnob.

Der Meister Kunibertus Velten selbst war im Augenblick nicht anwesend. Der erste Geselle schob eine auf dem Amboß erkaltende, noch unfertige Pflugschar in das Feuer zurück, zog eine andere, weißlich glühende hervor, und aufs neue erdröhnten die Schläge, sprühten die Funken und klang der Amboß, als gälte es, noch vor Einbruch der Nacht ein ganzes Gutsinventar herzustellen.

Anscheinend überwacht wurde die Arbeit von zwei ruhigen, hellblauen Augen, und die gehörten keiner anderen, als Gertrud Blister. Auf einem hohen, dreibeinigen Schemel und auf einer Stelle, wo die Hammerschlagfunken sie nicht erreichten, saß sie, die Füße auf einer der die Schemelbeine haltenden Querlatten rastend, die Ellenbogen auf die Knie, das Haupt auf beide Hände gestützt. Meister Kunibertus wie Gesellen und Lehrbursche kannten ihre Gewohnheit, und so wagte denn auch niemand, sie zu stören oder gar durch ein loses Wort sie zu vertreiben. An dem heutigen Abend schien sie besonders tief in Gedanken versunken zu sein.

Als Mädchen sah sie sich, als munteres, junges Ding und mit einem Äußeren, an dem die Dorfburschen meinten, sich nicht satt sehen zu können. Sie sah sich die Hände bei der Arbeit ebenso flink rühren, wie die Füße aus dem Tanzplatz. Sie sah sich in den Armen eines rechtschaffenen Schmiedegesellen, seine aufrichtigen Schwüre ewiger Liebe und Treue ebenso aufrichtig erwidernd und endlich mit ihm vor den Traualtar hintretend. Doch ob damals ihr Herz jauchzte: die Vergegenwärtigung jener glücklichen Bilder vermochte ihrem ruhigen, farblosen Antlitz keinen Widerschein mehr zu entlocken. Und wie wäre das möglich gewesen! Denn die Tage ihres höchsten Glückes bildeten zugleich die Grenze, auf deren anderer Seite sich nur noch Kummer und Herzeleid endlos ausdehnten. Einem Töchterchen gab sie das Leben, und erst wenige Tage hatte sie sich an dessen Anblick geweidet, als dessen Vater ihr durch einen Unglücksfall auf immer entrissen wurde. Ein verhängnisvoller Schlag war es, um so verhängnisvoller, weil sie als junge Anfänger noch gezwungen gewesen waren, von der Hand in den Mund zu leben. Doch zum Verzweifeln blieb ihr keine Zeit, und zum Schwersten mußte sie sich in ihrer Not entschließen. Ihr eigen Kind gab sie guten Leuten in Pflege, während sie an dem Erstgeborenen des Barons von Scherben Mutterpflichten erfüllte. Später, nachdem sie vereinsamte, nahm sie ihre Tochter wohl zu sich, doch nur auf so lange, bis diese kräftig genug war, unter fremden Leuten ihr Brot zu verdienen. Auch sie war eine stattliche Person geworden, und da konnte es nicht überraschen, daß die Dorfburschen sich um sie bewarben und jeder einzelne nach ihrem Besitz strebte. Nach kurzem Schwanken fiel ihre Wahl auf einen Mann, der sich weniger durch einnehmendes Äußere oder Fleiß auszeichnete, als durch Jähzorn und Rauflustigkeit. Aber er war Soldat gewesen, hatte sich Manieren angeeignet, die sie bestachen. Trotz aller Warnungen von Fremden wie von der eigenen Mutter wurde sie seine Frau, und damit war ihr Los besiegelt. Die bösen Eigenschaften, die ihr Mann bisher nur im Verkehr mit anderen offenbarte, kamen nur zu bald auch ihr gegenüber zum Ausbruch. Die Leute wollten sogar behaupten, daß sie den ärgsten Mißhandlungen ausgesetzt gewesen sei, und es konnte daher nicht wundernehmen, daß sie mit ihrem kaum geborenen Kindchen in den gleichen Sarg gebettet wurde.

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Auf einem hohen, dreibeinigen Schemel und auf einer Stelle, wo die Hammerschlagfunken sie nicht erreichten, saß sie, das Haupt auf beide Hände gestützt.

Für sie sei es das beste gewesen, sagten darauf die Leute, sogar ihre eigene Mutter, blutenden Herzens. Von Galle aber, dem elenden Witwer, wendeten sich alle in Verachtung ab, so daß ihm unheimlich im Dorfe wurde und er davonging, um ein unstetes, bettelhaftes Wanderleben zu führen. Nur zu seiner Schwiegermutter führte ihn zuweilen der Weg, um Geld von ihr zu erpressen, und diese gab, obwohl sie in ihm den Mörder ihrer Tochter erblickte, mit beiden Händen, um sich seiner nur schleunigst wieder zu entledigen. Da hieß es eines Tages, daß Galle wegen Meineides und Diebstahls auf drei Jahre ins Zuchthaus gewandert sei, und es mußte wohl begründet gewesen sein, denn Gertrud Blister blieb in der Tat drei Jahre von seinen Besuchen verschont. Dann aber erschien er plötzlich eines Tages wieder, und zwar in einer Weise verändert und heruntergekommen, daß sie sich vor ihm entsetzte.

Und wiederum unterstützte sie ihn reichlich um den Preis, nicht in seiner Gesellschaft gesehen zu werden. Er dagegen erkannte den Vorteil, den er durch sein räuberartiges Äußere über sie gewonnen hatte, und seine Erpressungen wiederholten sich in einer Weise, daß sie sich endlich zu einem größeren Geldopfer entschloß, um ihm die Auswanderung nach einem überseeischen Lande zu ermöglichen. Er versprach das Beste, dachte indessen an nichts weniger, als sich von einer Quelle zu entfernen, aus der er glaubte, sein Leben lang schöpfen zu können. Doch bevor er seine Erpressungsversuche erneuerte, drang die Kunde zu Gertrud Blisters Ohren, daß er wegen Straßenraubes abermals und diesmal zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden sei. Seitdem hatte sie in Ruhe und Frieden gelebt; denn über das, was an ihrem alternden Herzen nagte, redete sie zu niemand, nicht einmal zu Kunibertus und dessen Frau, an denen sie doch mit einer aufrichtigen Freundschaft hing. So betrachtete sie auch deren zehnjährigen Sohn fast als den ihrigen, und als Kunibertus sich dazu entschloß, aus seinem Einzigen einen hochgebildeten Lateiner erziehen zu lassen und ihn zu solchem Zweck auf die Wochentage zu einem Lehrer in der Stadt gab, da unterstützte sie ihn mit Geld zur Deckung der erwachsenden Kosten.

Eine helle Stimme weckte Frau Gertrud aus ihrem Sinnen, und als sie aufsah, erblickte sie auf der Schwelle der Schmiede, von dem Feuer grell beleuchtet, eine kräftige Frau in ländlich einfachem Anzuge, die Hände auf die Hüften gestützt, auf dem hübschen, braunäugigen Antlitz den Ausdruck heiterer Zufriedenheit.

»Feierabend!« hieß es da laut genug, um das Geräusch der wuchtigen Hämmer zu übertönen, »Feierabend! Die Kartoffeln sind gar und brauchen nur aufgetragen zu werden! Hering und Butter stehen auf dem Tisch, auch gebratene Speckwürfel und Zwiebel! Der Bierkrug ist frisch gefüllt!«

»Feierabend,« wiederholte Kunibertus, der nun auch da war, und seinem Beispiel folgend, stellten die Gesellen den Hammer zur Seite, während der Lehrbursche flink aufzuräumen begann.

Der Meister schob die schirmlose Mütze weit nach dem mit buschigem braunen Haar bedeckten Hinterkopf hinauf, zog unter dem brettartigen Schurzfell ein rot geblümtes Tuch hervor und wischte sich den Schweiß von der rußigen Stirn.

»Recht so, Marie!« rief er der stattlichen Meisterin zu, »Feierabend hat Gott gemacht; die Arbeit hat der Deibel erdacht.«

»Das merkt man dir nicht an,« hieß es munter zurück, »oder du hättest dem Teufelswerk früher ein Ende gemacht. Aber schnell hinein jetzt, oder die Kartoffeln platzen aus den Schalen. Blisterchen, Sie sind doch unser Gast heute? Ein rogener Hering ist dabei, der ist für Sie.«

Die Alte war von dem Schemel gestiegen und schritt, die Hände unterhalb der Brust übereinander gelegt, mit ihrer ruhigen Würde dem Ausgange zu. Als sie neben Kunibertus eintraf, wiederholte dieser die Einladung seiner Frau, fügte aber, listig mit den Augen blinzelnd, hinzu: »Und ich gebe ein Likörchen zum besten, echten Pfeffermünz.«

Blisterchen blieb stehen und richtete ihre auffällig klugen Augen auf des Meisters geschwärztes Antlitz. Um ihre Lippen spielte der Anflug eines gutmütigen Lächelns, indem sie fragte: »Wann sahen Sie mich je einen Likör trinken?«

»Eben drum, Blisterchen,« hieß es zutraulich zurück, und krachend fiel das schwere Schurzfell über den Amboß, »ja, eben drum, weil ich Sie zum erstenmal einen trinken sehen möchte.«

»Da mögen Sie lange warten,« bemerkte die Alte im Davonschreiten, »aber trinken Sie selber einen für mich mit,« und zu der Frau Meisterin: »Du kennst ja meine Gewohnheit, und davon gehe ich nicht ab.«

Sie reichte ihr die Hand zum Abschied, und über die Schwelle tretend, rief sie in die Werkstatt hinein: »Gute Nacht, Meister Kunibertus, gute Nacht zu allen.«

»Gute Nacht, Blisterchen; geruhsame Nacht, Frau Blister!« schallte es ihr nach. Vor der Türe ihres Häuschens blieb sie stehen; erst nachdem sie einen langen Blick über den sternenbesäeten Himmel hingesandt hatte, trat sie ein.

»Das mit dem Pfeffermünz wird sie dir verübelt haben,« meinte die Meisterin zu ihrem Eheherrn.

»Die?« fragte Kunibertus lachend, »die ist so klug, wie drei lateinische Kandidaten zusammen genommen; die braucht nur den Ton von 'ner Stimme zu hören, und sie weiß, ob guter oder böser Wille dahinter steckt.«

Sie traten ins Haus. Gesellen und Lehrbursche folgten etwas später nach. Dann lagen die beiden Zwillingshäuser und deren Umgebung still. Nur aus den bewaldeten Teilen des Parkes und den alten Baulichkeiten des Hofes drangen der schrille Ruf eines Käuzchens und das geisterhafte Lachen der Schleiereulen herüber.

Frau Gertrud Blister hatte unterdessen die Lampe angezündet, die Fensterladen geschlossen – und einen Imbiß zu sich genommen.

Das Spinnrad schnurrte, die Wanduhr tickte. Mit gelassener Ruhe sah Frau Gertrud Blister auf den entstehenden Faden nieder. Zugleich zählte sie die Schläge, mit der der ausgehobene Hammer der Uhr den Beginn einer neuen Stunde verkündete.

»Neun,« sprach sie vernehmlich vor sich hin, und bedachtsam schob sie das Rad zur Seite, als es behutsam an die Fensterlade klopfte.

Blisterchen erschrak. Gehörte es doch zu den größten Seltenheiten, daß um diese Zeit jemand störte. Sie war daher in einem Maße überrascht, daß sie regungslos sitzen blieb, und bevor sie erwogen hatte, wer noch so spät Einlaß begehren könne, klopfte es zum zweitenmal, jetzt aber in einem Takte, der ihr wohl noch aus alten Zeiten erinnerlich sein mochte, denn tödlich erbleichend sank sie auf ihren Lehnstuhl zurück. Neuer Schrecken schien sie förmlich gelähmt zu haben.

Erst als das rhythmische Klopfen sich abermals wiederholte, belebte ihre eben noch zusammengebrochene Gestalt sich wieder. Hastig erhob sie sich; die zitternde Hand der nächsten Scheibe nähernd, pochte sie in demselben Takte, und schwankenden Schrittes begab sie sich auf den finsteren Flurgang hinaus. Als unter ihren vorsichtigen Griffen die Türe sich öffnete, stand ein Mann vor ihr.

»Hans,« sagte sie mit unsäglich schmerzlichem Ausdruck, »es kann kein anderer sein, als du – Hans – – – Gott segne dich, du hast das alte Klopfen nicht vergessen.«

»Ja, Blisterchen, ich bin es,« raunte Scherben ihr zu, indem er sich zu ihr hineindrängte, »aber schließe hinter mir ab – um Gottes willen, Blisterchen, verschließe die Türe, zu dir kommt ein elender Flüchtling.«

Die letzten, mit unverkennbarer Angst ausgestoßenen Worte gaben der Alten die volle Überlegung zurück. Sie versicherte die Türe, und Scherbens Arm ergreifend, zog sie ihn mit sich fort dem offenen Zimmer zu.

»Ich wußte, daß ich mein Kind noch einmal wiedersehen würde,« sprach sie gedämpft vor sich hin, und tiefe Bewegung offenbarte sich in ihrer zitternden Stimme, »Hans, mein armer Hans – wie haben die Menschen sich an dir versündigt. Gelogen haben sie – kein Wort glaube ich von allem, was sie über dich redeten. Hans – armer Hans –«

Sie waren in das Zimmer eingetreten, wo das Licht der Lampe Scherben voll traf. Von Jammer und Zärtlichkeit überwältigt, wollte sie die Arme um seinen Hals schlingen, schrak aber zurück, als er ihr wehrte und sie in sein totenbleiches, gänzlich verändertes Antlitz sah.

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»Und dennoch bin ich es selber,« beruhigte Scherben erschüttert, und argwöhnisch spähte er um sich, »ich selber, gutes Blisterchen – wir sind doch allein? Blisterchen, die größte Vorsicht muß ich beobachten, und wenn ich jetzt frei bin, so ist's eine Freiheit, die sich nur wenig von den Qualen der Haft unterscheidet. Nicht doch, Blisterchen, betrachte mich nicht so schrecklich jammervoll; mein Herz ist ohnehin gebrochen. Ich bin wie ein gehetztes Wild, und je eher mich der Tod ereilt, um so lieber soll es mir sein,« und das verhüllende Tuch von der auf seinem linken Arme ruhenden Bürde zurückschlagend, reichte er der bestürzten Alten sein schlummerndes Kind.

»Hans – dein eigenes Töchterchen –« entwand es sich Gertruds Lippen, indem sie das Kind mechanisch in Empfang nahm.

»Ja, meine verwaiste Tochter,« bestätigte Hans einfallend, und mächtig kämpfte er gegen das ihn beinahe übermannende Weh, »das einzige Vermächtnis meiner toten Therese. Dir sollte ich sie bringen. Meine Aufgabe ist gelöst, und noch in dieser Stunde scheide ich auf Nimmerwiedersehen. So lautet ihr Gebot, und sie hat verdient, daß ich mein Versprechen halte.«

Blisterchen, förmlich verwirrt durch die sich überstürzenden verhängnisvollen Mitteilungen, hatte sich niedergesetzt und begann das Kind der Hüllen vollständig zu entkleiden. Als dieses aber, von der Alten unter hervorbrechenden Tränen zärtlich geküßt, schlaftrunken um sich sah, riet Scherben dringend, es nicht ganz zu ermuntern, sondern warm zu betten. Er berief sich auf die Gefahr, die mit seinem etwaigen Weinen verbunden sei, und erst nachdem Blisterchen mit rührender Sorgfalt die Kleine auf dem Sofa untergebracht hatte und neben dem Tisch auf einen Stuhl gesunken war, ließ Scherben, sichtbar erschöpft, auf ihre Einladung sich ihr gegenüber auf den Lehnstuhl nieder.

»Ja, Blisterchen,« hob er nach einer kurzen Pause an, während die Blicke der Alten an dem einst so männlich schönen Antlitz hingen, »ich will fort, noch in dieser Stunde. Längst wäre ich draußen aus dem Meere, hätte ich nicht zuvor hierher gemußt. Du kanntest meine arme Frau. Nur zweimal sah sie dich in ihren noch hoffnungsreichen Tagen, und das genügte, ein unendliches Vertrauen zu dir zu gewinnen. Sie nannte dich den guten Geist unseres Hauses und forderte mich auf, mit ihren letzten Grüßen unser Kind dir selbst zu überbringen. Und so bittet sie dich aus ihrem Grabe durch meinen Mund, daß du es nie aus den Augen lassen möchtest. Aber noch eine andere Aufgabe, eine weit schwerere fällt dir zu. Um dir indessen diese verständlich zu machen, muß ich viel vorausschicken. Ich muß dir schildern, wie ich die Freiheit gewann; schildern das Wiedersehen mit der sterbenden Therese, die Angst und Not, die es mich kostete, ohne Aufsehen zu erregen, mit der Kleinen hierher zu kommen. Doch der gute Engel, der mein Töchterchen überwachte, beschützte auch mich. Nur Fahrposten benutzend, gelangte ich ohne jede Nachfrage von Ort zu Ort. Höchstens, daß man in den Dorfkrügen, wo ich übernachtete, Mitleid mit einem trauernden Witwer offenbarte, der sein Kind Verwandten zutrug, und ihm hilfreich zur Hand ging. Die letzte Poststation verließ ich bei Einbruch der Dunkelheit, um die Stadt nicht zu berühren, zu Fuß, und so glückte es mir, von niemand bemerkt dein Häuschen zu erreichen. Ebensowenig auffällig muß ich von hier verschwinden. Kein Mensch darf ahnen, daß überhaupt jemand bei dir gewesen.«

Wiederum spähte er um sich.

»Schließen Laden und Vorhänge dicht?« fragte er gedämpft.

»Dicht, mein armes Kind,« beteuerte Blisterchen klagend.

Da neigte Scherben sich seiner alten Amme zu, und deren Hand ergreifend und festhaltend, sprach er zu ihr, als wäre sie seine wirkliche Mutter gewesen. Von alten Zeiten erzählte er und von neuen. Anklagen erhob er gegen sich, Segnungen schüttete er über andere aus. Nur Namen nannte er nicht, wie er auch die eigentliche Art seines Entkommens sorgfältig verheimlichte. Bald zitterte seine Stimme vor Jammer und Wehmut, bald wieder sprach er gepreßt, Ausbrüche des Zornes und des Hasses gewaltsam zurückhaltend. Blisterchen lauschte aufmerksam, während ihr ehrliches altes Herz sich vor Jammer zusammenkrampfte. Ihre Empfindungen spiegelten sich in ihrem farblosen Antlitz, in den lichtblauen Augen, die immer und immer wieder sich mit Tränen füllten. –

Eine Stunde und darüber hatte Scherben zu seiner alten Pflegerin gesprochen, während die Blicke beider immer wieder das rosige Antlitz der sanft schlummernden Kleinen suchten.

»Du weißt jetzt alles,« schloß er nunmehr, »kennst die Gründe, die meine arme Therese zu der Bitte an dich bewogen, die ich, ob mir bei dem Gedanken an die Trennung von dem Kinde auch das Herz brechen möchte, doch voll billige. Aufwachsen soll sie bei dir, die schuldlose Kleine, und nie ihre Herkunft erfahren, nie Schuld und Elend ihres Vaters, nie das Martyrium ihrer herzensreinen und doch so unglücklichen Mutter. Und so frage ich dich Blisterchen, willst du so handeln, daß du dereinst –«

»Frage nicht, Hans,« fiel die Alte beinahe ungeduldig ein, »dein und deiner seligen Frau Kind hast du mir gebracht; ich nehme es in meine Obhut, und den will ich sehen, der imstande ist, mit glühenden Zangen das Geheimnis seiner Geburt mir zu entreißen.«

»Du wirst ihm einen anderen Namen geben –«

»Jeden, der dir beliebt.«

»Nein, Blisterchen, gib du ihm einen Namen, wie er dir angemessen erscheint, nur wissen will ich ihn nicht – nein, wenn ich's auch nicht wünsche, so kann mein Leben doch lange dauern; der Zufall mag mich mit meiner Tochter zusammenführen, und dann will ich nicht, daß ihr Name mir die Wahrheit verrät. Ahnungslos müssen wir aneinander vorbeigehen, unsere Wege wandeln ohne einer den andern zu kennen; oder es waltet die Gefahr, daß sie ihre Abkunft von einem Strafgefangenen erfährt und der Gram ihrer Mutter mich bis in die Erde hinein verfolgt.«

Blisterchen sann traurig nach.

»Auch das soll geschehen,« erklärte sie darauf mit Widerstreben. »Gäb's aber Gerechtigkeit im Himmel, so hätte ein anderer solch schweres Leid auf seine Schultern nehmen müssen, weil er dem eigenen Bruder versagte –«

»Erinnere mich nicht daran, wenn du nicht willst, daß ich den Gelöbnissen, die ich der Sterbenden ablegte, untreu werden soll,« unterbrach Scherben sie rauh, indem er sich erhob. »Ich wiederhole: mein wahrer Name ist begraben, und so will ich, ob lebend oder in der Erde modernd, hinfort auch für dich tot sein. Alle Brücken breche ich hinter mir ab – ich kann nicht anders, es muß sein. Wie ich den Namen meiner Tochter nicht wissen will oder darf, so wird niemand erfahren, unter welchem Namen ich in der Ferne weile. Und nun komm, Blisterchen; meinem Kinde will ich Lebewohl sagen. Küsse ich es im Schlaf und segne ich es von ganzem Herzen, kann's ihm keinen Schaden bringen um seiner heiligen Unschuld willen.«

»Nein, Hans, so lasse ich dich nicht fort, um deiner eigenen toten Mutter willen,« versetzte Blisterchen leise schluchzend; »und deren letzte Worte zu mir waren: ›Sieh zu meinem Kinde; eine Ahnung sagt mir, daß seine Tage keine goldenen sein werden.‹ Nein, so kannst du nicht gehen. Ich seh dir's an, wie die Tage der Angst und der Sorge dich heruntergebracht haben. Gingst du dennoch, so würde man dich bei Tagesanbruch auf der Straße finden, dem Verscheiden nahe. Du hast zu sehr gelitten; hungrig und durstig bist du, in deinem Angesicht steht es geschrieben. Mindestens einen Tag bleibe, und wenn's nicht anders sein kann, so findest du deinen Weg dann ebensogut von hier fort, wie heute.«

Finster grübelnd sah Scherben vor sich nieder.

»Du hast recht,« bemerkte er darauf Zögernd, »Not und Besorgnis haben mich erschöpft. So lange ich mein Kind trug, fühlte ich nichts, jetzt aber bricht's auf mich ein mit doppelter Gewalt. Jedoch bedenke, wenn jemand mich hier entdeckte! Ein unglücklicher Zufall –«

»Ich bürge für alles, Hans. Da ist der Hof, und wo du als Kind alle Schlupfwinkel kanntest, wirst du auch jetzt noch dich zu verbergen wissen. Ja, mein armer Hans, dahin führe ich dich – nur ein Viertelstündchen warte noch. Hier sollst du zuvor essen und trinken; dann nehmen wir Speise und Trank mit auf vierundzwanzig Stunden, damit du keine Not leidest. Auch kann ich dir morgen sagen, wie's mit dem kleinen Engel da werden soll. Mancherlei geht mir im Kopf herum; ich weiß es nur noch nicht recht in Schick zu bringen. Aber beruhigt von dannen gehen sollst du, das verspreche ich dir.«

»So mag es denn sein,« gab Scherben, gegen Übermüdung ankämpfend, zu, und da Blisterchen ohne Säumen sich an die Bereitung eines Mahles begab, dauerte es nur wenig länger als eine Viertelstunde, bis er vor dem gedeckten Tisch saß und den aufgetragenen Speisen mehr aus Gefälligkeit, als aus wirklichem Bedürfnis zusprach. Blisterchen packte unterdessen Brot und Fleisch und ein paar Flaschen Bier in einen Korb und fuhr tröstend fort:

»Gottlob, daß ich imstande bin, für dein Kind zu sorgen: Selbst dann, wenn ich nicht mehr lebe, wird es nicht verlassen sein, dafür bürge ich mit meiner Seligkeit, obwohl ich jetzt noch keine genauere Erklärung darüber geben kann. Denke an deine gute Mutter; die dachte für dich über viele Jahre hinaus, und mir vertraute sie gar manches an, was deinem Kinde noch einmal zustatten kommt. Und noch andere sind, die um deines Engels Zukunft sorgen. Forsche nicht, Hans. Glaube mir.«

Scherben starrte vor sich nieder. Dann sprang er auf, und ein Paketchen Briefschaften auf den Tisch werfend, sprach er finster: »Hier, Blisterchen, das ist ein Teil dessen, was die arme Therese vor Vernichtung bewahrte. Briefe sind es und Dokumente, die sich auf unsere Verheiratung und auf unsere Tochter beziehen. Ich hatte nicht den Mut, sie zu verbrennen. Hüte sie, daß sie nicht einem anderen zu Gesichte kommen; fühlst du einst dein Ende herannahen, so vernichte sie. Das sind die eigenen Worte der armen Verstorbenen. Einiges wenige habe ich von der Sammlung an mich genommen, um ein Erinnerungszeichen an verschollene Zeiten zu besitzen.«

Er schritt zu der schlummernden Kleinen hinüber; sein Nacken beugte sich tiefer. Lange sah er auf das holde, blühende Antlitz, und sich niederbeugend, küßte er es auf Mund und Stirn.

»Lebe wohl, mein armes, kleines Töchterchen,« flüsterte er, und Tränen entstürzten seinen Augen, »mag dir zum Segen gereichen, was deine Mutter bestimmte. Ich selbst habe keinen Anteil mehr an dir.«

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»Ich bin bereit,« kehrte er sich, wie im Traum, der Alten zu. Diese reichte ihm eine Decke und trat ihm voraus auf den Flur. In der einen Hand trug sie den Korb, in der anderen mehrere zusammengebundene Schlüssel.

Durch eine Hintertüre gelangten sie ins Freie hinaus, und vor ihnen lag der Park. Als schwarze Schatten hoben nach allen Richtungen hohe Baummassen sich von dem gestirnten Himmel ab. Still war die Atmosphäre, still alles ringsum. Nur vor ihnen in der mächtigen Kastanienallee und auf dem Rasen schien es sich mit leichten Füßen zu regen, indem die mit Herbsttau überladenen Blätter bald hier, bald dort Tropfen niederwärts sandten.

Schweigend erstiegen sie die Rampe des Hauses, die sich beinahe über dessen ganze Breite erstreckte. Gleich darauf standen sie vor dem verhältnismäßig niedrigen, jedoch breiten Eingange.

Die Alte schob den Schlüssel in das Schloß und drehte ihn knirschend; unter Schurren und Ächzen wich die Türe nach innen.

»Alles verrostet und verquollen,« sprach sie mürrisch, indem sie das Haus hinter sich abschloß, und trotz der herrschenden Finsternis verfolgte sie ihren Weg in den Räumen mit einer Sicherheit, als ob die Mittagssonne ihr geleuchtet hatte. Mit denselben sicheren Bewegungen schloß Scherben sich ihr an. Sie durchschritten eine Halle, kreuzten einen Flurgang und erstiegen eine knarrende Treppe. Oben eingetroffen, bogen sie abermals in einen Gang ein, als Scherben plötzlich stehen blieb und seiner Führerin gedämpft zurief: »Nicht in den Saal, Blisterchen, ich mag ihn nicht betreten.«

»Doch, doch,« hieß es ruhig zurück, »wir müssen hinein. Es ist der einzige Raum, dessen Fenster, wenn man Licht anzündet, zwischen den Bäumen hindurch aus der Ferne nicht gesehen werden können.«

Eine Flügeltüre öffnete sich unter ihrer Hand, und ohne Säumen trat sie ein. Zögernd folgte Scherben. Blisterchen hatte ihren Korb auf die Erde gestellt. Nach kurzem Suchen zündete sie eine Kerze an. Während sie noch mit dieser Arbeit beschäftigt war, sandte Scherben einen scheuen Blick um sich. Sie befanden sich in einer umfangreichen Halle. Bei der unsteten Beleuchtung der flackernden Kerze ließ sich unterscheiden, daß einige altertümliche Möbel an den Wänden umherstanden. Ein langer Tisch in der Mitte bezeichnete den Raum als den bei festlichen Gelegenheiten benutzten Speisesaal. Die dunkel gestrichenen Wände trugen große Stockflecke. Von der Zeit geschwärzte Ölbilder in schmalen, erblindeten Goldrahmen hingen, durch mäßige Zwischenräume voneinander getrennt, ringsum. Porträts waren es, Herren und Damen verschiedenen Alters mit Halskrausen, hohen Frisuren und gepuderten Locken. Auch in Rüstungen prangten einige und in Uniformen, wie sie vor hundert und mehr Jahren getragen wurden. Starr blickten alle, als ob sie unter der Hand eines und desselben Künstlers nach einer bestimmten Schablone hervorgegangen wären. Eine gewisse Familienähnlichkeit charakterisierte Männer und Frauen. Scherben schauderte. Er gewann den Eindruck, als seien alle die starren Augen mit herbem Vorwurf auf ihn gerichtet.

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Nach kurzem Suchen zündete sie eine Kerze an. Während sie noch mit dieser Arbeit beschäftigt war, sandte Scherben einen scheuen Blick um sich.

»Ein unheimlicher Aufenthaltsort,« sprach er leise zu der Alten, als diese den Korb wieder aufhob und im Kreise leuchtete; »ich bereue, meine erste Absicht nicht ausgeführt zu haben. Ich befände mich jetzt schon weit von hier.«

»Unheimlich meinst du?« fragte Blisterchen. »Ja, ich entsinne mich, schon als kleines Kind fürchtetest du die Bilder, und das ist bei dir haften geblieben. Ist's doch weiter nichts, als etwas Holz und Farbe; das sagte ich schon damals, aber du wolltest es nicht glauben. Nein, Hans, die Herrschaften tun dir nichts; die verwesten schon vor hundert Jahren in ihren Gräbern. Dein Bruder möchte sie längst fortgeholt haben, um sie zu Geld zu machen, hätt's in seiner Gewalt gelegen. Aber sie gehen ihn nichts an; deiner Mutter Vorfahren sind's. O, es sollte nur einer kommen, um hier zu schalten, ich wollte ihm heimleuchten, daß er's Wiederkommen vergäße. Ins Ohr wollte ich ihm schreien, was deine Mutter mir auf die Seele band; einen anderen hatte sie ja nicht, dem sie ihr Vertrauen hätte schenken können. Und deine Mutter war berechtigter zu ihrem Willen, als dein Vater oder dessen zweite Frau.«

Fortgesetzt sprechend, war sie nach dem einen Ende des Saales hinüber geschritten, wo sie in eine offene Türe trat und in das vor ihr liegende Gemach hinein leuchtete, das klein und alkovenartig gebaut war. Eine mächtige, geschnitzte Bettstelle von zeitgeschwärztem Eichenholz nahm beinahe die ganze gegenüberliegende Wand ein. Eine schadhafte Matratze bildete ihren Inhalt, dazu ein lederbezogenes Roßhaarkissen, das als Kopfpfühl diente.

»Längst hätten die Motten alles zerfressen, sorgte ich nicht für gelegentliches Lüften und Säubern,« erklärte Blisterchen, auf die alte Lagerstätte weisend. »Hier hast du geschlafen, als du eben das Tageslicht zum ersten Male angeschrien hattest, neben deiner schönen, sanften Mutter, und dann in der Wiege. Da meine ich, für einige Nächte wird diese Gelegenheit dir genügen, und kommen dir arge Gedanken, so glaube, deine selige Mutter säße hütend und schützend neben dir.«

Sie stellte den Korb hastig auf die Erde, und neben die Bettstelle hintretend, rührte sie die alte Matratze auf, daß Staub und herbstlich erstarrte Motten empor wirbelten.

»Um hier Ordnung zu halten, müßten täglich zwei Paar Hände im Hause herumwirtschaften, und auch die würden noch ihre liebe Not haben, das Getier fern zu halten,« sprach sie erzwungen gleichmütig. »Nun, viel ist an dem Gerümpel nicht verloren, und kommen Leute, die kein Anrecht daran haben, für die gehe ich keinen Schritt. Was meinst du, mein armer Hans, wirst du hier schlafen können?«

»Liegen wenigstens gut genug,« antwortete Scherben wie geistesabwesend, »besser bin ich es sicher nicht gewohnt,« und er warf die mitgebrachte Decke auf die Matratze.

Blisterchen nahm die Speisen aus dem Korbe und ordnete sie auf einem hinter der Türe stehenden rohrgeflochtenen Stuhl.

»Bis morgen abend wird's reichen,« erklärte sie dabei, »dann bringe ich mehr.«

»Nicht mehr,« entschied Scherben, »es wäre überflüssig, denn morgen um diese Zeit muß ich fern sein. Der Boden brennt mir unter den Füßen. Tolles Zeug geht mir im Kopf herum, Ahnungen von Verrat. Es wäre furchtbar.«

»Laß die Ahnungen, Hans; Ahnungen sind Wind, gute wie böse. Sie kommen und gehen und lassen so wenig Spuren zurück, wie die Enten, die über den Weiher schwimmen. Und nun gute Nacht, Hans, mag die Zeit dir nicht zu lang werden hier in der Einsamkeit. Verschlafe alles. Lebewohl sage ich dir nicht, weil ich dich morgen abend wiedersehe. Hoffentlich bringe ich dir tröstliche Nachricht über dein Kind.«

»Soll ich dir leuchten?« fragte Scherben eintönig.

»Was brauch' ich Licht in einem Hause, in dem ich schon mit zwanzigjährigen Augen um mich schaute?« hieß es zurück, »bleib' ruhig und vergiß nicht, daß ich fortan über dein Kind wache, wie einst über dich selber.«

Scherben drückte seiner alten Pflegerin die Hand. Gleich darauf hörte er sie mit flinken Schritten ihren Weg durch den Saal und die finsteren Gänge des Hauses suchen. Etwas später unterschied er, wie sie ins Freie hinaustrat und die Türe wieder abschloß. Dann erst belebte seine Gestalt sich wieder. Er nahm das Licht und begab sich damit in den Saal. Dort stellte er es auf den Tisch, und langsam, das Haupt geneigt, die Augen finster auf den Fußboden geheftet, begann er auf und ab zu wandeln. Dumpf erdröhnte der Hall seiner Tritte in dem Raume, dumpf und unheimlich. Er achtete nicht darauf; aber immer wieder trieb es ihn, die steifen Porträts verstohlen anzusehen, und immer wieder tauchten andere, längst verschollene Bilder vor seiner Seele auf. Er sah sich in demselben Raume fröhlich umhertummeln, überwacht von den nimmer rastenden Augen der zärtlichen Mutter. Er sah wie durch einen Schleier hindurch, undeutlich, traumhaft, eine schöne, bleiche Frau im Sarge liegen. Es war zu einer Zeit, als er noch kein Verständnis für Tod und Sterben besaß. Er sah eine andere Frau, die er Mutter nennen mußte, fühlte, wie damals, den tiefen Schmerz, von einem um sechs Jahre jüngeren Stiefbruder gänzlich aus dem Herzen des Vaters verdrängt zu sein …

Wie von einer plötzlichen Lähmung befallen, beugte er Haupt und Nacken, schlaff sanken die Arme an seinem Körper nieder. Mit unsicherem Griff nahm er das Licht, und in sein Schlafgemach schwankend, schloß er hinter sich ab. Schwerfällig ließ er sich auf den Rand der Bettstelle nieder. Eine Weile starrte er finster vor sich hin, und freier richtete er sich wieder empor. Sein Blick blieb auf den Fugen einer wenig bemerkbaren Tapetentüre haften. Der Schlüssel steckte im Schloß. Wie oft war er durch sie eingetreten, als seine Füße ihn noch nicht lange zu tragen vermochten! Mit unwiderstehlicher Gewalt zog sie ihn an. Er erhob sich, nahm das Licht und begab sich hinüber. Nicht ohne Anstrengung öffnete er das verrostete Schloß. Feuchte, kalte Luft strömte ihm entgegen. Das Licht flackerte und sandte seinen unsteten Schein in einen Gang, der vor einer Treppe mündete. Er wußte, wohin diese führte. Unzählige Male war er hinauf und hinunter gepoltert, wenn es galt, im Spiel ein Versteck zu suchen.

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Im Begriff, zurückzutreten, unterschied er oben auf der Treppe lautes, kurzes Knarren, als hätte eine der Stufen die Last eines Menschen widerwillig auf sich genommen. Todesschrecken bemächtigte sich seiner. Seine erste Regung war, sich zurückzuziehen. Dann aber sagte er sich, daß das seltsame Geräusch wohl eine Folge des Luftzuges sei, den das Öffnen der Tür und der damit verbundene Temperaturwechsel erzeugten. Und in einem seit vielen Jahren unbewohnten Hause, wo Bohrwürmer und Mäuse ungestört ihr Wesen trieben, konnte dieses oder jenes Geräusch nicht befremden. So folgerte er, und doch wollte eine gewisse Unruhe nicht von ihm weichen. Von Hause aus unerschrocken, kannte er keine Furcht vor persönlichen Gefahren. In der augenblicklichen Lage aber und bei dem Gedanken, daß Verrat an ihm geübt werden könne, sank ihm das Herz. Nach kurzem Sinnen beschloß er, sich Beruhigung zu verschaffen, und ohne Säumen erstieg er die Treppe. Bevor er die oberste Stufe betrat, vernahm er wieder dasselbe Knarren der ihn tragenden Bohle. Bestürzung packte ihn abermals. Er faßte sich indessen schnell, und mit dem nächsten Schritt stand er auf dem Boden. Dort lauschte er gespannt. Er meinte, daß ihm kein Atemzug hätte entgehen können. Doch lautlos dehnte der über das ganze Gebäude hinwegreichende Raum sich vor ihm aus. Nur wenige zerbrochene Hausgeräte lagen unordentlich umher; es hinderte ihn also nichts, den Boden bis in seine entlegensten Winkel abzusuchen. Nirgends aber entdeckte er die leiseste Spur, daß seit einem Jahrzehnt dort oben ein menschlicher Fuß wandelte.

Mit erhöhtem Sicherheitsgefühl begab er sich wieder in das Schlafgemach hinab, und barmherziger als die Menschen versenkte wohltätiger Schlaf das zerknirschte Gemüt in Vergessenheit.


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