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Zwölftes Kapitel.
Im Lager des Feldmessers.

Wenn in der Fährhütte die letzten Abendstunden mit ernsten Belehrungen ausgefüllt wurden, so herrschte in der Entfernung einer guten Viertelstunde aus freundlicher Waldeslichtung ein um so geräuschvolleres, durch manchen Witz belebtes Treiben. Ein Feldmesser war dort mit seinen Kettenträgern und Arbeitern eingetroffen, im ganzen acht Köpfe mit doppelt so vielen Reitpferden und Packtieren. Auch sie hatten ein saures Tagewerk vollbracht, indem sie ihren Vermessungen von der anderen Seite des Arkansas her in genau südlicher Richtung oblagen und eine Linie zogen, die zum Zweck der Berichtigung der Karten bis zum Golf von Mexiko ausgedehnt werden sollte. Ein klarer Bach und gute Weide hatten sie in der Wahl der Lagerstätte bestimmt, und sie hofften, folgenden Morgens beizeiten den Kanadian zu erreichen.

Die Tiere fanden sogleich Speise und Trank. Eine Stunde später – die Dämmerung war bereits in nächtliches Dunkel übergegangen – da reihten auch die Männer sich um ihr aus dem Rasen angerichtetes Mahl, das unter den heitersten Gesprächen verlief. Ein kräftiger Trunk bildete den Abschluß, woraus man die Decken ausbreitete und mittelst dieser und der Sättel Betten herstellte, an denen auch verwöhntere Naturen nach einem heißen Tage der Arbeit nichts auszusetzen gefunden hätten. Und so dauerte es nicht lange, bis einer nach dem anderen die glimmende Tonpfeife erlöschen ließ, sich ausstreckte und die Decke zum Schutz gegen den schweren Tau und die blutdürstigen Moskitos über den Kopf zog. Außer dem Wachtposten bei der grasenden Herde blieben nur noch zwei Männer regsam: Milford, der eigentliche Feldmesser und Befehlshaber der kleinen Expedition, und Sparewood, ein Kettenträger, der in seinem beschwerlichen Gewerbe bereits ergraute. Die reichen Erfahrungen des letzteren und die höhere Bildung des jüngeren Gefährten waren Ursache, daß die Vollendung des Tagewerkes und die Pflege des Körpers allein sie nicht vollkommen befriedigten. Die Zeit war ihnen eben zu kostbar, wie der alte Kettenträger im Laufe des Gespräches sich äußerte, um mehr davon, als unumgänglich notwendig, im Schlafe zu verschwenden.

»Glauben Sie mir, Herr Milford,« erklärte der alte Kettenträger, jedes zehnte Wort mit einem Rauchwölkchen aus seiner Tonpfeife begleitend, »der Schlaf ist wohl eine schöne Institution, allein schöner noch ist eine Nacht, wie die heutige. Verplaudert man die bis über Mitternacht hinaus, bringt's keinen Schaden. Und Mitternacht ist nicht mehr fern, nach dem Stande des Mondes zu schließen. Hm, wenn ich den alten Burschen da oben betrachte, der wieder mal seine Vollbelichtung feiert, vergegenwärtige ich mir gern manche Stelle, auf der ich bei meinem unsteten Umherwandern ihm in sein rundes Gesicht schaute. Verdammt! Wo überall bin ich doch gewesen. Sie sind noch jung, und was bei Ihnen die hoffnungsreiche Zukunft ist, das wird bei mir ersetzt durch alte Erinnerungen.«

Auf dem hübschen Antlitz des jungen Feldmessers, dem der starke dunkle Bart einen Ausdruck mannhaften Selbstbewußtseins verlieh, spielte ein Lächeln der Befriedigung. »Auch ich ergehe mich fast lieber in Erinnerungen; denn was die Zukunft betrifft, da könnte ich nicht behaupten, daß goldene Tore sich vor mir öffneten. Ich bin zu wenig Amerikaner, besitze zu wenig Spekulationsgeist, um mich zu einem das Leben erleichternden Wohlstande emporschwingen zu können. Wie Sie beim Kettentragen, werde ich beim Landvermessen altern. Das freie Feld wird meine Heimat sein, mein Ende das eines Abenteurers –«

»Aber eines Abenteurers, der nicht umsonst lebte,« warf Sparewood gutmütig ein, und behaglich strich er über seinen langen grauen Bart.

»Nein, nicht umsonst,« versetzte Milford lachend, »sondern der für seine Arbeiten einen Lohn bezog, kaum ausreichend, einem armen Teufel mit den Ersparnissen der offenen Jahreszeit über den jedesmaligen Winter in irgend einem elenden Grenzort hinüber zu helfen. Das Weitere kommt dem Staat zugute. Er gab sein Geld nicht umsonst aus. Er ließ mich vermessen, meine Arbeiten nützten ihm, jedoch nicht mehr, als die jedes anderen an meiner Stelle, und braucht er meine Fähigkeiten nicht länger, so gibt er mir einfach den Laufpaß. Bei Gott, es wäre gescheiter gewesen, hätte ich ein Handwerk erlernt. Jetzt noch umzusatteln – hol's der Kuckuck – dazu bin ich zu alt und, ehrlich gestanden, die Tage des unsteten Umherstreifens gefallen mir auch ausnehmend. Dabei hindert mich ja nichts, so oft ich will, im Geiste das alte Vaterland drüben zu besuchen und nach Herzenslust an meinen schönen Erinnerungen zu zehren. Und gemütlicher ist Deutschland auf alle Fälle, als euer großer Kontinent mit seiner ewig rechnenden, spekulierenden, gelegentlich auch wohl gaunernden Bevölkerung. So würden Strolche, wie der, dem wir kurz vor unserem Eintreffen vorhin begegneten, bei uns nicht lange auf den Landstraßen herreiten, ohne um Gewerbe und Heimatschein befragt zu werden.«

Da Sparewood nichts erwiderte, kehrte Milford sich ihm zu und betrachtete ihn befremdet; denn regungslos saß er da, die Pfeife mit der Hand in der Schwebe haltend, Oberkörper und Haupt seitwärts geneigt, wie um an dem Feuer vorbei einen fernen Gegenstand schärfer ins Auge zu fassen.

»Wonach spähen Sie?« fragte er endlich, da Sparewood seine Stellung immer noch nicht veränderte.

Dieser schob die Pfeife wieder zwischen die Zähne und richtete sich auf.

»Ich hätte darauf schwören mögen, daß da hinten, in der schmalen Öffnung zwischen den beiden Hainen, jemand von dem einen Schatten in den anderen huschte,« erklärte er darauf.

»Vielleicht ein Hirsch?«

»Ein Hirsch war's nicht, denn der ist nicht lang aufgeschossen, wie eine menschliche Gestalt. Aber auch ein Mensch kann's nicht gewesen sein. Durch den Rauch hindurch vermochte ich es nur nicht recht zu unterscheiden. Weiß sah es aus; indem das Mondlicht es flüchtig traf, meinte ich, es sei ein Blitz gewesen.«

»Der Rauch hat Ihnen einen Streich gespielt, oder ein Nachtvogel flog vorüber.«

»Mag sein, daß meine Augen mich täuschten,« gab Sparewood zu. »Ja, da sprachen wir von dem Landstreicher, und der war ein so vollblütiger Sohn Ihres berühmten Vaterlandes, wie nur je einer seinen Löffel in eine Schüssel tauchte.«

»Ganz recht, aber einer von der Sorte, wie sie vielleicht ins Zuchthaus gehört und die daher vorzieht, dahin zu gehen, wo sich keiner um sie kümmert. Ich möchte wetten, daß der prachtvolle Schimmel, den er ritt und der in so grellem Widerspruch mit seinem verkommenen Äußeren stand, nicht auf rechtliche Art in seinen Besitz gelangte.«

»Gestohlen hat er ihn,« versetzte Sparewood gleichmütig, »oft darf er indessen dergleichen nicht wiederholen, namentlich nicht in diesem Teil des Landes, oder er hängt eines Tages schneller an einem Baumast, als er ein Vaterunser über die Lippen jagt. Außerhalb der Staatengrenze fackeln sie nicht lange.«

»Über dessen Zähne werden überhaupt nicht viele Vaterunser geglitten sein,« erwiderte Milford, »doch gleichviel, seine Neugierde erschien mir verdächtig. Was kümmerte ihn unser Woher und Wohin? Und so viel lernte ich bereits in Ihrer großen Republik, daß man die eigenen Zwecke nicht jedem Fremden auf die Seele bindet. Wer weiß, er mag ein Auge auf unsere Tiere geworfen haben.«

»War auch mein Gedanke, zumal er sich so genau über den Weg nach Forth Smith erkundigte und trotzdem meinte, die Gegend gefalle ihm, er möchte sich wohl gänzlich hier niederlassen. Wenn's ihm nur nicht verleidet wird. Verdammt, er sah nicht aus, wie jemand, dem viel an Naturschönheiten gelegen ist.«

»Er wollte bei einem Kreek-Indianer übernachten.«

»Der mag ihm ebenfalls nicht trauen und ihm die Tür gewiesen haben. Zum Henker mit dem Schurken. Ist er für den Galgen bestimmt, so entgeht er ihm nicht,« erklärte der alte Kettenträger. Er blies einige dichte Rauchwölkchen von sich und fuhr fort: »Soll mich wundern, ob unsere Linie die Fähre berührt. Man erzählte mir, der Fährmann Charon sei ebenfalls ein Deutscher und stände in hohem Ansehen bei den in der Nachbarschaft angesiedelten Eingeborenen. Weiß der Teufel, woher alle die Deutschen kommen. Grübe man sich eine halbe Meile in die Erde hinein, so wäre man nicht sicher, keinem Deutschen zu begegnen.«

»Sie gehen nach Brot,« antwortete Milford, »so machte ich es selber, oder ich möchte heut' noch drüben leben.«

»Sie kehren über kurz oder lang dahin zurück?«

»Schwerlich. Es lebt dort keiner mehr, an den ich mich sonderlich gekettet fühlte. Und nach England, in dem wohl die Wiege meiner Urvorfahren gestanden hat, zieht's mich noch weniger. Ich glaube, ich bleibe im Lande der ungebundenen Freiheit.«

Und weiter plauderten die beiden zu dem Dampfen ihrer Pfeifen, zu dem Knacken und Knistern des niedergebrannten Feuers, zu dem Schnarchen der nur wenige Schritte von ihnen rastenden Gehilfen und dem lustigen Gesang der Heimchen und Grillen, denen sich hin und wieder im nahen Bach das dumpfe Brüllen eines Ochsenfrosches beigesellte. Mitternacht war vorüber und der Zeitpunkt nicht fern, in dem der Mann bei der Herde abgelöst werden sollte. So lange gedachten die beiden Freunde noch vor dem Feuer sitzen zu bleiben, dessen leichter Rauch die lästigen Moskitos einigermaßen verscheuchte.

»Fertig für heute,« erklärte Sparewood, indem er seine Pfeife ausklopfte und mit dem kleinen Finger den letzten Aschenrest herausbohrte. Plötzlich hielt er mit seiner Beschäftigung inne und spähte wieder regungslos nach dem nächsten Hain hinüber.

»Hab' mich trotzdem nicht getäuscht vorhin,« bemerkte er endlich, dadurch Milford veranlassend, in die gleiche Richtung zu blicken; »nennen Sie mich blind wie einen Maulwurf im Sonnenschein, wenn da nicht ein Weibsbild geht.«

»Wie sollte das hierherkommen?« fragte Milford, der nunmehr ebenfalls eine unbestimmte Bewegung im Schatten des Gehölzes entdeckte. »So viel ich von einem Kreek erfuhr, befindet sich im Umkreise einer halben Meile keine Farm. Vielleicht ist dem Wachposten die Zeit lang geworden.«

»So müßte er aus entgegengesetzter Richtung kommen – da – setzt tritt es aus dem Schatten in den Mondschein. Wär's ein Pferdedieb, möchte er sich schwerlich einen Weiberrock übergestreift haben und 'nen weißen obenein.«

Milford antwortete nicht. Gleich Sparewood sah er befremdet aus die seltsame Erscheinung, die sich gemessenen Schrittes näherte und den Eindruck hervorrief, als ob sie mehr schwebe, als gehe. Begünstigt durch das volle Mondlicht, unterschied er deutlich eine schlanke Gestalt in hellfarbigem Kleide, die als ein weibliches Wesen nicht zu verkennen war. Sogar das Antlitz einer Weißen trat allmählich hervor, deren eine Hand auf der Brust ruhte, während der andere Arm schlaff niederhing.

So war sie bis auf etwa fünfzig Ellen heran gekommen, als Milford dem Gefährten zuraunte: »Doch wohl eine Farmbewohnerin aus der Nachbarschaft. Ein Hund folgt ihren Spuren.«

»Das müßte ein großer Hund sein, Mann,« versetzte der alte Kettenträger verstört; »aber ein Bär ist's und ein ausgewachsener obenein. Der Satan traue solcher Bestie,« und mit flinkem Griff schürte er das Feuer, um helle Flammen zu entfachen.

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Er wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber, als die Gestalt, wie in dem Bewußtsein, sich allein zu befinden, neben das Feuer hintrat.

Er wollte noch etwas hinzufügen, verstummte aber, als die Gestalt, wie in dem Bewußtsein, sich allein zu befinden, neben das Feuer hintrat und dort stehen blieb.

Grauen bemächtigte sich der beiden Gefährten, des Kettenträgers, weil er nicht ganz frei von Aberglauben, Milfords dagegen, weil er argwöhnte, eine Wahnwitzige vor sich zu sehen, die vielleicht ihrem Wärter entschlüpfte. Hierzu gesellte sich die Besorgnis vor dem Bären, dessen Anwesenheit er sich nicht zu erklären wußte, und von dein er fürchtete, daß irgend ein unscheinbarer Zufall, vielleicht das Regen eines der schlafenden Männer, ihn zu einem Angriff auf diese oder die rätselhafte Erscheinung selber reizen könne.

Weder er noch Sparewood vermochten in ihrer ersten Bestürzung ein Wort hervorzubringen. Aber starr hingen ihre Blicke an dem Antlitz der jungen Fremden, das in der doppelten Beleuchtung des Mondes und der Flammen bis in die kleinsten Linien hinein deutlich hervortrat und sich als von außergewöhnlicher Schönheit erwies. Dabei hatte sie die Augen leicht geschlossen, wie es wohl geschieht, wenn nach dem Niederlegen plötzliches Entschlummern der Übermüdung folgt. Das kindlich holde Antlitz neigte sie dem Feuer zu, schien es aber trotzdem nicht zu sehen oder zu beachten und ebensowenig die beiden zu ihr hinstarrenden Männer oder die unter ihren Decken verborgenen Arbeiter. Und so fest hafteten Milfords und Sparewoods Blicke auf den ruhigen, mit allen Reizen der Jugend geschmückten holden Zügen, daß sie schließlich des Bären nicht mehr achteten, der gleichmütig vor dem Feuer schnupperte, nach Speiseabfällen suchte, zuweilen auch, gleichsam fragend, zu seiner stillen, vollkommen regungslosen Herrin aufsah.

Minuten verrannen, während die beiden Gefährten ihrer eigentümlichen, von Scheu getragenen Beklemmung keinen Ausdruck zu verleihen vermochten. Dann kehrte die schlanke Gestalt sich um, und langsam, wie sie gekommen war, schritt sie in entgegengesetzter Richtung davon.

So lange die nächtliche Wandrerin noch sichtbar war, hingen Milfords und Sparewoods Augen wie gebannt an der geisterhaften Fremden.

Kurze Zeit war ihnen der Anblick der rätselhaften Wandrerin noch vergönnt; dann verschwand sie im Schatten eines Heines so geräuschlos, als hätten vor ihr die Zweige sich geöffnet, um sie ungehindert durch das Gesträuch hindurchschreiten zu lassen. Kaum war sie indessen aus ihrem Gesichtskreis getreten, als es wie ein gelöster Zauber von ihnen wich. Tief aufatmend packte der alte Kettenträger den Arm des Gefährten, und wie befürchtend, von der Entschwundenen gehört zu werden, sprach er gedämpft: »Wäre ich nur ein wenig unvernünftiger, so möchte ich darauf schwören, daß meine Augen einen Geist sahen. Sogar die schwarze Bestie, die hinter ihr hertrottete, erinnerte an Hölle und Teufel.«

»Fleisch und Bein waren beide,« antwortete Milford, und er selber zweifelte, ob er nicht einer Sinnestäuschung unterworfen gewesen; »aber auch ich weiß nicht, was ich davon denken soll. Warum redeten Sie das Mädchen nicht an? Berechtigt waren wir dazu.«

»Ja, warum redeten Sie selber sie nicht an?« fragte Sparewood zurück. »Ihnen erging es wahrscheinlich nicht anders als mir. Die Worte wären mir im Hälfe stecken geblieben; und ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß mir das Blut in den Adern stockte, so erfaßte mich ein Grauen. Alle Märchen von Geistern und Gespenstern, die ich in meinen Kinderjahren hörte und las, wurden wieder lebendig; und noch jetzt bin ich nicht ganz überzeugt, daß alles mit natürlichen Dingen zugegangen. Wie sollte überhaupt ein weißes Mädchen von solcher Schönheit hierher unter die halbwilden braunen Ansiedler geraten?«

»Das Wie fällt nicht in die Wagschale,« versetzte Milford zögernd, »und übernatürlich meinen Sie? Nun ja, auch ich gewann den Eindruck einer übernatürlichen Schönheit; allein andere Gedanken verdrängten meine Bewunderung, und die bewegten sich um die Ursachen, die dem einsamen Umherstreifen der stillen Wandrerin zugrunde liegen können. Nicht um die Welt hätte ich sie durch eine Frage stören mögen, so lange sie selbst nicht Veranlassung dazu gab. Augenscheinlich war sie in Träumereien versunken, gleichviel, ob in freundliche oder peinliche. Aus ihrer Haltung ging hervor, daß sie einen näheren Verkehr mit uns nicht wünschte; daher war es unsere Pflicht, ihrem unzweideutigen Willen Rechnung zu tragen. Auf alle Fälle wird das Rätsel bei unserem längeren Aufenthalt in dieser Gegend sich auf die eine oder die andere Art lösen lassen, und ich halte für geboten, das ganze Ereignis der Beurteilung unserer Leute zu entziehen. Wer weiß, wie alles zusammenhängt, ob wir nicht gezwungen sind, das, was wir beobachteten, als ein nicht uns gehörendes Geheimnis zu betrachten.«

»Ein vernünftiger Gedanke,« meinte der alte Kettenträger beipflichtend, »aber da hörte ich von Menschen, die zuweilen im Schlaf umherstreifen.«

»Man spricht davon,« gab Milford zu, »in diesem Falle neige ich indessen mehr zu dem Glauben hin, daß wir eine geistig Gestörte vor uns sahen, und es war dann um so ratsamer, sie in Ruhe zu lassen. Was wäre daraus entstanden, hätten wir ihrem grimmigen Begleiter Gelegenheit gegeben, für seine Herrin einzutreten! Und unserer Haut hätten wir uns doch wehren müssen.«

Sparewood schüttelte den Kopf ungläubig.

»Wunderbar, wunderbar,« sprach er vor sich hin; »eine Wahnwitzige war es aber nicht, danach sah ihr Angesicht am wenigsten aus. Und ich glaube auch nicht, daß sie Scherz mit uns treiben wollte; das hätte mit ihrer sittigen Haltung schlecht zusammengepaßt. Und dann die geschlossenen Augen – bei Gott, Herr Milford, alle Stunden sind nicht gleich, und zwischen Himmel und Erde gibt es Dinge, die uns so geheimnisvoll sind wie die die Meilen tief unter unseren Füßen. Je mehr ich nachdenke, um so unerklärlicher erscheint mir alles. Weshalb erwachten die Leute nicht? Und ich dächte, die schwarze Teufelsbestie schnaufte laut genug, um 'nen Toten zu erwecken. Ich müßte mich sehr täuschen, hätte sie den einen und den anderen nicht mit ihrer Nase angestoßen –«

»Übertreibung, Sparewood,« fiel Milford ergötzt ein, obwohl er selber nicht minder lebhaft mit der geheimnisvollen Fremden sich beschäftigte und vergeblich nach Aufschlüssen über deren merkwürdiges Auftreten suchte. »Schliefen wir beide, würden wir ebenfalls nicht ermuntert worden sein.«

»So?« erwiderte Sparewood mürrisch, »da will ich noch mehr übertreiben. Ich behaupte sogar, daß, wenn wir des Mädchens Schuhe und Rocksäume jetzt untersuchten, wir sie so trocken fänden, als hätten sie seit Sonnenuntergang oberhalb eines guten Feuers im Rauch gehangen. Ich sah's am Schritt, daß nicht ein Tautropfen von den Halmen abgefegt wurde.«

Wiederum lachte Milford gutmütig spöttelnd. Bevor er aber zu einer Entgegnung das Wort nahm, tönte das Poltern herüber, mit dem die abseits werdende Herde sich zerstreute.

»Da haben Sie's!« rief Sparewood aus, indem er aufsprang und die Schläfer weckte, »ein Monatsgehalt verwette ich gegen Ihren Kalkstummel, daß Pferdediebe hinter der ganzen Gespenstergeschichte stecken und wir morgen unsere Füße in die Hände nehmen müssen. Der Satan reitet die Wilden mit ihren Kniffen.«

Milford, der sich ebenfalls erhoben hatte, schaute besorgt. Sparewoods Erklärung klang zu verständig, als daß eine derartige Möglichkeit gänzlich zu verwerfen gewesen wäre. Indem jener aber noch riet, sich zu bewaffnen und den Tieren nachzueilen, stürmte der Wachposten mit allen Merkmalen des Entsetzens herbei.

»Die Pferde sind davongegangen!« rief er schon aus der Ferne herüber, »ein gespenstisches Frauenzimmer scheuchte sie – ein Riesenweib war's; immer höher wuchs es empor, daß mir die Haare zu Berge standen! Wir müssen alle nach, oder der Teufel holt den letzten Huf.«

»Jetzt soll das Mädchen schon riesengroß gewesen sein,« sagte Milford zu dem erregten alten Kettenträger, und sich dem atemlosen Wachposten zuwendend, forderte er ihn auf, seine Erlebnisse zu schildern.

Um nicht vom Schlaf übermannt zu werden, berichtete der Mann, habe er sich stehend an einen Baum gelehnt, und doch wären ihm die Augen zugefallen. Plötzlich wurden die Pferde unruhig, und aufschauend sei er einer weißen, geisterhaften Gestalt mit langem, wehendem Haar ansichtig geworden, die in der Nähe der Herde durch das niedrige Gebüsch schwebte. Auf seinen Anruf erfolgte keine Antwort, ebensowenig auf seine Drohung, zu schießen. Dann sei sie vor seinen offenen Augen spurlos verschwunden. Zugleich waren die Pferde in wilder Flucht davon gestürmt, worauf er ins Lager geeilt sei, um Hilfe herbeizuholen.

Ohne Zeitverlust ging man nunmehr ans Werk, zunächst der Tiere sich wieder zu versichern. In mäßiger Entfernung wurden sie indes ruhig weidend gefunden und ohne große Mühe nach dem Lager zurückgebracht, in dessen Nachbarschaft man sie zur Vorsicht anpflöckte. Die Nachtruhe war jedoch gestört, und lange noch bildete die gespenstische Frauengestalt – den Bären, vor dem die Pferde scheuten, hatte der Wächter in dem Gebüsch nicht bemerkt – den Gegenstand des Gesprächs der Arbeiter und ihrer wunderlichen Vermutungen. Milford und der alte Kettenträger suchten unterdessen in der weiteren Umgebung erfolglos nach Spuren der befremdenden Erscheinung, zugleich über ihr Verhalten vor den Leuten sich verständigend.


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