Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Achtes Kapitel

Schicksal. Trennung

Wir waren nach London zurückgekehrt und hatten ein Haus am äußersten Ende des freundlichen St. Johns-Wood, der Vorstadt mit den vielen grünen Gärten bezogen, von wo aus mannigfaltige Wege in den verschiedensten Richtungen ins Freie führten nach den reizenden Dörfern Hampstead und Highgate hin, so daß wir uns noch beinahe auf dem Lande wähnen konnten. Der Unterricht der Kinder wurde auf das reichlichste organisiert, und ganz besonders gereichte es mir zur Beruhigung, seine musikalische Seite in die Hände Johanna Kinkels legen zu können, die, obgleich selbst Musikerin ersten Ranges, es sich doch ganz vorzüglich zur Aufgabe gemacht hatte, den ersten Musikunterricht von Kindern zu leiten. Namentlich legte sie Gewicht auf eine Singklasse, durch die sie das musikalische Gehör und die Fertigkeit im Treffen der Intervalle entwickelte. Dieser Singklasse beizuwohnen gewährte mir ein besonderes Vergnügen, denn unter der vorsichtigen Leitung Johannas entstanden hier reizende musikalische Wirkungen, die das kindliche Organ nicht nur nicht beschädigten, sondern im Gegenteil es durch gesunde Übung kräftigten und verschönten. Die Wichtigkeit eines so vortrefflich geleiteten Gesangunterrichts in frühester Jugend wurde mir klar, besonders eben in Beziehung auf die harmonische Entwicklung des Stimmorgans im allgemeinen. Man bereitet hierdurch dem Menschen einen fast unschätzbaren Vorzug, da die Anmut der Stimme auch beim Sprechen eine der schönsten Eigenschaften der äußeren Erscheinung ist und oft nachhaltiger einnehmend wirkt, als die Schönheit. Daß ich nun wieder Gelegenheit hatte, Johanna Kinkel, diese treffliche, von mir innig geliebte Freundin, öfter zu sehen, gehörte mit zu den Dingen, um derentwillen ich die Rückkehr nach London als einen Gewinn ansah. Außerdem hatte ich aber Mühe, dem aufs neue drohenden geselligen Andrang zu wehren, damit er nicht die schöne Ordnung und den Frieden der Häuslichkeit störe, denn nur in dieser fand ich mein eigentliches Glück. Da fand ich es aber auch so durchaus, daß ich eines Tages in einem Brief an meine Schwester schrieb: »Ich kann Dir weiter nichts von mir sagen als: möge es so bleiben, wie es ist, ich verlange nichts mehr darüber hinaus.« Wenn das völlig glückliche, und durch die günstige Entwicklung der Kinder sich immer reicher gestaltende Tagesleben mit ihnen vorüber war, so waren es des Abends die gemeinschaftlichen Lektüren mit Herzen, die meinem Geiste neue Spannkraft und Nahrung gaben. Seine leuchtende Intelligenz, sein unfehlbares Gedächtnis und seine universellen Kenntnisse begleiteten dieses Lesen stets mit so wertvollen Bemerkungen und Erörterungen, daß sie dem Vorgelesenen einen zweiten reichen Inhalt beimischten. So lasen wir unter anderem eine eben herausgekommene Bearbeitung des Prozesses der St.-Simonisten, der mir ein hohes Interesse einflößte, besonders die Rede des Père Enfantin. Er sprach sich darin über die von dieser Seite angestrebte sogenannte Emanzipation der Frauen aus, die vom Publikum so vielfach ins Lächerliche gezogen worden war, hier mir aber als durchaus schön und edel aufgefaßt entgegentrat. Die mystisch-religiöse Lebensanschauung der St.-Simonisten teilte der Frau eben dieselbe priesterliche Weihe und Aufgabe zu, als wie dem Manne. Sie erhob die Gesellschaft zu einer großen patriarchalischen Hierarchie, in der Alter, Weisheit und Würde allein zu den höheren Graden befähigten. Die Frau wurde in jeder Hinsicht dem Manne als ein ebenbürtiges Wesen zur Seite gestellt. Enfantin sagte mit einer damals noch unter den Männern äußerst seltenen Bescheidenheit, daß es dem Manne durchaus nicht zukomme, weder als Gesetzgeber, noch als Lehrer oder Ordner der geselligen Lebensverhältnisse dem Weibe irgendwie eine Grenze setzen zu wollen, sondern daß die Frau hervorkommen müsse und für sich selber sprechen, um ihre wahren Bedürfnisse und Ansprüche zu formulieren. Ich war von dieser Darstellung der Sache um so freudiger überrascht, als eben in England eine von zahlreichen Unterschriften der edelsten, gebildeten englischen Frauen bedeckte Bittschrift um Zutritt zum Studium der Medizin an den Universitäten vom Parlament abschlägig beschieden worden war. Ich fühlte tief, wie richtig es sei, daß nur die Frauen selbst ganz sagen können, was ihnen nottut, und daß es daher Pflicht eines jeden denkenden weiblichen Wesens sei, jene Forderungen in sich klar zu machen, um damit im engeren oder weiteren Kreise hervorzutreten. Demzufolge tauchte alsbald der Gedanke in mir auf, auch mein Wort in dieser Angelegenheit zu sagen. Ich setzte mich gleich unter dem Eindruck des Gelesenen hin und schrieb eine Widmung an den Père Enfantin, der damals noch lebte, die der beabsichtigten Arbeit voranstehen sollte.

Im übrigen verlief dieser Winter nach außen hin ziemlich ereignislos. Der Krieg in der Krim war seit Anfang September beendigt, und Herzens Hoffnungen auf eine neue Ära in Rußland waren um so lebendiger, je mehr die politische Demütigung des stolzen Autokratentums durch den Pariser Frieden ihm die Notwendigkeit innerer Reformen und dadurch wiederhergestellten Ansehens aufzuerlegen schien. Seine schriftstellerische Tätigkeit nahm nun einen beinahe ausschließlich politischen Charakter an. Ganz besonders war es die Emanzipation der Leibeigenen, die das Hauptthema seiner Besprechungen bildete und von ihm als die unerläßliche Bedingung einer neuern, bessern Zukunft für Rußland hingestellt wurde. Er hatte dabei jedoch immer die Beibehaltung des russischen Gemeindewesens mit Verteilung der Erde und ihrem gemeinschaftlichen Besitz im Auge. In der Erhaltung dieser primitiven Einrichtung sah er die einzig mögliche Abwehr gegen das Elend des europäischen Proletariats und zugleich ein gerechtes staatliches Prinzip, daß die Erde dem gehören solle, der sie bebaut. Es kamen ihm zu dieser Zeit auch schon immer häufigere Mitteilungen aus Rußland zu, und seine in London gedruckten Schriften gelangten mit immer größerer Leichtigkeit dorthin. Alles dieses brachte die zufriedenste Stimmung im Hause hervor, und ich glaubte wirklich nicht, daß der Ausdruck übertrieben war, mit dem Johanna Kinkel einmal ihre Empfindung nach einem Besuch bei uns schilderte; sie sagte: »Es war mir ganz, als träte ich in ein kleines Himmelreich.«

Der Kreis von Bekannten, der sich bei uns zu bestimmten Zeiten versammelte, war aus weit weniger leidenschaftlich aufgeregten politischen Persönlichkeiten zusammengesetzt, als der frühere im ersten Winter in London. Es waren viele junge Leute verschiedener Nationalitäten darin, die sich mit begeisterter Anhänglichkeit um Herzen gruppierten, von ihm lernten und durch ihre verschiedenartigen Bestrebungen die Unterhaltung auch auf andere Gebiete als die rein politischen hinüberlenkten. Zu diesem jüngeren Kreis gehörte in dem Winter auch Carl Schurz, der wegen der Gesundheit seiner Frau für einige Zeit nach Europa gekommen war. Zwischen ihm und Herzen entspann sich eine ganz besondere Freundschaft, und wenn Schurz mit seiner lebendigen Auffassung und seinem Scharfblick uns die interessantesten Schilderungen des amerikanischen Lebens gab, so lernte er dagegen mit hohem Interesse aus Herzens Mitteilungen jenes nebelhafte Rußland kennen, dem beide, zusammen mit Amerika, die Suprematie der nächsten Kulturepoche voraussagten. Es war ein Lieblingsgedanke Herzens, auf den er immer und immer wieder zurückkam, daß der große Ozean in der nächsten Zukunft dieselbe Rolle spielen werde, die das Mittelmeer in der alten Welt gespielt hatte, das heißt: das Zentrum der Kulturstaaten dieser Zukunft zu sein.

Es waren dem nächsten Kreise auch jetzt mehrere Frauen beigesellt, wodurch ebenfalls der ausschließlich politische Charakter der Gesellschaft geändert und durch Musik und andere heitere gesellige Anregung unterbrochen wurde, was besonders für die Kinder erfreulich und anregend war. Anna freilich erschien nicht mehr so häufig, da ihre vorrückende Schwangerschaft sie mehr an das Haus fesselte. Ich ging dagegen, so oft ich konnte, auf ein Stündchen zu ihr und genoß so recht von Herzen das Zusammensein mit dieser lieblichen und edlen Natur, die durch die Erwartung des späten Mutterglücks eine noch höhere Weihe erhielt. So war ich auch in den letzten Tagen des Januar am Nachmittag eine Stunde bei ihr. Wir hatten die anmutigsten Gespräche natürlich in Beziehung auf das neue Wesen, das sie erwartete. Sie sprach dabei auch von der Möglichkeit ihres Todes mit großer Ruhe und Klarheit, obgleich sie gewiß in diesem Augenblick mehr als je zu leben wünschte. Ich trennte mich von ihr in herzlicher Liebe, und sie trug mir noch lachend allerlei scherzhafte Dinge zur Bestellung an Herzen auf. Am folgenden Morgen wurde ich früh, als es draußen noch ganz finster war, durch ein Klopfen an meiner Stubentür geweckt. Ich fuhr erschreckt empor, als Herzen, mit einem Licht in der Hand, bleich und verstört eintrat, und auf meine bestürzte Frage, was denn vorgefallen sei, mit zitternder Stimme erwiderte: »Ich habe eben eine Botschaft von Charlotte bekommen – Anna ist diese Nacht plötzlich gestorben.« Ich war wie versteinert bei dem unerwarteten Schlag. Mich ankleiden und hineilen war das Werk einiger Augenblicke. Da war es denn wirklich so! Die ich am Abend vorher in anscheinender Gesundheit, in voller Geistesfrische verlassen hatte, lag nun kalt und still, zusammen mit der noch ungeborenen Blüte, durch die uns wenigstens ein lebendiger Abdruck der holden Mutter geblieben wäre. Mein Schmerz verstummte vor dem des armen Friedrich, dem in einer Hülle zwei Kleinode, Gegenwart und Zukunft, entrissen waren. Der Tod war ganz plötzlich, bei vollem Bewußtsein, eingetreten, und es war keine Zeit gewesen, wenigstens das eine, junge Leben zu retten. Bald nach mir erschien auch Herzen, und es ist nicht zu sagen, wie warm und liebevoll er sich erwies. Er brachte eine Menge der schönsten Blumen, um das Totenbett nach der freundlichen italienischen Sitte zu bestreuen, wie er vor noch nicht allzulanger Zeit ein Totenbett geschmückt gesehen hatte, auf dem das Liebste ruhte, was er auf der Welt besessen. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich ganz die tiefe, gemütvolle Seite seiner Natur, die diejenigen kaum ahnten, die ihn nur als den scharfen, polemisierenden Politiker oder den geistvollen witzigen Gesellschafter kannten.

Die folgenden Abende waren wir stets im Trauerhause im engsten Kreise versammelt: Friedrich und Charlotte, Schurz und seine Frau, Herzen, sein Sohn und ich. Herzen las uns eine seiner schönsten Sachen vor, die er am Morgen rasch zu dem Zweck aus dem Russischen in das Französische übersetzt hatte. Es war dies eine Erinnerung aus Rom und der begeisterten Zeit von Achtundvierzig, wo er mit seiner Frau und mehreren Freunden an den künstlerisch schönen, vom seligsten Freiheitstraum verklärten Volksszenen des römischen Lebens teilgenommen hatte. Die Behandlung war so schön, so dramatisch, so in ideelle Sphären hinüberschauend, daß sie vollkommen für unsere Stimmung paßte und unsern Schmerz in einer höheren Rührung milderte. Innig dankbar empfand ich das Zeichen zarter Freundschaft, als er am Schluß der Lesung mir die Übersetzung überreichte mit den Worten, die er auf das Titelblatt geschrieben: »Ich lege diese Blätter als einen kleinen blassen Immortellenkranz neben die Blumen, die unsere Verstorbene schmücken, und ich widme sie Ihnen an dem Tag, nachdem Sie Ihre Freundin verloren.«

Einige Tage darauf zog ein stiller kleiner Trauerzug, nur aus den obenerwähnten Personen bestehend, zu dem schönen Kirchhof von Highgate hinaus, wo ich schon einmal an einem Grabe mit Herzen gestanden hatte. Es war ein schöner Platz, an dem wir Anna zur ewigen Ruhe betteten. Nichts Störendes, kein Priester, kein fremder, unfühlender Zeuge war zugegen; Schurz sprach ein paar herrliche Worte, die wie Frühlingsrosen auf das Grab fielen und es uns scheinen ließen, als schwebe die Geschiedene mit dem Lächeln der Erlösten auf den Lippen über der Gruft, in der wir ihr Irdisches versenkten. Den ganzen Tag über blieben die Freunde bei uns im Hause, und wenn etwas die Bewunderung und Freundschaft hätte steigern können, die wir alle für Herzen empfanden, so wäre es sein Benehmen bei dieser Gelegenheit und an diesem Tage gewesen.

Anfang April war der Geburtstag Herzens, und ich hatte zur Feier ein kleines Examen vorbereitet, bei dem die Kinder ihm von ihrem Erlernten Rechenschaft ablegen sollten. Des Morgens auf dem Frühstückstisch fand er an seinem mit Blumen geschmückten Platz eine schriftliche Einladung dazu, und nach dem Frühstück begann die Prüfung, die das allerbefriedigendste Resultat lieferte. Eine festlich frohe Stimmung verbreitete sich davon über den ganzen Tag, der sich am Abend durch den Besuch einiger vertrauterer Freunde, die an der Anmut und dem Gedeihen der Kinder lebhaften Anteil nahmen, auf das heiterste abschloß. Als wir uns trennten, sagte ich lachend zu Herzen: »Nun, über das Antipodentum, die Zweifel und Stürme, sind wir nun glücklich hinaus und hoffentlich im Hafen angelangt für alle Zeit.«

Ist es Vermessenheit des Menschen, auf einen dauernden Zustand der Befriedigung zu hoffen, selbst wenn er das Ergebnis redlichster Bemühung, reinsten Strebens ist? Oder lauern tückische Dämonen, wenn irgendwo der Friede in eine Existenz einzog, neidvoll darauf, um die sicher werdende Seele gewaltsam aus der schönen Täuschung zu wecken? Ich weiß es nicht, gewiß aber ist, daß nur zu oft im Leben dem friedlichsten Zustande der jähe Wechsel folgt, gleichsam als wollte das Schicksal uns auf die Probe stellen, ob wir immer den Panzer unter dem Friedenskleide tragen und dessen stets eingedenk sind, daß unser Leben Kampf ist und nicht Ruhe. Wenige Tage nach dem eben erwähnten Geburtstagsfest saßen wir gerade beim Mittagessen, als ein mit Koffern bepackter Wagen vor dem Hause vorfuhr. Ich konnte ihn von meinem Platz am Tisch aus sehen, sprang auf und rief: »Das ist Ogareff!« – dies war der Name von Herzens Jugendfreund, den er über alles liebte und von dem er mir so oft und so ausführlich gesprochen hatte, daß es mir war, als kenne ich ihn bereits selbst. Er war es, der sich kürzlich mit jener Dame verheiratet hatte, die die Erziehung der Kinder hatte übernehmen sollen und die Herzen eine Zeitlang vergebens erwartet hatte. Es war auch nicht die leiseste Nachricht angelangt, daß Ogareff, der seiner bekannten politischen Gesinnung wegen immer unter einer Art von polizeilicher Aufsicht stand, Rußland würde verlassen können, aber eine bestimmte Ahnung sagte mir, daß er es sein müsse und kein anderer. Herzen, immer ängstlich, daß etwas Störendes in das Leben kommen könne, ging dem aussteigenden Fremden scheu entgegen, bis er wirklich den so viele Jahre lang nicht gesehenen Jugendfreund erkannte. Er führte ihn nebst seiner ihn begleitenden Gattin zu mir und den Kindern in das Zimmer und machte uns miteinander bekannt. Wie es zuweilen zu gehen pflegt, daß eine innere Stimme fast mit unumstößlicher Sicherheit bei gewissen Ereignissen oder Begegnungen uns eine plötzliche Wendung unseres Schicksals voraussagt, so ging es auch mir hier. Es waren solche ahnungsvolle Momente, die bei den Alten zu den Stimmen warnender Gottheiten wurden, die den Menschen am Rande des Abgrunds zurückhielten, oder aber, wenn er sich über den Inhalt der Warnung täuschte, gerade in das Verhängnis, dem er entfliehen wollte, hineinrissen. Ich war auf das günstigste für die Freunde des mir so sehr befreundeten Hauses gestimmt, und doch fühlte ich jetzt, als sie vor mir standen, mich von der eisigen Hand jenes Schicksals berührt, das mitleidslos Bande knüpft und sie wieder löst, ohne zu fragen, ob Herzen dabei brechen oder nicht.

Es war natürlich, daß dieser Besuch von vornherein eine große Umwälzung in unserem geordneten täglichen Leben hervorbrachte. Mit diesem Freunde kam sozusagen Herzens Vergangenheit fast von der Kindheit her, es kam das Vaterland und die Heimat, es kamen die vergangenen Freuden und Leiden und alle gemeinsamen Hoffnungen zurück. Es war derselbe Freund, mit dem Herzen einst, als dreizehnjähriger Knabe, auf dem Hügel bei Moskau beim Schein der Abendsonne geschworen hatte, Pestel und die anderen Opfer des vierzehnten Dezember zu rächen. Mußte schon dies allein Herzen auf das tiefste erregen, so mußte es noch mehr der Umstand, daß dieser Freund schwer leidend ankam, so daß sein Zustand ernste Besorgnisse einflößte. Seine Frau war die intimste Freundin von Herzens Gattin gewesen. Sie hatte mit der damals noch glücklich vereinigten Familie die freudig bewegte erste Zeit, die diese im Ausland verlebte, in der glorreichen Erregung von 48 in Italien und Frankreich verbracht. Auch mit ihr kam daher eine Welt von glückseligen, aber auch ebenso tiefschmerzlichen Erinnerungen zurück, da sie Herzen seit dem Tode der von beiden leidenschaftlich geliebten Frau nicht wiedergesehen hatte. Ich ehrte die Ausschließlichkeit, mit der alle diese Dinge im Anfang Besitz von Herzen nahmen und den Charakter unseres häuslichen Lebens völlig umwandelten. Ich erkannte an, daß bei einer so tief und wahr für alle wirklichen Bande der Neigung empfindenden Natur wie die Herzens ein solches Erlebnis vorerst völlig die Oberhand behalten und alle andern Rücksichten in den Hintergrund drängen mußte. Doch hoffte ich, daß nach und nach auch alles übrige wieder in sein Recht treten und der gewohnte Gang des Lebens, den ich der Kinder wegen als für den allein richtigen erkannte, keine dauernde Störung erleiden werde. Ich fühlte allerdings vom ersten Augenblick an, daß ich hier noch einmal, und zwar in unendlich verstärkter Weise, mit jenem Antipodentum des russischen Wesens würde zu kämpfen haben, das ich seit einiger Zeit so glücklich und vollständig, in Beziehung auf die Kinder, bei Herzen überwunden hatte. Es trat mir hier viel ausgeprägter und unmittelbarer entgegen, besonders in der russischen Dame, die alle die charakteristischen Eigenschaften ihrer Heimat, vereint mit einem fanatischen Patriotismus, in sich trug. Ich hoffte jedoch bestimmt, daß Herzen diesmal, durch frühere Beispiele gewarnt, die Initiative ergreifen, von vornherein den Verhältnissen ihre bestimmte Form geben und mir die Ausübung meiner Wirksamkeit ungeschmälert erhalten werde. So ließ ich denn die Dinge anfangs ruhig ihren Gang gehen, indem ich mich bemühte, meinerseits durch jede freundliche Aufmerksamkeit und tätige Teilnahme das Verhältnis auf das freundlichste zu gestalten. Es ward mir dies um so leichter, als mir Herzens Freund eine wahrhaftige, tiefe Sympathie und ein ganz unbegrenztes Mitleid einflößte. Ich wußte bereits durch Herzen, welch eine tiefe und edle Natur mir in diesem Manne entgegentrat. Ich kannte seine Lebensschicksale und wußte, daß ich in ihm eines jener Opfer sah, die die unglückliche Nikolaussche Periode sich gerade unter den besten und begabtesten Menschen in Rußland erwählt hatte. Wie viele Namen kannte ich nicht von reich ausgestatteten Persönlichkeiten, die in der dumpfen Atmosphäre jenes trostlosen, alle geistige Entwicklung hemmenden Despotismus untergegangen waren. Wo nun aber die Macht der Begabung trotz alledem sich Bahn gebrochen hatte, da hatte eben alles einen gewaltsamen Charakter angenommen und hatte oft in exzentrischen Lebensäußerungen eine Art von Betäubung für das versagte harmonische Schaffen und Wirken gesucht. Auch Ogareff hatte auf europäischen Reisen ein sturmbewegtes und dann wieder in russischen Wäldern und Steppen ein seltsam beschauliches, weltentrücktes Leben geführt. Er hatte eine seltene Organisation, hohe geistige Gaben und ein glänzendes Vermögen mit der Jugend zusammen dahinschwinden sehen müssen, ohne davon in der Welt eine äußere sichtbare Spur zu hinterlassen. Doch konnte man auch auf ihn mit vollem Recht das Schillersche Wort anwenden:

»Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.

Nach dem einstimmigen Urteil seiner Freunde war die Wirkung nicht gering anzuschlagen, die seine Persönlichkeit ausgeübt hatte. Herzen hatte mir oft gesagt: »Wer weiß denn, was ich und andere, die gehandelt haben, der Rede und dem Einfluß dieses Mannes verdanken!« Von Natur viel mehr zum Dichter als Politiker angelegt, hatte sich sein inneres Leben nach außen hin auch nur in Gedichten kundgegeben, deren mehrere in russischer Sprache, auch durch Herzen in dessen Presse, veröffentlicht worden waren. Im Verkehr war er von jeher äußerst schweigsam gewesen; jetzt war er es doppelt, da leider seine Gesundheit ganz zerstört war und ein tiefes Versunkensein ihn oft stundenlang teilnahmlos am Gespräche dasitzen ließ. Blieb er auf diese Weise ziemlich unnahbar, so zogen mich doch die unverkennbare Güte seines Wesens und sein stilles Leiden auf das innigste an und erweckten meine tiefe Teilnahme.

Ganz anders war der Eindruck, den mir die russische Dame machte. Hatte mich schon bei ihrer Ankunft das Gefühl befallen, als wenn hier jemand in mein Leben träte, der keinen wohltuenden Einfluß darin ausüben würde, so blieb mir auch, trotz alles Bestrebens meinerseits, das beste Vernehmen einzuleiten, eine gewisse unbehagliche Ahnung, daß dies zu keinem Ziele führen werde und daß unsere zwei Naturen ganz und gar nicht zueinander paßten. Ich konnte nicht recht zur Klarheit in mir gelangen über diese seltsame Persönlichkeit. Ich fühlte mich niemals frei in ihrer Gegenwart und ihr eignes, sonderbar scheues Wesen machte mich auch befangen. Ich glaubte jedoch zu sehen, daß ihr meine Stellung im Hause eine unangenehme Überraschung gewesen war; sie hatte wohl gedacht, eine gewöhnliche Gouvernante vorzufinden und dabei den Wunsch sich erfüllen zu sehen, die Stellung bei den Kindern, die deren sterbende Mutter ihr zugedacht, nun einzunehmen. Statt dessen fand sie eine Freundin, die die Hausfrau im Haushalte und bei den Kindern die Mutter vertrat. Dazu kam, daß ihr das deutsche Wesen verhaßt war, und viele Einrichtungen, die ich im Interesse der Kinder gemacht hatte, ihren russischen Gewohnheiten gänzlich zuwider waren. Um davon nur eine Kleinigkeit anzuführen: ich hatte mit vieler Mühe und Überredung Herzen davon abgebracht, fast täglich, bei jedem Ausgang, den er machte, den Kindern unnütze Spielereien und Gegenstände mitzubringen, die zu nichts anderem dienten, als sie abzustumpfen gegen die Freude an guten und nützlichen Gaben, und die Zerstörungslust, die ohnehin in Kindern gewöhnlich ein vorherrschender Trieb ist, zu wecken. Nun hatte aber die russische Dame eine wahre Leidenschaft, die Kinder mit Geschenken zu überhäufen. Sie sagte mir einmal, sie könne an keinem der vielen, schönen Läden mit Spielwaren in London vorübergehen, ohne den Wunsch zu empfinden, alles darin Befindliche kaufen und den Kindern mitbringen zu können. Es ist dies ein entschieden russischer Zug. Hatte mir doch eine andere Russin früher einmal gesagt, sie wolle ihren Knaben, ihr einziges Kind, so sehr mit Geschenken aller Art überhäufen, daß er dadurch blasiert werden und die Lust am Besitz verlieren solle. Ich versuchte umsonst, Madame Ogareff meine Ansicht hierüber annehmbar zu machen. Sie fuhr fort, die Kinder in dieser Weise zu beschenken und hörte erst damit auf, als ich Herzen in schonendster Weise auf das wieder einreißende Übel aufmerksam gemacht und dieser sein Veto dagegen eingelegt hatte. Ähnliche Verschiedenheiten der Ansichten und noch über wichtigere Dinge fanden sich in Menge vor. Dabei aber wünschte Herzen, wie dies bis zu einem gewissen Grade auch natürlich war, daß die Dame sich viel mit den Kindern beschäftigte, ihnen von der verstorbenen Mutter erzähle, russisch mit ihnen spreche und sie soviel wie möglich mit dem nie gesehenen Vaterland bekannt mache. Wäre dies alles einfach und natürlich geschehen, nur als ein schönes Mehr in dem schon Vorhandnen, so würde sich alles leicht und freundlich gestaltet haben. Allein, wie schon erwähnt, es war ein peinliches Etwas in den Persönlichkeiten und den Beziehungen, das ich mir wegzuleugnen suchte, das sich mir aber täglich mehr mit unheilvoller Ahnung aufdrängte. Nach der Tagesarbeit mit den Kindern, die zuweilen, trotz aller Liebe, mit der ich sie tat, doch erschöpfend war, fehlte dann auch die gewohnte frühere geistige Erfrischung durch Gespräch oder Lektüre mit Herzen. Die russische Sprache und russische Interessen beherrschten die Unterhaltung, und wenn ich erstere auch etwas kennen gelernt und mit den letzteren mich ziemlich vertraut gemacht hatte, so waren mir doch beide immer noch zu fremd, um ganz ausschließlich darin zu leben und meine geistige Erholung zu finden. Zu meinem Leidwesen sah ich, daß Herzen, getreu seiner Natur, die Dinge abermals gehen ließ, immer in der Hoffnung, daß sich das alles von selbst finden werde, und voller Furcht, nach der einen oder der andern Seite hin vielleicht wehe zu tun und zu verletzen.

Derselbe Fehler in den Lebensbeziehungen von Personen, die aufeinander angewiesen sind, den er früher schon begangen, wiederholte sich auch hier. Nur sollte er dieses Mal noch unheilvollere Folgen haben als zuvor. Als ich die Verstimmung unaufhaltsam hereinbrechen sah, fing ich an, Herzen leise darauf aufmerksam zu machen und freundschaftlich zu warnen. Mir schien, daß dasjenige, das mir in Beziehung auf ihn und den Frieden seines Hauses eine notwendig auszuübende Pflicht gewesen war – nämlich die unbedingte Solidarität und Parteinahme der Freundschaft, auch von ihm unbedenklich vollzogen werden müsse. Es war ja keineswegs die Rede davon, die Rechte seiner Freunde zu schmälern, noch ihm selbst die Wohltat seiner russischen Erinnerungen zu entziehen. Es kam einzig darauf an, den bisherigen status quo des Hauses, der sich als segensreich für die Kinder und nach seinem eignen Zeugnis zu seiner vollkommenen Zufriedenheit gestaltet hatte, zu erhalten und damit das Leben mit den Freunden sympathisch zu verbinden, ohne es als ein beliebig willkürlich wirkendes, zersetzendes oder erhaltendes Element aufwachsen zu lassen. Es hätte dies in das Kapitel der Lebenskunst gehört, die so wenige verstehen, zu der uns der große Lebenskünstler Goethe einen noch viel zu wenig beachteten Wink in den Wahlverwandtschaften gegeben hat. Kann man auch nicht allen Verwicklungen und Verwirrungen vorbeugen, die aus Begegnen, Finden, Dazwischentreten und Trennen entstehen, so kann man doch gewiß, in den meisten Fällen, durch ein vernünftiges Einschreiten und Ordnen der Verhältnisse zu rechter Zeit, unzählige Mißverhältnisse vermeiden, und, indem man die Rechte eines jeden wahrt, den Zusammenstoß der Charaktere und seine Folgen verhüten. Aber dies war durchaus nicht Herzens Art, und, aus einer übergroßen Scheu, einzugreifen und die Freiheit des einen oder andern zu gefährden, ließ er den Dingen ihren Lauf, bis der gordische Knoten geknüpft war und dann nur mit einem Schwertstreich, der aber auch ins Herz schnitt, gelöst werden konnte.

Es wäre unnütz, alle die Phasen anzuführen, durch die der innere Konflikt immer wachsend ging. Ich wußte durch andere Personen, wie sehr die russische Dame wünschte, die ihr einst im Haus bestimmt gewesene Stelle einzunehmen. Ich sah, wie Herzen täglich mehr dem Wunsch sich hingab, daß das russische Element bei den Kindern wieder das vorherrschende würde, und wie gleichgültig ihm alle nichtrussischen Beziehungen wurden, die er noch vor kurzem mit Teilnahme und Herzlichkeit gepflegt hatte. Ich litt unsäglich unter diesen Zuständen, denn der Gedanke drängte sich mir mit Macht auf, daß es zu einer Trennung kommen werde. Ich fühlte, daß ich schon um der Einheit der Erziehung willen die Kinder dem russischen Element allein würde überlassen müssen, da ich nicht mit ihm gehen konnte, gegen es aber zu arbeiten mich dieser verstärkten Macht gegenüber nicht mehr ausreichend fühlte. Außerdem hielt ich solch einen Dualismus für das Wohl der Kinder schädlich. Ich muß es Herzen nachsagen, daß er anfangs mit Entrüstung jede Andeutung auf Trennung zurückwies. Den innern Zwiespalt zu klären, schlug er Unterredungen und Erörterungen bald mit Ogareff, bald mit dessen Frau vor. Dies wies ich jedoch zurück als etwas, was zu gar nichts führen konnte. Die bestehenden Verschiedenheiten der Naturen, Ansichten und Gewohnheiten konnten unmöglich ausgeglichen werden. Es kam ja überhaupt nur darauf an, daß er erklärt hätte, die Erziehung und die ganze Hausordnung solle fortbestehen wie bisher, ohne jede Einmischung und ohne das Übergreifen eines Elements, für das es im besten Falle noch zu früh war.

Es ist möglich, daß, wenn ich weniger ausschließlich an meinem damaligen Leben und den frei übernommenen Pflichten gehangen hätte, wenn ich sie mehr als eine geschäftliche Verpflichtung denn als eine innerste Herzenssache, in der ich mit der ganzen leidenschaftlichen Hingebung meiner Natur stand, behandelt hätte, es ist möglich, sage ich, daß ich dann die ganze veränderte Lage der Dinge ruhiger aufgenommen und beherrscht hätte. Aber es ging mir eben in der Freundschaft, wie es mir einstmals in der Liebe gegangen war: ich hatte alles gegeben und erkannte nun mit unmäßigem Schmerz, daß das nicht vollkommen gegenseitig war, daß im Gegenteil andere stärkere Bande das Leben beeinflussen und ihm eine andere Richtung geben würden. Ich war allerdings auch zu selbständig und unabhängig in meiner bisherigen Wirksamkeit gewesen, als daß es mir leicht geworden wäre, darin eine Veränderung vorgehen zu sehen. Diese Anforderung an die Fortdauer der unbeschränkten Ausübung meiner Verpflichtung war dadurch gerechtfertigt, daß ich sie mit ganzer Treue und nach tiefster Überzeugung, recht zu tun, erfüllte. Dennoch hätte ich hierin kleine Änderungen eintreten lassen können, wenn die Naturen, denen ich gegenüberstand, andere gewesen wären und sich freier und verständnisvoller zu mir gestellt hätten. Eine ganz unpersönliche Rücksicht gab der Sache den Ausschlag. Ich fühlte, daß sich hier ein natürlicher Kreis um die exilierte Familie schloß, in der auch den Kindern wieder das heimische Element nähertreten konnte, wie es des Vaters innigster Wunsch war. Einheit in der Erziehung aber erschien mir ein unerläßliches Erfordernis. Indem ich diese russischen Händen zurückgab, erreichte ich wenigstens dies eine. Dennoch zerriß es mir das Herz, an Trennung zu denken, und ich machte noch einen letzten Versuch, mich mit Herzen darüber zu verständigen. Er, gut und sympathisch wie immer, versicherte, daß er alles tun werde, die Sache harmonischer zu gestalten, und bat mich, nur Vertrauen zu ihm zu haben. Ich fing noch einmal an zu hoffen und versuchte von neuem eine freundschaftliche Annäherung und ein Verständnis für das, was ich einzig für recht und den Kindern in der Erziehung zuträglich hielt. Allein das Mißverständnis blieb dasselbe und ich sah, daß auch Herzen anfing, Bedenken zu finden, wo er früher keine gefunden hatte. Endlich, an einem Morgen, an dem er schon früh fortgegangen war aufs Land, um erst am Abend zurückzukehren, brachte man mir einen Brief, den er für mich zurückgelassen, da ich ihn vor seinem Weggehen nicht mehr gesehen hatte. Dieser Brief enthielt zum erstenmal auch seinerseits die Annahme der Notwendigkeit einer Trennung, die er bisher noch stets zurückgewiesen hatte. Nur schlug er vor, sie zu einer Art Feier zu machen, gleichsam zu einem ernsten Fest. Die Notwendigkeit, daß die Trennung sich nun vollziehen müsse, wurde mir nach diesem Briefe alsbald klar. Er hatte gewählt zwischen den Freunden und mir, und da war für mich keines Bleibens mehr. Der Gedanke aber, aus dem, was mir ans innerste Leben ging, eine Art Fest zu machen, ruhig und gefaßt zu scheiden, wo ich mich nur mit blutender Seele losriß, war mir unfaßbar. Ich fühlte, daß ich es nur mit einem gewaltsamen Entschluß und zwar gleich, in einer Art Ekstase, tun mußte oder gar nicht. Ich entschloß mich also, das Opfer noch am selben Tag zu vollbringen, besonders da Herzens Abwesenheit mir dazu günstig erschien. Ich fing rasch an, meine Vorbereitungen zu machen, meine Sachen zu packen, schrieb an Herzen einen kurzen Abschiedsbrief, einen andern an die russische Dame, worin ich ihr die Kinder übergab und sie bat, meine bisher an ihnen vollzogene Aufgabe weiterzuführen. Dann setzte ich mich zur letzten Mahlzeit mit den zwei Kindern nieder. Ich war in einer jener Stimmungen, in denen allein große weltüberwindende Opfer möglich sind. Mein Golgatha war da, und diese Mahlzeit war mein Abendmahl, bei dem aber kein Verräter zugegen war. Diese vier unschuldigen Kinderaugen allein waren Zeugen des großen Kampfes der Entsagung, den ich kämpfte. Ich sprach zu ihnen Worte der heiligsten Liebe und Weihe, nahm zuletzt ihre beiden Hände in die meinen und segnete sie, indem ich sie bat, dieser Stunde, deren Bedeutung sie jetzt noch nicht verständen, zu gedenken. Dann befahl ich dem Mädchen, die Kinder anzukleiden, und sie mit dem für sie bestimmten Brief zu der Dame zu bringen. Ich drückte sie, die, erstaunt und betroffen, nicht begriffen, was vorging, noch einmal an mein Herz und entließ sie. Dann nahm ich selbst das Nötigste mit mir und verließ das Haus. An der Schwelle hielt der alte Diener, ein Italiener, der mir äußerst ergeben war, mich auf und sagte flehend: »Gehen Sie nicht, es bringt diesem Hause Unglück.« Ich drückte ihm schweigend die Hand und ging zu Friedrich und Charlotte, da ich im Augenblick noch kein anderes Unterkommen wußte. Diese waren im äußersten Grade bestürzt, als sie das Vorgefallene erfuhren, stimmten aber vorerst mit mir überein, daß ich gehen mußte, sobald Herzen selbst sich dafür entschieden. Ich war unsäglich traurig; mehr als das, ich war von einem verzweiflungsvollen Schmerz erfaßt, und rings um mich gähnte ein offenes Grab. Glaube nur niemand, daß der unmittelbare Augenblick eines großen, das Leben erschütternden Opfers das Schwerste sei! Wohl denen, die im Augenblick der Ekstase das Opfer mit dem Leben besiegeln können. Nein, das Kreuz ist der Prüfungen schwerste nicht. Indem wir die höchsten Güter des Daseins hingeben um einer Idee oder eines Gefühls willen, verliert das Dasein seinen Wert, und der Tod ist die Erlösung von dem Schmerz, sein zu müssen ohne das, was uns das Sein verklärte. Darum war die Entsagung Buddhas größer, wie die von Christus. Buddha durchlebte die ganze Qual des Daseins, indem er seine schmeichlerischen Täuschungen, seine beseligenden Wahngebilde in ihrem wahren Wesen erkannt hatte. Er ertrug diese Qual, um sich in erhabenster Entsagung darüber zu erheben. Christus ging in der Ekstase der höchsten Stunden seines Lebens, nachdem das Volk ihn als Messias erkannt und ihm zugejubelt hatte, dem Opfertod entgegen, der eine Welt erlösen und ihn aus dem dornengekrönten Leben in die angeborene Herrlichkeit zur Rechten des Vaters zurückversetzen sollte. Mein Opfer war vollbracht, aber nun hieß es: weiter leben, fern von der lieben Heimat, die ich mir selbst gegründet und die kaum erst angefangen hatte, ganz sich nach meinem Wunsche zu gestalten. Alles in mir sträubte sich gegen das noch einmal anfangen müssen, und wenn in dem Augenblick der Tod in irgendeiner Form, auch der gewaltsamsten, zu mir gekommen wäre, ich hätte mich ihm wie dem Erlöser entgegengestürzt und hätte gerufen: »O, nur aufhören, zu sein, nur Vernichtung, Vernichtung, und Ende dieser gräßlichen Qual, leben zu müssen!« Wohl begreift man in solchen Stunden, wie die christliche Anschauung zu dem häßlichen, jedes Schmucks des Daseins entkleideten Knochenbilde vom Tode kam. Es war der Ausdruck jenes Schmerzes, der verzweifelnd aus dem Dasein flieht und sich lieber in das Reich der Vernichtung rettet, als noch länger die erkannte Täuschung der Existenz fortsetzt. Nur dem Griechen, dem in künstlerischer Verklärung das Leben gleich einem schönen Traum scheinen konnte, durfte der holde Zwillingsbruder des Schlafs mit der umgelehrten Fackel nahen.

Noch am Abend, als wir schweigend zusammensaßen, in schmerzliches Sinnen verloren, erschienen Ogareff und der junge Alexander, um mir einen Brief von Herzen zu überbringen und mir ihr Leid über den so rasch von mir getanen Schritt auszusprechen. Dies letztere tat besonders Alexander in so herzlicher Weise und mit so rührend kindlichem Gefühl, daß es mich tief bewegte, und ich einsah, daß ich in diesem Jüngling eine wahrhafte Sohnesanhänglichkeit gefunden hatte. Als sie fort waren, las ich Herzens Brief, er lautete:

»Liebe Freundin!

Mit Tränen in den Augen habe ich Ihren Brief gelesen; nein, nicht so mußten wir uns trennen, nein und abermals nein. Aber wenn es Ihnen einen schweren Schritt erleichtert hat, so sei es. Aber keine Entzweiung. Ogareff und Alexander bringen Ihnen mehr als meinen Brief: meine tiefste Bewunderung, meine unbegrenzte Freundschaft. Ja, von einer Seite haben Sie recht; das Schweigen und diese vier Kinderaugen, um derentwillen Sie die Schwelle dieses unglückliches Hauses einst überschritten. – Ja, es war schön, so Abschied zu nehmen, und ich nehme Ihren Segen an für meine Kinder; für mich selbst aber verlange ich Ihre Freundschaft.

Ihr Bruder und Freund
A. Herzen.«       

Ich las diese Zeilen mit einem Gemisch von tiefer Rührung und herber Bitterkeit. Warum hatte diese Freundschaft nicht tätiger eingreifen und zu rechter Zeit alles retten können, was nun unwiederbringlich verloren war? Warum sind auch die besten, die begabtesten Menschen doch nur Spielbälle in der Hand des Zufalls, der den sichersten Pfad plötzlich mit dem Unerwarteten durchkreuzt und für immer von seiner Richtung ablenkt?

 


 


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