Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zehntes Kapitel

Von innen nach außen

Das unmittelbare Resultat dieser furchtbaren geistigen Kämpfe war die absolute Erschöpfung und die Unfähigkeit, für den Augenblick wenigstens, noch weiter zu kämpfen. Auf diese Weise hatte ich eine Art von Frieden, den ich für eine späte Antwort auf meine Bitten hielt, und ich fing wieder an, etwas zu hoffen. Ich war nun ganz frei, über meine Zeit zu verfügen. Die Vermögensverhältnisse, in denen wir lebten, verpflichteten uns nicht, wie die meisten unserer Freundinnen, uns im Detail mit dem Haushalt zu beschäftigen. Ich widmete den größten Teil meiner Zeit dem Lesen, der Malerei, der Musik; aber ein guter Teil davon gehörte auch den Spaziergängen und dem Aufenthalt im Freien, denn meine Liebe zur Natur hielt der Liebe zum Studium stets das Gleichgewicht. Ich durchstreifte die lieblichen Umgebungen der kleinen Residenz, bald mit den Meinen, bald allein, mit der glücklichen Freiheit, die, wenigstens damals noch, die jungen Mädchen in Deutschland, besonders in den kleinen Städten genossen, da es unerhört gewesen wäre, daß ein junges, bescheidenes Mädchen beleidigt würde, weil sie unbegleitet war. Meine Schwester fand es oft sonderbar, daß ich, wenn wir bereits unsern Morgenspaziergang gemacht hatten, mich von der leuchtenden Nachmittagssonne noch einmal unwiderstehlich in das Freie gelockt fand. Sie konnte es nicht wissen, daß ich die Natur nötig hatte, um das Gleichgewicht in mir herzustellen; daß ich mir tausenderlei Trost schöpfte aus Sonnenstrahlen, grünen Wäldern, blühenden Wiesen, weiter Fernsicht von schwellenden Höhen. Ich hätte sogar noch viel mehr von dieser Arznei der Seele, zu der mein natürliches Verlangen mich führte, haben müssen. Ich hätte auf dem Lande leben, in Garten und Feld arbeiten, mich mit Naturwissenschaften beschäftigen müssen, um noch mehr des beruhigenden Einflusses, den die Natur auf mich übte, zu genießen. Wie sehr müßten die Erzieher auf solche Instinkte, auf solche eingeborenen Bedürfnisse achten und sie zu befriedigen suchen! Wie viele Kräfte sparte man dadurch für die Zukunft!

Mein Verhältnis zu meiner jüngeren Schwester war ganz besonderer Art. Sie war nur ein Jahr jünger als ich, wir waren zusammen erzogen, ganz gleich behandelt bis in alle Einzelheiten hinein, wir hatten uns nie getrennt, die Freunde des Hauses nannten uns die »Unzertrennlichen«, wir liebten uns zärtlich. Dennoch waren unsere Naturen sich ganz entgegengesetzt. In allem, was ihr inneres Leben betraf, war sie von einer Zurückhaltung, die mir bitter weh tat. Ich wußte nichts von dem, was in ihr vorging während der Ereignisse, die so große Revolutionen in meinem Leben machten. Zu der Zeit, von der ich spreche, taten tausend Stimmen tausend Fragen in mir, auf der ganzen Leiter des Daseins. Ich bedurfte es, mein Herz in voller Freiheit zu öffnen und derselben Offenheit zu begegnen. Meine Schwester konnte im Gegenteil stundenlang ruhig mit mir wandern, ohne zu sprechen; oder sie sprach von gleichgültigen Dingen. Das quälte mich sehr und ich flüchtete mich zu meiner Freundin. Da aber war es mir vorbehalten, zum erstenmal eine Erfahrung zu machen, die sich in der Folge öfter wiederholt hat. Diese Freundin war die Veranlassung, daß man mich unbeständig in meinen Zuneigungen schalt, ein Vorwurf, den ich nicht verdiente. Ich will mich deshalb nicht rechtfertigen, nur einfach die Sache erzählen, wie sie zuging.

Die ganz besondere Stimmung, in der jener Freundschaftsbund geschlossen war, hatte nun schon einer Menge anderer Interessen Platz gemacht, ohne daß ich mir dessen noch recht bewußt war. Mein Erkennen war bereit, die Chrysalide zu verlassen, die es umsponnen hielt, und seine Flügel zu entfalten. Das Erkennen meiner Freundin blieb im Gegenteil in jenem Übergangsstadium zurück, vielleicht, weil sie nicht die Kraft hatte, darüber hinauszugehen. Ihre sentimentale Zärtlichkeit fing an, mir beschwerlich zu werden. Sie blieb beim persönlichen Gefühl stehen. Ich hätte diese Neigung nur bewahren können, wenn ich deren Gegenstand mit mir zu neuen Phasen geistiger Entwicklung, zu größerer Klarheit, zu kühneren Entdeckungen hätte fortreißen können.

In der Freundschaft und der Liebe ist es wohl wie in der Kunst. Es muß Geheimnis da sein. Das Kunstwerk, das uns nicht jedesmal, wenn wir uns darein versenken, neue Offenbarungen gibt, wird bald aufhören, uns anzuziehen. Das Wesen, dessen Seele uns nicht fortwährend neue Schätze erschließt, wird uns gleichgültiger werden. Die wahre Liebe, die wahre Freundschaft sind unzertrennlich von der unablässigen Enthüllung neuen inneren Reichtums.

Ich konnte mich nicht bei Gefühlen aufhalten, wenn meine Intelligenz neue Aufschlüsse suchte. Ich sah es, daß ich die Zärtlichkeit meiner Freundin verwundete, sie ließ mich ihre Gereiztheit, ihre Eifersucht sogar fühlen, wenn sie zu bemerken glaubte, daß ich mich mit anderen jungen Mädchen mehr unterhielt als mit ihr. Ich litt darunter, sie leiden zu machen, aber ich konnte dabei nichts ändern. Ich war noch weit davon entfernt, beruhigt zu sein in Beziehung auf die dogmatischen Fragen. Ich konnte niemals vom Sakrament des Abendmahls reden hören, ohne jenes innere Grauen vom Tage der Konfirmation wieder zu empfinden. Zum Glück beobachtete meine Familie die kirchlichen Zeremonien nicht sehr genau. Es war während langer Zeit gar nicht die Rede davon, den heiligen Akt zu wiederholen. Aber schon beschäftigten mich diese Fragen nicht mehr ausschließlich. Ich hatte mich mit Leidenschaft dem Studium der Geschichte und der Literatur hingegeben. Die Schriften zweier Frauen übten damals einen großen Einfluß auf mich aus, die Bücher Bettinas von Arnim und Rahels. Der ernste, philosophische, keusche und großartige Geist Rahels war mir sympathischer und bewegte mich tief. Aber die poetischen, zauberischen Phantasien Bettinas versetzten mich in »Sommernachtsträume«. Sie trug dazu bei, das phantastische Element, das in mir war, zu entwickeln, das ich, vom asketischen Geist des christlichen Dogmas getrieben, gewaltsam in mir hatte ersticken wollen.

Ich fand mich doch mehr denn je in einem sonderbaren Dualismus. Von der einen Seite war ich ein glückliches Wesen, mit vielfachen Kräften begabt, fähig, mir eine reiche Zukunft zu schaffen; von der anderen Seite, wenn der Zweifel und der asketische Geist wieder die Oberhand gewannen, klagte ich mich bitter eingebildeter Fehler an und verzweifelte an mir selbst.

Um diese Zeit las ich zum erstenmal »Wahrheit und Dichtung«. Goethe erwähnt in seiner Jugend ähnlicher Kämpfe und sagt, daß er sie beendigt habe, indem er die spekulative Richtung verließ und sich ganz von »innen nach außen« wandte. In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt er dasselbe: »Jedes tüchtige Streben wendet sich von innen heraus auf die Welt.« Diese wenigen Worte retteten mich. Was die Mysterien der Kirche nicht gekonnt hatten, das tat der klare, plastische hellenische Geist unseres größten Dichters. Ich beschloß, zu tun, wie er: mich aus den Abgründen des Herzens, der unfruchtbaren Spekulation, zur Betrachtung der Welt, zum Licht, das den Wissenschaften entströmt, zur nützlichen und praktischen Tätigkeit hinzuwenden.

Später verstand ich, welches die zwei poetischen Typen dieser verschiedenen Strömungen in der menschlichen Natur sind, die sich wohl, in höherem oder geringerem Grade, in jedem inhaltsvollen Leben finden: Goethes Faust und Byrons Manfred.

Meine Gesundheit war fortwährend schwankend und ich verbrachte einen Teil dieser schönsten Jugendjahre in großen Leiden. Der Gedanke eines frühzeitigen Todes war mir immer gegenwärtig und hatte nichts Erschreckendes für mich. Ich las ein Wort von Ninon de l´Enclos, die, im sechzehnten Jahr zum Sterben krank, den sie beweinenden Umstehenden sagte: »Warum weint ihr? Ich lasse ja lauter Sterbliche zurück.« – Dieses Wort gefiel mir und kam mir oft in die Erinnerung. Ich war sehr ruhig und sehr sanft geworden, erfreute mich eines großen inneren Friedens und liebte den Frieden über alles. Man hatte mir sogar in der Familie aus Scherz den Beinamen »die Versöhnung« gegeben, denn es war mir ein Bedürfnis, alle kleinen Familienzwistigkeiten zu schlichten und alle, die mich umgaben, durch Liebe und Sanftmut zu vereinen. Ich hatte einen wahren Kultus für das Familienleben. Zuweilen, wenn ich, Arm in Arm mit meiner ältesten Schwester, dem Engel meiner Kindheit, im Zimmer auf- und abging, genoß ich mit Entzücken die Empfindung der Schwesterliebe. Ich liebte meine kleinen Nichten außerordentlich und widmete ihnen viel von meiner Zeit. Aber ich liebte auch die geselligen Freuden, ohne länger gegen diese Neigung anzukämpfen. Der Tanz besonders war mir eine wahre Freude. Wenn ich nicht leidend war, gab ich mich dem Vergnügen des Tanzes hin. Meine jüngere Schwester war sehr hübsch und wurde sehr gefeiert. Zuweilen beneidete ich sie ein wenig, aber im ganzen freute ich mich, nicht schön zu sein, weil ich so der Gefahr der Eitelkeit entging. Es war keine Koketterie in meiner Natur; meine Bescheidenheit im Anzug ging oft bis zur Übertreibung, und ich wurde öfter deshalb geneckt. Aber ich fand es so verächtlich, körperliche Reize sichtbar werden zu lassen, um Bewunderung zu erzielen, daß ich noch lieber etwas lächerlich erschien. Außerdem dachte ich auch, daß nichts tadelnswerter ist, als Gefühle zu wecken, die man nicht teilen will. Kurze Zeit nach unserm Eintritt in die Welt erzeigte mir ein gebildeter Mann, in einer sehr guten gesellschaftlichen Stellung, große Aufmerksamkeiten. Ich unterhielt mich gern mit ihm, er war einer meiner gewöhnlichen Tänzer, bis einige Bemerkungen dritter Personen und sein eigenes Benehmen mich überzeugten, daß er ein ernsteres Gefühl für mich hege. Ich entfernte mich sogleich von ihm in sehr bestimmter Weise und wurde sogar kalt und stolz, als er nicht verstehen zu wollen schien. Ich zog diese Art zu handeln, obgleich sie so gegen meine Natur war, der Möglichkeit vor, jemanden über mein Gefühl zu täuschen.

Der Gedanke an die Ehe lag mir überhaupt noch fern. Diese Vereinigung zweier Wesen erschien mir wie ein anderes heiliges Mysterium. Ich fühlte, daß ich noch nicht Seelenruhe genug besaß, mich diesem Mysterium zuzuwenden, und daß das eine Offenbarung sei, die die Zukunft mir vorbehielt, wenn ich gefunden haben würde, was die Wahrheit sei. Da ich nur die ideale, poetische Seite dieses Bundes kannte, so machte ich mir davon eine ganz erhabene, schöne Vorstellung. Ich betrachtete ihn als die Vereinigung zweier Seelen in allem, was sie Höchstes und Erhabenstes in sich tragen. Das fast kindische Gefühl für den jungen Mann, von dem ich früher gesprochen, war gestorben, wie es gelebt hatte: im Schweigen; es hatte nur in der Einbildung existiert und nicht im Herzen. Außerdem war ich völlig befriedigt in meinem Familienleben, wo ich mich so geliebt wußte und so süße Pflichten zu erfüllen hatte. Ich fand mich zu jener Zeit mit meiner Mutter während mehrerer Monate allein, da meine jüngere Schwester bei meinem ältesten verheirateten Bruder in Cassel zu Besuch war. Ich hatte sehr schwache Augen, und da ich ihnen viel Arbeit zumutete, so mußte ich ihnen auch viel Ruhe gönnen. Ich hörte alsdann mit herzlichem Interesse den Erzählungen zu, die meine Mutter mir von ihrer Kindheit machte, und grub diese Erinnerungen meinem Gedächtnis ein. Sie waren nicht bloß persönlich interessant, sie hatten auch ein allgemeines Interesse, denn sie charakterisierten eine Epoche und eine ganze Generation. Meine Mutter war in einer der alten aristokratischen Familien (der Familie von Riedeesel) erzogen, die zur Zeit des deutschen Reichs niemand über sich erkannten als allein den Kaiser. Eine Würde des deutschen Reichs war erblich in der Familie. Sie übte fürstliche Rechte aus in dem Städtchen, das zu dem Schloß ihrer Vorfahren gehörte. Die Mitglieder der Familie, die das Schloß bewohnten, als meine Mutter noch ein Kind war, konnte sich eines Stammbaums ohne Flecken rühmen. Alle hatten die vornehme Bildung und Eleganz der Aristokratie des vorigen Jahrhunderts. Es gab reizende Frauen darunter, die selbst am Hofe Marie Antoinettens bewundert worden waren. Sie umgaben ihr Leben im alten Schloß mit der Eleganz und dem Luxus, die das ausschließliche Privilegium der Aristokratie gewesen waren bis zu der Zeit, wo die Fanfaren der großen französischen Revolution sie vor das Tribunal der menschlichen Gerechtigkeit riefen, um sich zu verantworten für den Mißbrauch, den sie von ihrer Stellung gemacht hatten. Diese Typen einer Welt, die im Untergehen begriffen war, hatten sich im Geiste meiner Mutter mit den Bildern einer Welt, die im Werden war, vermischt. Die Truppen der französischen Republik, und später die des Kaiserreichs, waren mehr als einmal durch den kleinen Ort gezogen, und meine Mutter hatte auf den Knieen des Marschall Soult gesessen und mit den Knöpfen seiner Uniform gespielt. Soult war der aufgezwungene Gast der vornehmen Bewohner des Schlosses gewesen. Ungeachtet ihrer Abneigung gegen den Repräsentanten einer Ordnung der Dinge, die allen ihren Traditionen widersprach, hatten sie ihn mit der Höflichkeit empfangen, die die Sitten ihrer Kaste ihnen selbst dem Feind gegenüber auferlegten. Diese verschiedenen Eindrücke hatten dem Charakter meiner Mutter die zugleich aristokratische und liberale Richtung gegeben, die sie ihr ganzes Leben hindurch behielt.

Als sie fünfzehn Jahre alt war, verbrachte sie den Winter in der Hauptstadt Cassel mit der alten Herrin des Schlosses, die sie wie ihre Tochter erzogen hatte. Da sah sie an dem Fenster des Hauses, dem ihren gegenüber, einen jungen Mann, der oft nach ihr hinübersah. Die Bekanntschaft machte sich durch Blicke, ohne daß je ein Wort gewechselt wurde. Im Frühling gingen die Damen in das alte Schloß auf das Land zurück. Den folgenden Winter kam man wieder in die Stadt in dasselbe Haus. Der junge Nachbar war noch da und schien mit Entzücken in dem schönen jungen Mädchen das liebliche Kind vom vergangenen Jahr wiederzuerkennen. Er ließ sich vorstellen, und als der Frühling kam, trennte man sich nur, um sich dann auf immer zu vereinigen. Er war einundzwanzig Jahre alt, sie sechzehn. Die alte Schloßherrin blieb die Freundin des jungen Paares, und ich erinnere mich, daß wir als Kinder oft zu ihr gingen. Es war eine alte, kleine, magere Dame, in schwere graue Seide gekleidet, mit Spitzen bedeckt, von Wohlgerüchen umgeben, von Kammerdienern und Jungfern bedient, die leise hin und her gingen. So oft wir sie besuchten, schenkte sie uns Zuckerwerk.

Indem ich den Erzählungen meiner Mutter zuhörte, dachte ich dasselbe, was George Sand später in ihren Memoiren gesagt hat, daß man in jeder Familie mit Sorgfalt die Überlieferungen der Vorfahren sammeln und eine Art von Hauschronik daraus machen sollte, die immer für die Nachkommen ein persönliches, oft sogar ein allgemeines Interesse enthalten würde . . .

Das friedliche Leben, das ich damals führte, sollte durch einen tiefen, wirklichen Schmerz gestört werden, der das Herz traf und nicht bloß die Einbildung.

Meine älteste Schwester, die ich immer noch so zärtlich liebte, wurde schwer krank, nachdem sie ihrer vierten Tochter das Leben gegeben hatte. Während drei langer Monate verzehrte sie sich in schrecklichen Leiden. Ich verbrachte meine ganze Zeit an ihrem Bett oder mit ihren kleinen Töchtern. Alle meine Gedanken gingen darauf hin, ihre Leiden zu lindern, ihr Hilfe und Trost zu sein. Aber ich sah voll Verzweiflung, daß das Ende unabweisbar nahe. Da wendete ich mich wieder zu dem unsichtbaren Retter. Während der Nächte, die ich bei ihr verbrachte, rief ich Gott an, uns zu Hilfe zu kommen und sie uns zu erhalten. Aber ich fand ihn mir weiter und weiter entrückt, in ferne unbegrenzte Regionen. Er erschien mir nicht mehr wie früher als eine Individualität: er erfüllte das Universum, er war eins mit den strengen Gesetzen, die die Welt regieren. Das Verhängnis, das über uns schwebte, zu ändern, war nicht in seiner Macht. Ich hörte eine Stimme, die, wie das Fatum der Alten, mir zurief: »Unterwirf dich!« Ich blieb stundenlang auf den Knieen liegen, das Gesicht in meine Hände verborgen, und beweinte den unersetzlichen Verlust. Wir mußten gehorchen. Anstatt des liebenden Vaters, den inbrünstiges Flehen rührt, fand ich die eherne Notwendigkeit.

Die Sterbende war seit mehreren Tagen des klaren Bewußtseins beraubt, in einem Halbschlummer, aber sie litt auch nicht mehr. Sie sprach von sanften Dingen und schien glückliche Bilder vor sich zu haben. Eines Abends kam ihr das Bewußtsein zurück; sie ließ ihre kleinen Töchter kommen und nahm Abschied von ihnen mit herzerschütternder Zärtlichkeit. Aber sie war dabei heiter verklärt, als ob sie, der Ewigkeit gewiß, die zeitliche Trennung nicht fürchtete. In der Nacht sprach sie von Engeln, die ihr winkten, und lächelte ihnen selig zu. Die Krankenwärterin verbeugte sich ehrfurchtsvoll und flüsterte mir ins Ohr: »Man erwartet sie im Himmel, sie wird bald gehn!« Gegen Morgen zog ich mich einen Augenblick zurück, um zu ruhen. Man kam mich zu rufen. Es war alles vorüber. Sie lag auf ihrem Bett, bleich, still für immer, mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen. Ich kniete an ihrem Bett nieder, ich schaute durch meine Tränen auf dies teure Antlitz und eine Stimme in mir frug: »Werden wir uns je wiedersehen?« Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen; aber die Liebe, die ich für sie gehabt hatte, rief mir zu: »Ja, du wirst sie wiedersehen!«

Meine jüngere Schwester war wenige Tage vor diesem Verlust wiedergekommen. Sie brachte neue Eindrücke und Erzählungen mit. Ich war im Gegenteil schwächer wie je, nach dieser Zeit der Leiden und Anstrengungen. Besonders waren meine Augen so angegriffen durch das Wachen und Weinen, daß ich einen Augenschirm tragen mußte und nicht arbeiten durfte. Das war eine schwere Prüfung für eine tätige Natur wie die meine, um so schwerer, als wir, der Trauer wegen, auch ganz abgeschieden von der Welt lebten. Dennoch war es gerade zu dieser Zeit, wo das Schicksal mir eine der angenehmsten Episoden meiner Jugend zuschickte. Schon im vorhergehenden Winter hatten wir ein Freundschaftsband mit Personen, die ganz außerhalb unseres Zirkels standen, geschlossen. Das Theater, von dem ich schon gesprochen habe, war nur während des Winters offen, und die Truppe spielte im Sommer an anderen Orten. Mein Schwager war Hofmarschall und zugleich Intendant des Theaters. Er hatte uns in dem Winter den neuen Musikdirektor zugeführt, der meiner Schwester und mir Klavierstunden geben sollte. Dies war ein junger Rheinländer, eine liebenswürdige, heitere, begabte Natur, wie man sie leichter in jenen glücklichen Landstrichen, als im nördlichen Deutschland findet, wo die Menschen ernster und kälter sind. Er war ein ausgezeichneter Musiker und Direktor des Orchesters, so daß er, obgleich noch sehr jung, sich bald die Achtung seiner Untergebenen erworben hatte und Orchester, Konzerte und Oper zu einer großen Vortrefflichkeit erhob. Durch ihn wurde die Musik wirklich zum Mittelpunkt unseres Lebens. Er wohnte uns gerade gegenüber, zusammen mit einem jungen Schauspieler, der auch neu engagiert war, einem wunderschönen, ernsten, tiefgebildeten Menschen, der reizend zeichnete, dichtete und ein edler, zartfühlender Charakter war. Diese beiden jungen Leute kamen oft abends zu uns. Wir studierten zusammen die Kompositionen der großen Meister, dann schrieb ein jeder von uns seine Gedanken über das analysierte Stück nieder, die Aufsätze wurden vorgelesen und die verschiedenen Meinungen diskutiert. Wir lasen auch die dramatischen Meisterwerke zusammen und besprachen die Auffassung der Rollen, die der junge Mann darzustellen hatte. Dieser Umgang, so fern von der kleinlichen Flachheit der gewöhnlichen geselligen Beziehungen, wurde uns doch sehr verdacht von der sogenannten ersten Gesellschaft der kleinen Stadt. Die Klatschereien nahmen bald ihren Anfang. Wir bekümmerten uns nicht darum, und als, nach dem Tode meiner Schwester, bei Beginn des Winters unsere Freunde wiederkamen, empfingen wir sie mit Freude. Wir lebten ganz zurückgezogen, wegen der Trauer und wegen meiner Gesundheit; wir hatten also ein doppeltes Recht, in unserer Häuslichkeit nur die aufzunehmen, deren Gegenwart uns wirklich ein Trost und eine Freude war.

Ich überließ mich dem Reiz dieses Umganges mit der ganzen Einfachheit eines freien Herzens. Geistige, ernste Beziehungen zwischen jungen Männern und jungen Mädchen, ohne Koketterie, ohne Leidenschaft, mit der Offenheit guter, einfacher Naturen, sind mir immer als eine der schönsten Gaben des Lebens erschienen. Ich hatte keine Ahnung, daß ein Gefühl anderer Art sich in diese Intimität einschleichen könne. Dennoch fand es sich, daß unser Freund, der Musikdirektor, eine tiefere Neigung für mich gefaßt hatte. Durch die Güte meiner Mutter ermuntert, hatte er den Mut, ihr davon zu sprechen. Diese, immer geneigt, das Talent und den Charakter den Vorteilen der gesellschaftlichen Stellung vorzuziehen, unternahm es, die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und die Zustimmung meines Vaters zu erbitten, wenn es meinen Wünschen entspräche. Sie machte mich auf einem einsamen Spaziergang mit den Wünschen unseres Freundes und ihrer Bereitwilligkeit zu helfen bekannt. Zu ihrem großen Erstaunen begegnete sie einem entschiedenen: Nein. Ich hatte noch dieselbe Abneigung gegen die Ehe wie früher, und ich fuhr beinahe erschreckt zurück, als meine Mutter das Wort aussprach. Nicht daß es mich erschreckt hätte, in eine einfachere Stellung als die meine hinabzusteigen. Im Gegenteil, meine Phantasie hätte eher einen Reiz in dem »Wilhelm Meister«-Leben unseres Freundes gefunden. Aber ich fühlte, daß ich nicht reif war zur Ehe, ohne mir damals Rechenschaft ablegen zu können, warum dies Gefühl recht habe. Ich hatte noch die Biegsamkeit und Empfänglichkeit derjenigen Naturen, die man als liebenswürdig zu bezeichnen gewohnt ist. Eine solche Natur, in die Form der Ehe gegossen, nimmt die Gestalt an, die eine andere Individualität ihr gibt, und bleibt demnach ein abhängiges Geschöpf, das durch die Augen eines andern sieht und nach dem Willen eines andern handelt. Oder aber, wenn sie ihr eigenes Gesetz findet, zerbricht sie jene Form, fühlt sich unglücklich in den vorzeitig übernommenen Ketten oder zerreißt sie in schmerzlichen Kämpfen.

Neben dem unbestimmten Ahnen aber, daß mein Charakter noch nicht fest genug entwickelt sei, um einen so wichtigen Schritt zu tun, sah ich auch klar ein, daß die Sympathie, die ich fühlte und freimütig zeigte, keineswegs Liebe war.

Ich hatte dieses Mal aber durchaus keine Ursache, mich stolz zurückzuziehen, wie das erste Mal. Die Anfrage war in so zarter Weise gemacht worden, daß ich mich bestrebte, durch freie Güte das Leid zu versöhnen, von dem ich die unschuldige Ursache geworden war, und eine vorübergehende Liebe in dauernde Freundschaft zu verwandeln. Ich erlebte die Befriedigung, dies vollkommen gelingen zu sehen. Die einzige Erwähnung des Vorgefallenen, die zwischen uns stattfand, war ein schönes Lied auf die Worte Goethes: »Ihr verblühet, süße Rosen, meine Liebe trug euch nicht« usw., von ihm komponiert, das er mir widmete.

Die sanfte Ruhe dieses Lebens wurde durch eine Erfahrung ganz besonders bittrer Art, auf die ich nicht gefaßt war, unterbrochen. Einer meiner Brüder, der keine besonderen Fähigkeiten für irgend einen Beruf zeigte, war zum Militär gemacht worden. Es war dies ein leider sehr verbreiteter Irrtum, den auch mein teurer Vater da beging. Mein Bruder war schön, talentvoll, hatte angenehme Manieren und ein gutes Herz; aber er war leichtsinnig, schwach und oberflächlich. Ihn dem müßigen, unnützen Leben eines Offiziers in tiefem Frieden zu weihen, hieß beinah, ihn unwiderruflich dem Verderben zuführen. Es war dies damals jedoch, wie schon gesagt, eine häufig vorkommende Tatsache, daß man junge Leute, die zu nichts anderem taugten, in die Armee steckte. Dort eigneten sie sich einen Stolz an, der auf einem falschen Prinzip beruhte, nämlich: daß der größte Stolz eines Landes seine Armee sei. Sie bildeten sich ein, daß ihre Tätigkeit, die Soldaten zu dressieren und Maschinen aus ihnen zu machen, wichtig und nützlich sei. Sie verwilderten in der Untätigkeit des Garnisonlebens in kleinen Städten und ruinierten sich durch die Rivalitäten jeder Art, die die Folge ihrer Stellung waren. Mein Bruder wurde ein trauriges Beispiel der Resultate eines solchen unnatürlichen und nutzlosen Lebens. Meine armen Eltern litten Unsägliches durch die Nachrichten, die von ihm kamen. Man tat viel für seine Rettung, aber umsonst. Ich kannte niemals die ganze Ausdehnung seiner Schuld, aber sie mußte groß sein, da mein Vater ihn endlich verstieß und seinen Namen nicht mehr hören wollte. Gezwungen, den Militärdienst zu verlassen, kam er plötzlich nach der Stadt, wo wir lebten. Er kündigte sich durch einen Brief an, der seine Reue aussprach, und bat uns, ihn nicht zu verlassen. Dieser Brief wurde nun von dem Bruder, der immer bei uns lebte, da er im Dienst des kleinen Staates war, meiner Schwester und mir gelesen. Wir verbargen vorerst vor der Mutter dieses traurige Ereignis und beschlossen, ihn insgeheim zu sehen, da wir einen Bruder nicht zurückweisen konnten, der als Flehender zu uns kam, auch wenn er durch eigene Schuld soweit gekommen war.

Es gibt Augenblicke im Leben, die ganze Tragödien enthalten, die viel pathetischer sind, als irgendeine Einbildung sie erfinden könnte. So war der Augenblick, als meine Schwester und ich abends in ein Zimmer zu ebner Erde traten und dort einen Mann vor uns stehen sahen, der uns unbekannt war und der wie ein Verbrecher zitterte. Dieser Mann war unser Bruder. Er hatte uns verlassen, als wir noch kleine Kinder waren und war uns daher völlig fremd; aber der Groll, den ich gegen ihn hegte wegen des Kummers, den er dem teuren Vater bereitet hatte, löste sich auf in ein tiefes, grenzenloses Mitleid, als ich ihn so vor mir stehen sah. Ich hätte mein Leben hingeben mögen, um ihn von dem Gefühl der Schande zu retten, die ihn erdrücken mußte, vor seinen jüngeren Schwestern gleichsam wie vor seinen Richtern zu stehen. Um ihm die Bitterkeit der Stunde zu erleichtern, zeigte ich ihm die versöhnende Neigung einer Schwester. Nachdem wir unsere Mutter vorbereitet hatten, sah auch sie ihn, und es wurde beschlossen, ihn, zu einem letzten Versuch, eine Zeitlang bei uns zu behalten, wo er sich mit agronomischen Vorstudien beschäftigen sollte, um nachher bei einem tüchtigen Landwirt zu lernen.

Es gibt wohl kaum ein peinlich traurigeres Gefühl, als das, mit einem Wesen zu leben, das uns noch dazu durch die Bande des Bluts verwandt und dessen Leben durch schwere Fehler befleckt ist. Ich habe immer mehr gelitten, wenn ich ein Kind für einen begangenen Fehler demütigen sah, als das Kind selbst, und in noch höherem Grade litt ich, wenn derselbe Fall mit Dienstboten eintrat, oft schon älteren Leuten und oft nur wegen Kleinigkeiten. Aber einen Menschen, meinesgleichen in allem und obenein mein Bruder, durch seine eigene Schuld gedemütigt vor mir zu sehen, das war eine der schmerzlichsten Prüfungen meines Lebens. Wenn ich die wahre Reue, die tiefe Trauer, die den Menschen neugeboren werden läßt, in ihm gesehen hätte, so hätte ich mich rückhaltslos der schwesterlichen Neigung hingegeben, die mich zu ihm zog. Aber ich glaubte nur zu sehr zu bemerken, daß er mehr durch die äußeren Umstände, als durch sein Gewissen gedemütigt war. Die Eitelkeit, die oft durch seine angenehmen und eleganten Manieren durchschien, stieß mich immer wieder ab. Dennoch arbeitete ich mit allem Eifer daran, in seinem Herzen die Liebe zur Tugend und zur ernsten Arbeit wieder zu erwecken.

Alles schien mich mehr und mehr an die häuslichen Pflichten zu fesseln, die das Geschick mir auferlegt hatte. Ich verlangte nichts anderes, als sie getreu erfüllen zu können. Meine Mutter, kaum von einer längeren nervösen Krankheit hergestellt, verletzte sich am Fuß und wurde so auf Monate wieder an das Lager gefesselt. Ich verließ sie nicht einen Augenblick, besuchte weder Gesellschaft noch Theater und widmete mich einzig der Pflege der Kranken. Wenn es möglich wäre, in der kindlichen Liebe zu rechnen, so würde ich sagen, daß ich zu dieser Zeit der Mutter meine Schuld bezahlte.

Die bösen Neigungen meines Bruders nahmen doch wieder überhand. Er beging einen Exzeß, den wir der Mutter verheimlichten, der mich aber aufs äußerste gegen ihn empörte, so daß ich ihm in strengster Weise darüber sprach. Er wurde böse über meine Vorwürfe, anstatt zu erkennen, daß er sie verdiene. Ich fing an, an ihm zu verzweifeln. Er wurde auf das Land geschickt, unter die Aufsicht eines strengen Mannes, um praktische Landwirtschaft zu lernen.

Zur selben Zeit entschied der Arzt, daß meine Mutter den ganzen Sommer in einem der größten Badeorte Mitteldeutschlands zubringen müsse. Vor unserer Abreise verbrachten wir noch manche frohe Stunde mit unseren Künstler-Freunden, die wir nicht wiedersehen sollten, denn sie hatten beide andere Engagements angenommen. Unser Abschied war still bewegt und freundschaftlich. Wir verdankten uns gegenseitig sehr viel, und wir hatten uns keinen Vorwurf zu machen.

Da unsere Abwesenheit von längerer Dauer sein sollte, so nahmen wir Abschied von unseren Bekannten, u. a. von unserem Religionslehrer, dem nunmehrigen Generalsuperintendenten Althaus und dessen Familie. Seit längerer Zeit waren unsere Beziehungen nicht mehr dieselben gewesen. Ich ging selten in die Kirche. Ich hatte längst bemerkt, daß das, was ich dort empfing, mich nicht mehr befriedigte. Ich suchte neue Gedanken und hörte dort nur die Vorschriften einer Moral, die ich nirgends ausgeübt sah. Anstatt in die Kirche zu gehen, schrieb ich an jedem Sonntagmorgen für mich eine Betrachtung über einen Bibeltext. Ich wollte mich nicht von der Religion entfernen, aber ich fing an, ohne es zu bemerken, mir ein philosophisches System zu bilden. Eine gewisse Entfernung von seiten meines Lehrers war die natürliche Folge. Er bedauerte es, seine eifrigste Schülerin die Praxis des Kultus verlassen zu sehen. Ich war noch nicht frei genug, ihm einzugestehen, welche Richtung meine Art zu denken nahm. Als ich ihm Lebewohl sagte, bemerkte ich die Kälte, die zwischen uns entstanden war. Dies war mir innig leid, und ich sandte ihm mein Buch mit den geschriebenen Meditationen zu, um ihm zu zeigen, daß ich nicht untätig gewesen war. Er sandte es mit einigen höflichen, kalten Worten zurück. – Aber es gab für mich kein »Rückwärts« mehr. Das Wort Goethes war wahr geworden an mir: »Von innen nach außen.«


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