Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Siebentes Kapitel

Noch ein Toter

Kurz darauf sollte ein anderer Tod uns in eine freudige Aufregung versetzen. Eines Morgens, als ich mit den Kindern bei unseren gewöhnlichen Beschäftigungen saß, hörten wir einen lauten Ausruf Herzens aus seinem Arbeitszimmer, und gleich darauf trat er in höchster Erregung zu uns herein, ein Zeitungsblatt in der Hand und rief: »Der Kaiser Nikolaus ist tot!«

Dieser letzte der europäischen völligen Autokraten starb noch in höchster Manneskraft, als er einsah, daß seine Macht sterblich sei, und daß sie ihm nur im sklavisch unterjochten Rußland unüberwindlich erschienen war, daß sie aber vor den Kräften geordneter zivilisierter Staaten weichen müsse. Es schien, als wenn sein Tod nicht nur Rußland, sondern auch Europa von einem ungeheuren Druck befreie, als wenn jetzt ein Aufatmen möglich sei, und die gebundenen Kräfte des russischen Volkes nun notwendig zur freien Äußerung und Entwicklung kommen müßten. Herzen war ganz überwältigt von Glück. Er hoffte zuversichtlich, daß der Thronfolger, schon gezwungen durch die Tradition, die den Erben gewöhnlich eine freiere Politik vorschreibt, wenn ihre Vorgänger despotisch waren, noch mehr aber durch die Lage und Stimmung, in der Rußland sich nach dem Krimkriege befand, seine Aufmerksamkeit besonders der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Einführung konstitutioneller Staatsformen zuwenden werde. Vielleicht regte sich auch im Grunde seines Herzens die Hoffnung, daß die Umstände so sich verändern könnten, um ihm die Rückkehr in das Vaterland zu ermöglichen. Er liebte dieses Vaterland immer tiefer, je mehr ihm die westeuropäischen Zustände ihre eigne innere Trostlosigkeit enthüllten und ihr versiechendes Leben zeigten. Immer fester wurde sein Glaube an die der Entwicklung fähigen Keime eines neuen Lebens in Rußland. Jedenfalls hob und begeisterte ihn dies alles so, daß er alsbald den Entschluß faßte, seiner Hoffnung einen Ausdruck zu geben. Die Monatsschrift, die einst die Teilnehmer der Revolution von 1825 herausgegeben hatten, wollte er mit demselben Titel: »Der Nordstern« (l'étoile polaire) wieder aufleben lassen. Schon als dreizehnjähriger Knabe hatte er mit seinem Freunde auf einem Hügel bei Moskau vor dem Glanz der untergehenden Sonne gelobt, jene Männer, die den Märtyrertod am Galgen starben, zu rächen. Jetzt, gerade nach dreißig Jahren, ward es ihm vergönnt, sein Gelübde zu erfüllen und jene Stimmen gleichsam aus dem Grabe wieder aufzuwecken, damit sie ihrem Volke das Ende der Knechtschaft und eine neue Ära verkünden sollten. Die Revolution von 1825 war, zum erstenmal in Rußland, von den gebildetsten und edelsten Leuten des Landes ausgegangen, während alle früheren Erhebungen, wie z. B. die Pugatscheffs, durch das wilde, regellose Volkselement hervorgerufen waren. Die Verschwörer, die Blüte der russischen Gesellschaft, meist Offiziere, mußten den Versuch teils am Galgen, teils in den Bergwerken von Sibirien büßen. Sie hatten der freisinnigen russischen Jugend als ein Vorbild vorgeleuchtet. Es war eine tiefe Genugtuung für Herzen, jetzt beim Tode dessen, der jene dem Tode geweiht hatte, die Erinnerung an sie zu feiern, indem er den Nordstern wieder aufgehen ließ über Rußland, um es einzuladen, die Bahn, die jene betreten hatten, weiter zu verfolgen. Eine Medaille, die die Profile der fünf Anführer der Revolution darstellte, die gehängt wurden, diente als Vorbild für die Vignette der neuen Monatsschrift.

Die Entwerfung dieses Planes beschäftigte Herzen den ganzen Morgen; am Nachmittag kamen mehrere Bekannte aus London, um ihm für Rußland Glück zu wünschen. Wir waren alle in ausgelassen heiterer Stimmung. Der Garten lief längs der Themse hin, von der er nur durch einen schmalen, sandigen Uferrand, auf dem Kinder aus dem Dorfe spielten, geschieden war. Herzen trat an die Hecke und warf den Kindern Geld hinunter, indem er ihnen zurief, Hurra, den englischen Freudenruf, hören zu lassen. Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und fingen ein Freudengeschrei an, sämtliche Gäste wurden von der Aufregung ergriffen und warfen hinunter, was ihre Taschen an kleinen Münzen enthielten, was dann natürlich den Jubel unten bis zu solcher Raserei steigerte, daß wir endlich für gut fanden, durch unseren Rückzug dem ein Ende zu machen.

Ich freute mich sehr, als Herzen sich, auf Grund der nun mit Bestimmtheit in ihm aufblühenden Hoffnungen für Rußland, geneigt erklärte, in einem internationalen Meeting, das zur Feier der Februarrevolution von 48 veranstaltet wurde, sprechen zu wollen. Es erschien mir schön, daß ein so glühender Patriot öffentlich sich darüber aussprechen würde, daß er die Niederlage der russischen Waffen als ein wünschenswertestes Ereignis betrachtete, weil der Krieg ein ungerechter und eine Sache des Absolutismus war. Sonderbarerweise war Herzen, der im persönlichen Verkehr der freieste Mensch war, den man sehen konnte, und dem im Gespräch und in der Diskussion das Wort so zu Gebot stand wie wenigen, nicht imstande, öffentlich zu sprechen. Er sagte öfter, daß er es nie gekonnt, und er ging auch jetzt auf den Vorschlag nur ein, wenn er seine Rede ablesen dürfe, was ihm natürlich zugestanden wurde. Es ging ihm darin wie Mazzini, der auch niemals öffentlich sprach, weil ihn eine gewisse Schüchternheit übermannte, die ihm in der Privatdiskussion ganz fremd war. – Wir fuhren an dem für das Meeting bestimmten Abend in die Stadt; die große Halle, in der es gehalten wurde, war gedrängt voll. Ernest Jones, der zur Chartistenpartei gehört hatte und seit deren Auflösung das Haupt der radikalen Arbeiterpartei war, war chairman. Um ihn herum auf der Tribüne saßen die Mitglieder des Komitees, meist Polen und Engländer und die Redner des Abends. Auch Herzen begab sich dorthin, sein Sohn und ich waren unter den Zuhörern. Der Zweck des Meetings war: die Sympathien des englischen Volkes für die polnische Sache zu einer energischen Demonstration aufzurufen. Den nie ersterbenden Hoffnungen der Polen erschien der Augenblick, wo Rußland von den vereinigten Mächten auf seinem eigenen Gebiet hart bedrängt war, günstig, das verhaßte Joch abzuschütteln. Immer als Bittende am Fuß der europäischen Throne, insbesondere des französischen, stehend, mit sehnsuchtsvollem Blick nach jeder geeigneten Stunde ausspähend, wo glücklichere Völker ihnen die rettende Bruderhand reichen würden, hatten die Polen noch nicht gelernt, einzusehen, daß bei den Franzosen die polenfreundliche Gesinnung zum Teil revolutionäre Phrase, zum Teil vielleicht politische Maßregel war, als eine stets im Hintergrund aufgestellte indirekte Drohung gegen Rußland. Daß sie sich aber schwerlich in eine andere Tat verwandeln würde als das Asylrecht und die materielle Unterstützung der in Frankreich lebenden Polen, wollten sie nicht begreifen. – Ebensowenig verstanden sie, daß bei den Engländern die ungehinderte lange Übung der politischen Freiheit die seltsame Erscheinung zu Tage gebracht hatte, daß, wenn die wirklichen warmen Sympathien des Volkes im Meeting einen öffentlichen energischen Ausdruck gefunden hatten, das Volk, durch die legale Ausübung seiner politischen Vereinigungs- und Rede-Freiheit beruhigt, sich zurückzog und die Dinge ihren Gang gehen ließ. Als der chairman die überraschende Nachricht verkündigte, daß in einem den polnischen Interessen geweihten Meeting ein Russe das Wort ergreifen wolle, jetzt, wo Rußland, der Unterdrücker der polnischen Freiheit, im Kampf mit England begriffen sei, erhob sich ein nicht endenwollender Jubel. Herzen bestieg die Tribüne und wurde enthusiastisch empfangen. Seine Rede wurde oft durch die lebhaftesten Beifallsrufe unterbrochen. Als er geendet hatte, wollte die jubelnde Anerkennung seiner edlen gerechten Anschauung gar kein Ende finden. Die Polen umringten ihn, um ihm die Hand zu drücken, und eine polnische Dame überreichte ihm einen Blumenstrauß. Er trat noch einmal vor, um dem Publikum dieses Symbol der Versöhnung zwischen den Bruderstämmen, die der Despotismus von oben trenne, zu zeigen. Das Publikum jauchzte Beifall. Nach Herzen sprachen mehrere Polen und Engländer. Beim Weggehen umringte uns eine Menge von teilnehmenden Bekannten und Freunden. Saffi fuhr mit uns nach Twickenham hinaus, um die Nacht und den folgenden Tag dort zuzubringen. Es war mitten in der Nacht, als wir ankamen. Wir blieben noch eine Weile beim Abendessen in ernst bewegten Gesprächen beieinander. Endlich brachen wir auf und ich ging in mein Schlafzimmer, wo auch die Kinder schliefen. Welch ein Schreck überfiel mich hier, als mir die ängstlichen Hustentöne von dem Lager entgegentönten, auf dem die kleine Olga schlief. Ich erkannte sogleich ihre gefährliche Bedeutung und stürmte hinunter, wo Herzen und Saffi noch beisammensaßen, die mir hastig nach oben folgten, und bestätigten, daß dies ein Croupanfall sei. Saffi rannte fort, um den Arzt des kleinen Ortes herbeizuholen, da der Hausarzt in London wohnte, mithin Stunden vergangen sein würden, bis man ihn herbeigeschafft hätte. Der Arzt kam und verordnete die nötigen Mittel, unter anderem ein heißes Fußbad. Ich hielt während dessen das Kind auf meinem Schoß und behielt es so während des übrigen Teils der Nacht, da im Liegen die Hustenanfälle beschwerlicher waren. Der gute Saffi saß uns zu Füßen und hielt ein Händchen des Kindes in seiner Hand; Herzen blieb natürlich auch, und so verbrachten wir den Rest der Nacht, weitab von der politischen Aufregung, in der wir uns am Anfang befunden, zuweilen nur leise zusammen flüsternd, meist schweigend und doch verständnisvoll miteinander des dunklen Mysteriums denkend, das uns in jedem Augenblick des Lebens umschwebt, und oft, wenn wir es am wenigsten erwarten, den Faden abreißt, aus dem unsere teuersten Bande gewebt sind. –

Als der Morgen tagte, sahen wir, daß das Kind außer Gefahr war, und schieden, indem wir uns schweigend die Hand reichten; tags darauf sagte ich Domengé, indem ich ihm die überstandene Gefahr erzählte: ich glaubte mich gewaffnet und fest gegen alle Schläge des Schicksals, ich dachte, ich hätte die schwersten Prüfungen überstanden und wäre gefeit; aber eine Prüfung gibt es, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie bestehen würde, das wäre der Tod dieses Kindes. So tief hatte alles, was das Heiligste der Mutterliebe ausmacht, sich in mir entwickelt und auf dies Kind konzentriert. Daß die Mutter das Kind, das sie geboren hat, liebt und pflegt, das teilt sie mit dem Tiere, das ebenso zärtlich für seine Jungen sorgt. Was aber den höheren Inhalt der Mutterliebe ausmacht: die heiße Sorge um das geistige Leben, den Charakter, die volle Entwicklung aller Fähigkeiten, die Sehnsucht, in dem jungen Leben die eigene Unsterblichkeit zu erleben, das, was als Ideal in uns gewohnt hat, zu neuer Blüte hinüberzuretten in die Jugend der Erscheinung; dieses Hüten der jungen Seele, über der man noch eifersüchtiger wacht als über der eignen, um sie vor geistigem und moralischem Unheil zu bewahren, um sie in keuscher, unverletzter Schönheit der Sonne der Erkenntnis und des Bewußtseins zu erschließen – all dieses erlebte und empfand ich in mir, in Beziehung auf dies schöne, liebenswürdige Kind. Ich fand darin einen neuen Beweis dafür, daß jenes Empfinden, das man meist bei der Frau nur für die Kinder, die sie unter dem Herzen getragen hat, voraussetzt, im allgemeinen ein wesentlicher Bestandteil der weiblichen Natur ist, der die Frauen, auch wenn sie nicht selbst Gattin und Mutter werden, ganz vorzüglich auf die Pflege und Erziehung der Kindheit hinweist, und zwischen Erzieherin und Zögling oft ebenso feste, durch die heiligste Liebe geknüpfte Bande hervorbringt, als zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind. Nur müßte freilich dieses mütterliche Element nicht verdorren im öden Gouvernantentum; nur müßten die Erziehungsanstalten, die von Frauen geleitet werden, nicht Dressur-Anstalten, sondern wahre Mutterhäuser sein; nur müßten in den edelsten Verhältnissen der Art die Rechte der Mutter auch auf die, die im höchsten Sinn in ihre Stelle getreten ist, übergehn.

Leider mußten wir im Frühjahr das schöne Haus verlassen, in dem uns so glückliche Tage voll inneren Friedens, freudiger Tätigkeit und schöner Resultate geblüht hatten. Wie von banger Ahnung erfüllt, sagte ich zu Herzen, als wir die Schwelle zum letztenmal überschritten: »Wie ängstlich das Herz doch bei vorrückendem Alter und nach vielen Schicksalsschlägen wird! Während die Jugend in jeder schönen Zeit nur die Bürgschaft für endlose, schönere Zeiten sieht, fühlt man, wenn man älter wird, nach jedem schönen Abschluß den bangen Zweifel, ob es noch je wieder so gut werden könne, und ob nicht das Schicksal schon gewaffnet vor der Tür stehe, um einen neuen, unerwarteten Streich zu führen.«

»Nun, Sie sehen wenigstens, daß es gut ist, daß Sie geblieben sind und sich nicht durch die vielen Schwierigkeiten haben abschrecken lassen,« erwiderte Herzen; »jene russische Dame kann nicht kommen, hat sich verheiratet und hat nun ihren eignen Herd (er hatte diese Nachricht kürzlich bekommen). Ein verheiratetes Paar hat seine Welt für sich und kann sich nicht noch mit einem andern Familienleben befassen. Bleiben und arbeiten wir zusammen weiter und suchen wir so dem Einfluß böser Geister zu wehren.«

Wir blieben jedoch noch auf dem Lande, in dem uns liebgewordenen Richmond. In große Aufregung versetzte mich die Nachricht, daß für die dermalige Londoner Saison Richard Wagner als Dirigent der Konzerte der New Philharmonie Society aus Zürich, wo er im Exil lebte, berufen sei. Ich habe schon früher erwähnt, daß ich noch in Deutschland seine Bücher: »Das Kunstwerk der Zukunft«, »Kunst und Revolution« sowie »Oper und Drama« gelesen hatte, und daß der tiefe Eindruck, den ich durch sie empfangen, mich bewogen hatte, an den mir persönlich Unbekannten zu schreiben. Später waren mir auch die Texte des Tannhäuser, des Lohengrin und des Rings des Nibelungen bekannt geworden. Wie oft hatte ich schon in frühester Jugend, als die leidenschaftliche Neigung für das Theater mich sogar zu dem Wunsche begeisterte, selbst Künstlerin zu werden, um das Ideale unmittelbar, gleichsam mit mir identifiziert, darstellen zu können, darüber nachgedacht, welch wichtiges Bildungsmittel das Theater sein müßte, wenn die Kunst in ihm zu einem Kultus erhoben, wenn sie Religion würde und ihre Jünger Priester, die die Aufgabe hätten, die ideale Weihe, die sie in sich fühlten, auszudrücken und den Zuschauern mitzuteilen. Je mehr mir die Kirche mit ihrer orthodoxen Moral zu einer öden, jedem lebendigen Quell heiligender, poetisch verklärender Begeisterung fremden Stätte geworden war, je mehr war mir die Bedeutung des Theaters gewachsen. Ich hatte nicht angestanden, ihm in meinen Gedanken die erste Stelle unter den wahren Bildungs- und Veredlungsstätten eines Volkes anzuweisen. Es erschien mir als das edelste Ergebnis der Kultur, wo sich der Genius, dieser Gesamtausdruck alles Höchsten, was die Natur in einem Volk gemeint hat, und die Menge, wie Geber und Empfänger zueinander verhalten und die letztere ihr erhabenstes Fühlen und Denken in dem erkennt, was der erstere ihr reicht. Später, von der politischen Strömung und dem Mitleid mit dem tiefen sozialen Elend fortgerissen, war mir jenes schöne Ideal in weite Ferne entrückt worden. Ich glaubte fest an die wahre Vollendung und Erlösung des Lebens durch die Kunst. Aber mir schien es, als müsse noch eine lange, schwere Arbeit vorangehen, gleichsam die Urbarmachung des harten Erdreichs, ehe diese höchste Blüte entkeimen könne. In den Schriften Wagners hatte ich die vollendete Theorie dessen, was ich in unbestimmten Zügen empfunden und geahnt hatte, gefunden. Wenn ich von der Bedeutung des musikalischen Dramas auf das innigste durchdrungen und ergriffen wurde, so war mir durch jene wundervollen Texte ein Vorgefühl dessen geworden, was das höchste tragische Kunstwerk auf dem Hintergrunde der verklärenden Musik für eine, alles andere weit übersteigende und das Leben veredelnde Wirkung haben müsse. Der Wunsch, etwas von jener Musik hören zu können, war für mich zur brennenden Sehnsucht geworden, zu deren Erfüllung aber auch nicht die leiseste Aussicht vorhanden schien. Wie sehr mußte mich nun die Nachricht erregen, daß der Verfasser jener bedeutungsvollen Bücher, der Schöpfer jener poesieerfüllten Texte, nach London käme. Ich hörte von seinem Eintreffen durch meine ehemalige Hausgenossin, die junge deutsche Musikerin, und beneidete sie, daß sie ihn mehreremal im Hause einer ihr befreundeten Familie gesehen hatte. Mir war es nicht leicht, auch nur einmal zu den Konzerten in die Stadt zu kommen, da bei den Londoner späten Stunden sie bis tief in die Nacht dauerten und mir alsdann die Rückkehr auf das Land unmöglich war. Ich mußte also suchen, die Nacht über in der Stadt bleiben zu können, und ruhte nicht, bis ich dies eingerichtet hatte. Was ich in dem Konzerte, dem ich beiwohnte, erlebte, war der Art, daß ich mich nur eines ähnlichen Eindrucks durch musikalische Leistungen erinnerte, nämlich, als ich einst in meiner Jugend die Schröder-Devrient gehört hatte. Durch jene unvergleichliche Künstlerin wurde mir die erste wirkliche Offenbarung über das Wesen der dramatischen Kunst. Sie weckte eine grenzenlose Begeisterung in mir durch Darstellungen, die mich sonst wenig angezogen hatten, wie z. B. die des Romeo in der Bellinischen Oper, wo ihr alles verklärender künstlerischer Genius das süße Melodiengetändel der italienischen Musik mit heroischem Feuer und namenloser Poesie adelte und zum tragischen Kunstwerk erhob. Diese selbe Offenbarung wurde mir nun in jenem Konzert durch eine Orchesteraufführung, die mir wie zum erstenmal die geheimnisvolle Sprache der Tonwelt aufzuschließen schien, und mir längst Gekanntes und Vertrautes wie eine neue, nun erst im rechten Licht erkannte Gabe überlieferte. Ganz besonders war dies der Fall mit der Ouvertüre zum Freischütz. Eine leidenschaftliche Verehrerin Webers, hatte ich alle seine Opern unendlich oft, den Freischütz aber sozusagen von Kindheit auf gehört und wußte ihn beinahe auswendig. Nun war es mir, als hörte ich das poetische Tongemälde der Ouvertüre zum erstenmal, und es ward mir plötzlich klar, daß ich sie jetzt erst höre, wie sie gehört werden müsse. Die ganze Waldsage mit ihrem Zauber, ihrem Schrecken und ihrer süßen Unschuld und Poesie stand wie verklärt vor meinem Blick. Die Persönlichkeit des Dirigenten kam so wenig wie beim Lesen seiner Bücher bei diesem Eindruck in Betracht. Ich saß zu fern, um mir von ihr einen rechten Begriff machen zu können; nur hatte ich die Empfindung, als flöße sichtbar von seinem Taktstock eine Harmoniewelle über das Orchester hin und mache die Musiker gleichsam unbewußt in einer höheren Weise spielen, als sie es bis jetzt je vermocht hatten. Unter allem, was ich im konzertreichen England bis jetzt gehört hatte, stand dies Konzert einzig da.

Man kann sich denken, mit welcher Freude ich einige Zeit darauf eine Einladung von Anna annahm, um einen Abend mit Wagner, der ihnen zugesagt hatte, bei ihnen zuzubringen. Nichts anderes war imstande, mich zum zweitenmal für zwei Tage und eine Nacht, von meinen geliebten Kindern zu trennen, von denen fern ich eigentlich immer ein tiefes Unbehagen und eine quälende Unruhe empfand. Aber diese lange gewünschte Begegnung konnte ich mir nicht versagen. Die sehr zurückhaltende, kühle Weise, in der Wagner unser aller warmes Entgegenkommen aufnahm, befremdete mich im ersten Augenblick etwas. Dann aber erklärte ich sie mir ganz natürlich aus der uns unumwunden ausgesprochenen, unbefriedigten Stimmung, in die ihn der ihm unsympathische englische Aufenthalt versetzte. In der Tat hatte sich auch zwischen ihm und der englischen, vom Mendelssohn-Kultus durchdrungenen Gesellschaft von vornherein ein Antagonismus festgestellt, der in den musikalischen Berichten und Kritiken der Saison zu Absurditäten wie die folgende Anlaß gab, daß man unmöglich das Rechte von einem Dirigenten erwarten könne, der sogar Beethovensche Symphonien auswendig dirigiere. Nur kurz wurde indes des unbefriedigenden musikalischen Treibens gedacht. Fast von vornherein wandte sich das Gespräch auf die Werke eines Philosophen, dessen Name ganz plötzlich wie ein strahlendes Gestirn aus der Vergessenheit, in der man ihn mehr als ein Vierteljahrhundert gelassen hatte, heraufgestiegen war. Dieser Philosoph war Arthur Schopenhauer. Wohl erinnerte ich mich, in früher Jugend bei einem längeren Aufenthalt in Frankfurt am Main öfters einen kleinen Mann in einem grauen Mantel mit mehreren Kragen, damals Chenille genannt, gesehen zu haben, der am Mainquai, von einem Pudel gefolgt, zur bestimmten Stunde seinen täglichen Spaziergang machte. Ebenso erinnerte ich mich, daß man mir gesagt hatte, dieser Mann sei Arthur Schopenhauer, der Sohn der Schriftstellerin gleichen Namens, und er sei ein völliger Narr. Besonders pflegte ein Bekannter von uns, damals Senator der freien Stadt Frankfurt, ein sehr angesehener Mann, der täglich mit jenem an der table d'hôte zu Mittag aß, über ihn zu spotten und Anekdoten zum Beweise seiner Narrheit aufzutischen. Nachher hatte ich nie wieder von ihm gehört, bis nun seit einiger Zeit wiederholt von Deutschland die Kunde herübergekommen war, daß jenes Mannes Werke, obgleich längst veröffentlicht, jetzt erst gelesen würden und er von einigen als der größte Philosoph nach Kant bezeichnet, von anderen aber noch weit über diesen gestellt werde. Ich weiß nicht, auf welche Weise Friedrich erfahren hatte, daß auch Wagner diese letzte Ansicht teile. Er brachte das Gespräch auf Schopenhauer und bat Wagner um eine Auseinandersetzung der Grundgedanken der Schopenhauerschen Philosophie, die er auch noch nicht kannte. In dem darauf folgenden Gespräch traf mich mit besonderer Macht der Ausdruck »die Verneinung des Willens zum Leben«, welchen Satz Wagner für das Endresultat der Schopenhauerschen Weltanschauung erklärte. Gewohnt, den Willen als die Kraft der sittlichen Selbstbestimmung anzusehen, obgleich ich nie ganz in meinem Denken den Widerspruch zwischen dessen offenbarem Gebundensein und seiner vom christlichen Dogma erklärten Freiheit hätte lösen können – war mir dieser Satz, als höchste ethische Aufgabe der Menschheit, ganz unverständlich. Hatte ich doch gerade die Richtung des Willens auf unausgesetzte sittliche Vervollkommnung und Tat als das letzte Ziel des Daseins angesehen. Doch klang dieser Satz in mir nach wie ein Etwas, vor dem ich nicht als Rätsel stehen bleiben dürfe und dessen Verständnis in mir vorbereitet liege. Er zog mich an, als ob er der Schlüssel sein müßte zu der Pforte, hinter der das Licht der letzten Erkenntnis, zu der mich ahnungsvoll mein Leben geführt hatte, mir scheinen werde. Der Abend verlief, ohne daß sich ein wärmerer Ton zwischen Wagner und uns hergestellt hätte. Ich fühlte ein Unbefriedigtsein von dieser Begegnung, das mich um so schmerzlicher traf, als ich dem Verfasser jener Schriften, dem Dirigenten jenes Konzertes, mit so warmer Begeisterung entgegengegangen war. Um es nicht bei diesem Eindruck bewenden zu lassen, schrieb ich nach einiger Zeit ein paar Worte an Wagner und lud ihn ein, nach Richmond hinauszukommen, da auch Herzen sich freuen würde, ihn kennen zu lernen. Leider erhielt ich eine abschlägige Antwort, die seine nahe Abreise und die ihr vorhergehenden Beschäftigungen als Grund angab.

Eine betrübende Erfahrung hatten wir wieder in unserem engeren Kreise zu machen. E . . ., dessen gereiztes Wesen stets nach neuen Vorwänden griff, um sich in heftigen Angriffen bald hier-, bald dorthin zu entladen, war von der übelsten Laune, die sich diesmal gegen Herzen selbst wendete. Schon im Anfang des Krimkrieges hatte er eine Erfindung gemacht, von der er sich ungeheuren Erfolg versprach. Er hatte einen Plan ausgedacht, um vermittelst kleiner Luftballons, die in einer mäßigen Höhe in der Luft zerplatzen mußten, revolutionäre Flugblätter, die ihnen entfallen sollten, über ganz Rußland zu verbreiten und dadurch die Landbevölkerung zum Aufstand gegen die despotische Regierung zu vermögen. Ich erinnere mich nicht mehr, auf welche Weise er die Luftballons nach Rußland hineinbringen und daselbst aufsteigen lassen wollte. Ich weiß nur noch, daß er ganz erfüllt war von diesem Plan und den Moment für sehr geeignet hielt, da der Krieg, der dem Landvolk seine Söhne und Ernährer raubte, bei diesem sehr unbeliebt war. Zudem rechnete er auf dessen abergläubische Gesinnung, die diese gleichsam vom Himmel fallenden Aufforderungen zu einer Art von religiösem Fanatismus steigern würde. Die Erfindung schien ihm so wichtig, der Erfolg so zweifellos, daß er alles in Bewegung setzte, um die Sache zu verwirklichen. Herzen war ihm zu lau und skeptisch seiner Idee gegenüber. Er wandte sich daher durch einen Mittelsmann an den Kaiser Napoleon, den er für fähig hielt, die Wichtigkeit eines solchen Mittels einzusehen und alles dazu Nötige herzugeben. Allein auch diese Voraussetzung schlug fehl; er erhielt von Paris eine ablehnende Antwort. Ihm selbst fehlten die Mittel, die Sache in das Werk zu setzen, er sah seinen geträumten Erfolg scheitern und empfand darüber einen tiefen Mißmut. Dieser wandte sich in immer steigendem Maße gegen Herzen, da er es ihm als Schuld anrechnete, dies Werkzeug zur Bekämpfung des russischen Despotismus nicht angewandt zu haben. Herzen hatte ihm vergebens mehrere Male auseinandergesetzt, daß er in dem Augenblick gar keine Erhebung in Rußland wünschen könne, da sie nur zu blutigen Repressalien, vielleicht sogar zum Einschreiten der Alliierten führen könne, jedenfalls aber den infolge der Niederlage des Gouvernements zu hoffenden inneren Reformen Einhalt tun würde. Er war der Ansicht, daß man augenblicklich nichts zu tun habe, als das Ende des Krieges und die sich daran knüpfenden Folgen abzuwarten. Zu dieser ersten Verstimmung E . . . s gesellte sich eine zweite: literarische Eifersucht. Herzen hatte gerade den Besuch eines Russen, des ersten der alten Moskauer Freunde, dem es möglich gewesen war, herauszukommen und ihn, wenn auch im strengsten Inkognito, aufzusuchen. Er brachte auch eine Menge kleiner Gegenstände, werte Erinnerungen vergangener Zeiten aus dem zurückgelassenen Eigentum Herzens mit. Alles dies war für Herzen eine unendlich große, wenngleich wehmütige Freude. Besonders aber beglückten ihn die Erzählungen von dem unerhörten Erfolg, den seine importierten Schriften in Rußland hätten. Der Freund erzählte, daß ein Bekannter ihn eines Nachts aus dem Schlaf geweckt habe, um ihm unter vier Augen eine Neuigkeit von der höchsten Wichtigkeit zu verkünden: die Ankunft eines Exemplars der ersten in London gedruckten Herzenschen Schrift. Man hatte sich sogleich hingesetzt, um sie noch in derselben Nacht durchzulesen; dann war sie heimlich von Hand zu Hand gegangen, ja, man hatte sie abgeschrieben, da man nicht hoffen durfte, viele Exemplare zu bekommen. Jedes fernere Produkt der freien Londoner Presse hatte man mit immer steigendem Enthusiasmus begrüßt. Herzens Name war auf das Banner geschrieben worden, unter dem sich alle Hoffnungen und Bestrebungen der russischen Fortschrittspartei sammelten. So war denn auch der erste Teil der neuen Vierteljahrsschrift »l'étoile polaire« mit der Vignette der fünf Märtyrer mit Entzücken aufgenommen worden. Die größte Anerkennung aber hatte darin den Beiträgen Herzens gegolten, während ein sehr geistvoller, radikaler, aber etwas unbehilflich geschriebener Artikel E . . . s weniger beachtet worden war. Dies vollendete dessen Unmut. Herzen klagte mir mehreremal, daß der Umgang mit E . . . fast unmöglich werde wegen der aggressiven Stimmung, in der sich dieser fortwährend befinde. Eines Morgens nun, während ich mit Natalie zusammensaß und las, kam E . . ., rannte im Zimmer umher, in der größten Aufregung, indem er die bittersten Ausfälle gegen Herzen machte, und gebärdete sich wie ein Unsinniger. Ich rief ihn anfangs freundlich, dann immer ernster zur Ordnung und bat ihn, zu bedenken, daß er vor Herzens Tochter rede. Aber er war nicht aufzuhalten in seinem blinden Zorn. Plötzlich blieb er uns gegenüber an dem Tisch, an dem wir saßen, stehen, zog einen kleinen Revolver aus der Tasche und sagte, indem er ihn, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf uns richtete: »Sehen Sie, dieser Revolver ist immer geladen, und ich trage ihn immer bei mir, wer weiß, was einmal passiert, wenn der Zorn mich übermannt.« Natalie war sehr erschrocken, ich blieb ruhig, sah ihn fest an und sagte: »Zuerst stecken Sie die Waffe ein, damit kein Unglück passiert, das Sie sich ewig vorwerfen müßten, und dann gehen Sie nach Haus und beruhigen Sie sich. Ich werde später kommen und mit Ihnen sprechen.« Meine Ruhe ernüchterte ihn etwas, und er ging. Ich beruhigte Natalie und bat sie, ihrem Vater einstweilen nichts zu sagen, dann überlegte ich, was zu tun sei. Daß rasch gehandelt werden müsse, war mir klar, denn wenn Herzen von dem Vorgefallenen gehört hätte, so würde ihn das so sehr empört haben, daß ein Konflikt unvermeidlich geworden wäre. Das Würdigste schien mir, E . . . augenblicklich zu einem völligen Abbrechen des Umgangs zu bewegen, um dadurch die Möglichkeit jedes persönlichen Zusammenstoßes zu vermeiden, da auf eine Ausgleichung und Besänftigung eines so gereizten Gemütszustandes vorerst nicht zu hoffen war. Geschah dies mit Anstand, so konnte ja später, bei ruhigerer Stimmung, auch wieder angeknüpft werden, wenn mir gleich eine Freundschaft kaum noch von großem Wert erschien, die solch krankhaften Regungen zur Beute werden konnte. Infolge dieser Überlegung schrieb ich einen klaren, verständigen Brief an E . . ., worin ich ihn an alle Gespräche, die wir über unsere Grundsätze geführt hatten, erinnerte, und ihn aufforderte, zu bedenken, daß für Menschen von unserer Gesinnung der Revolver wahrlich kein Mittel sei, tief innere Gegensätze und Verstimmungen zu lösen, sondern daß, wenn eine Verständigung und ehrliche Ausgleichung unmöglich schiene, nur ein Weg bleibe: sich still und würdevoll zu trennen und mit Achtung des Gewesenen den Weg, der einem jeden der rechte scheine, weiter zu gehen. Ich versicherte ihm, daß es mir persönlich sehr leid tue, da ich eine aufrichtige Freundschaft für ihn gehabt hätte, daß ich in diesem Falle aber doch Partei ergreifen und auf seinen Umgang verzichten müsse, weil ich dies meiner Freundschaft für Herzen und die Seinen schuldig sei. Ich bat ihn, das Beispiel einer wenn auch schmerzlichen, doch einzig würdigen Lösung solcher unheilbaren inneren Konflikte zu geben und so uns die Zukunft vielleicht offen zu erhalten. Ich sandte ihm den Brief, noch ehe Herzen, der gerade in London war, eine Ahnung davon hatte, und erhielt sogleich eine Antwort, die, mit dem Ausdruck innigster persönlicher Achtung, zugleich eine völlige Zustimmung zu meinem Vorschlag und eine bestimmte Versicherung enthielt, fortan jeden Anlaß zu einem Konflikt vermeiden zu wollen. Als Herzen abends nach Hause kam, erzählte ich ihm die Geschichte und zeigte ihm die Briefe. Er war auch bewegt davon wie ich, dankte mir aber auch für meine Intervention, die er als eine Tat wahrer Freundschaft bezeichnete. Somit verschwand diese eigentümliche, höchst begabte, aber unglücklich krankhafte Persönlichkeit aus unserem Leben, um nie wieder darin zu erscheinen. Wenn der eigensinnige Groll, der ihn nun fern hielt, auch vielleicht mit der Zeit verschwunden wäre, so kam doch der Tod dem zuvor. Er zerstörte das arme, entstellte Gefäß einer groß angelegten Natur, die in ihren Gebrechen eine furchtbare Illustration zu dem Elend lieferte, zu dem eine unsinnige despotische Regierung auf Generationen hin ein Volk verdammen kann – ein Elend, das Lermontoff in folgenden bitteren Worten schildert: »Ich sehe unser Geschlecht mit Kummer an; seine Zukunft ist leer und dunkel, es wird in Untätigkeit altern, es wird unter der Wucht des Zweifels und einer unfruchtbaren Wissenschaft zusammensinken. – Das Leben ermüdet uns wie eine lange Reise, die keinen Zweck hat. Wir gleichen jenen frühreifen Früchten, die sich seltsamerweise zuweilen schon bei den Blüten finden; sie erfreuen weder das Auge noch den Geschmack und fallen im Augenblicke der Reife ab. – Wir eilen zum Grabe, ohne das Glück, ohne den Ruhm gekannt zu haben, und ehe wir niedersinken, werfen wir einen Blick voll bitterer Verachtung auf die Vergangenheit. – Wir werden unbemerkt über die Erde gehen: eine düstere, schweigende, bald vergessene Menge. – Wir werden unseren Nachkommen nichts hinterlassen, weder einen fruchtbaren Gedanken noch irgend ein Werk des Genius. Sie werden unsere Asche verhöhnen mit einem verächtlichen Gedicht oder mit dem Sarkasmus, mit dem ein ruinierter Sohn seinen ausschweifenden Vater anredet.« Mit derselben Empfindung hat Leopardi, dessen kurze schmerzerfüllte Lebenszeit in die Zeit der tiefen Knechtschaft Italiens fiel, ehe auch nur das fernste Morgengrauen einen neuen schöneren Tag verkündete, diesem hoffnungslosen Schmerz Worte gegeben:

»Jetzt wirst du ruhen für immer, mein müdes Herz. Der ungeheure Irrtum, daß ich mich ewig wähnte, verging. Er verging: Wohl fühl ich, daß nicht nur die Hoffnung, nein, daß selbst der Wunsch der süßen Täuschungen erstorben ist. Ruhe für immer, du schlugst genug. Deine Erregungen helfen zu nichts, auch ist die Erde keines Seufzens wert. Bitter und langweilig ist das Leben, nichts anderes, und die Welt ist Kot. Beruhige dich nun. Verzweifle zum letztenmal. Unserem Geschlecht gab das Schicksal nichts als das Sterben. Verachte dich selbst, die Natur, die häßliche Macht, die im Verborgenen zum allgemeinen Schaden herrscht, und die unendliche Eitelkeit des Ganzen.«

Ach! und Leopardi und Lermontoff waren unter den Edelsten ihres Volkes, Lieblinge der Natur, an der Wiege mit allen Gaben des Geistes und der Poesie ausgestattet!

Ebenso war E . . . eine seltene Intelligenz! Vor welchem Richterstuhle müssen die Despoten antworten für die geknickten Geistesblüten und die gebrochenen, großen Herzen, denen sie das Lebenslicht der Freiheit geraubt, die sie im Moderduft des weiten Kerkers, zu dem sie ihre Länder machten, erstickt haben?

Nach dem schmerzlichen Eindruck jener Trennung schlug Herzen selbst vor, wieder für einige Wochen nach dem schönen Ventnor auf der Insel Wight zu gehen. Dies wurde natürlich von den Kindern und mir mit Freuden angenommen. Dort wurde ein bequemes Haus am Meer gemietet, und in der köstlichen Seeluft an der reizend schönen Küste stellte sich die getrübte Heiterkeit wieder her. Pulszkys waren auch wieder dort. Sie kamen oft des Abends, und ich erfreute mich des vertrauten Umgangs mit der edlen Therese, deren tief gemütvolles Wesen sich mir in dieser Stille mehr enthüllte, als es in der ewigen Unruhe und politischen Aufgeregtheit ihres Londoner Lebens der Fall sein konnte. Dort erreichte uns auch die Nachricht von der Einnahme des Malakoff. Damit war der Fall Sebastopols und das Ende des Krieges vorauszusehen. Wir freuten uns der Nachricht, nicht nur aus allgemein menschlichen Rücksichten, sondern insbesondere auch für Rußland, da es anzunehmen war, daß der neue Kaiser nach Beendigung dieses von ihm als traurige Erbschaft übernommenen Krieges sich zu inneren Reformen wenden werde.

Nach unserer Rückkehr wurde der Beschluß gefaßt, wieder nach London überzusiedeln, da Herzens Sohn die London-University und das Laboratorium des berühmten Chemikers Hofmann besuchen sollte, und auch für Natalie einige Stunden nötig wurden, die ihr zu geben ich mich nicht für kompetent hielt. Mit wahrem Schmerz schied ich von der geliebten Landeinsamkeit, von der reizenden Aussicht des Hauses auf die Themse und ihre grünen Ufer, von dem herrlichen Park von Richmond und den Gärten von Kew, in denen ich täglich mit den Kindern so glückliche Stunden verlebt hatte, von jenem in sich geschlossenen und befriedigten Leben, das nun wieder den Schwankungen und vielleicht störenden Einflüssen einer an uns näher herantretenden Außenwelt preisgegeben war und in Gefahr kam, anstatt sich immer sicherer und organischer von innen heraus zu gestalten, durch ein Unvorhergesehenes, von außen her erschüttert oder gar zertrümmert zu werden!


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