Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zweites Kapitel

Nachklänge aus der Heimat
und
Bekanntschaft mit dem englischen Leben

Ich bekam endlich Briefe aus Deutschland, zunächst einen erfreulichen von meiner liebsten Schülerin aus Hamburg, einem hochbegabten, erst siebzehnjährigen Mädchen, die mich mit Leidenschaft liebte. Er lautete: »Geliebteste Malwida! ›Das Verhängte muß geschehen, das Gefürchtete muß nahn.‹ Das fuhr mir durch die Seele, als ich hörte, was Dir widerfahren! O es ist wahr, keiner entgeht seinem Schicksale. Wie oft sagten wir's Dir im Scherze voraus! Kaum dämmerte in uns die Ahnung, daß das, was wir leichtsinnig und lachend heraufbeschworen, sich erfüllen würde. Es hat mich sehr erschüttert. Doch als ich es näher bedachte, fand ich es nicht so ganz schrecklich. Das tragische Unglück, so vernichtend es im ersten Augenblick scheint, erhebt uns unendlich; und ich kann wohl sagen, daß ich Dich ein wenig beneidet habe um das Bewußtsein, das Du haben mußt: auch ich half mit, das große Kreuz der Menschheit tragen, und mein Wirken bringt die Freiheit vielleicht um einige Tage früher zur Reife! Denn wenn ein jeder nur für einen Tag sorgte, wir sparten manch Jahrhundert. Das Märtyrertum für die Freiheit ist gewiß so heilig wie das für einen blinden Glauben, und wer leidet, tut oft mehr, als wer handelt. Die Menschheit hatte immer einen großen Gedanken, den sie verfolgte: das Christentum, die Kreuzzüge, die Entdeckung der Neuen Welt, die Reformation; endlich die Idee der Freiheit. Diese aber, als diejenige, die alles andere in sich schließt, erregt am meisten Widerwillen bei den Leuten, die ihre Zeit nicht begreifen, und glauben, eine Zeit, die vor Alter zusammenschrumpft, sei noch nicht ausgewachsen. Nun müssen immer die Gerechten büßen für die Ungerechten. Ich denke mir nämlich: es kann gar keinen Menschen geben, der sein Haupt ewig knechtisch beugen möchte. Denn wie die Menschen nur sittlich sind, weil sie es absolut sein müssen (diese Idee liegt so tief in uns, daß wir bei jeder, noch so unsinnigen Religion immer finden, daß ein Sittengesetz vorhanden, dessen Befolgung Lohn, der Ungehorsam dagegen Strafe bringt), so glaube ich, daß die Lust zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit mit unserem Wesen durchaus verwachsen ist. Ebenso aber ist das Vergnügen zu herrschen in uns. Nun überwiegt immer eine dieser Neigungen die andere. Im besseren Menschen hat die Gerechtigkeit und Sittlichkeit, bei einer unedlen Natur die Herrschsucht das Übergewicht, und der Ungerechte sucht die Freiheit nur für sich, um an anderen Herrschaft auszuüben; der Gerechte aber will sie für alle. So mußt Du nun sühnen, was die andern verschuldet haben.«

Dann kamen traurige Briefe von meinen Schwestern, die mir den schrecklichen Eindruck schilderten, welchen meine, durch die Zeitungen bekannt gemachte Ausweisung und meine darauf erfolgte Abreise auf die Meinigen, besonders auf meine Mutter, gemacht hatten. Ihr Stolz war sehr begreiflicherweise tief gekränkt, noch mehr aber waren ihre liebevollen Herzen ergriffen von der Sorge um mein Schicksal, und auch die tröstenden Zeilen, die ich ihnen über meine glückliche Ankunft und den freundlichen Empfang bei Kinkels geschrieben, hatten nicht vermocht, das herbe Weh des Eindrucks zu lindern. Tief und schmerzlich tönte ihr Leid in mir wieder, und ich gelobte mir selbst, daß, wie sich auch mein Los gestalten möge, welche Prüfungen und Entbehrungen ich durchzumachen haben würde, ihnen die dunkle Seite meines Daseins möglichst verborgen bleiben und, so weit es in meiner Macht läge, nur Milderndes und Beruhigendes über mich zu ihnen hingelangen solle.

Bald darauf kamen auch Briefe von Anna. Sie war nach meiner Abreise noch sehr durch die Polizei gequält worden. Man war gekommen, sich nach mir zu erkundigen, und da man mich nicht fand, hatte man sie auf die Polizei vorgeladen, und sie hatte demselben widerwärtigen Menschen, der auch mich verhört hatte, Rede und Antwort stehen müssen. Endlich, da man sich hatte überzeugen müssen, daß sie nichts von den gefährlichen Verschwörungen und Majestätsverbrechen, deren man mich für schuldig hielt, wußte, war sie in Ruhe gelassen worden, aber sie hatte natürlich sehr unter diesen Quälereien gelitten.

Diese Nachrichten drückten mich tief darnieder. Eine große Bitterkeit erfüllte mein Herz und zum erstenmal fühlte ich, daß mein Idealismus, mein Glaube an etwas erreichbar Besseres als die brutale Gewalt, die uns überall umgibt, anfing zu wanken. Eine tiefe Melancholie kam über mich, und die meisten äußeren Eindrücke waren bis dahin nicht der Art gewesen, dagegen einzuwirken.

Ich wohnte nahe bei dem großen Regents-Platz, einer jener grünen Tröstungen, die man zwischen die ungeheuren Steinmassen dieses Komplexes von Plätzen und Straßen, der London heißt, eingeschoben hat. Dorthin richtete ich täglich meinen einsamen Spaziergang und bewunderte die Kunst, die durch grüne Wiesen, schöne Baumgruppen, frische Wasserpartien, durch Herden von Schafen und alle Arten von Wasservögeln ein wohltätiges Abbild des Landlebens geschaffen hat für die Tausende von Kindern, die in den dunklen, geschwärzten Häusern, den engen Straßen, der dicken mit Kohlendampf geschwängerten Atmosphäre leben – für die Bürgerfamilien, deren Vermögen nicht hinreicht, um im Sommer die Stadt zu verlassen – ja selbst für die Proletarier, von denen mehr als einer unter den Bäumen dieses Parks sogar sein Nachtlager findet. Aber wenn ich dann den beinah immer grauen Himmel ansah, der all diese grünen Bilder wie mit einem bleiernen Dach überwölbt, dann fühlte ich doppelt, daß, so wie ihnen das belebende freundliche Sonnenlicht und das heitere Himmelsblau fehlten, auch in meinem Leben schwere undurchdringliche Nebel die klaren Gestirne verdeckten, die allein Mut und Ausdauer geben für die Arbeit des Tages. Dabei drängte sich mir täglich mehr das Bedürfnis auf zu arbeiten, um Geld zu verdienen, denn die geringe Barschaft, die ich mitgebracht hatte und die ich noch dazu zum größten Teil der Güte eines, freilich sehr vermögenden Freundes aus Hamburg verdankte, ohne dessen Hilfe ich die Reise nach England gar nicht hätte machen können, schmolz bedeutend zusammen, und trotz meiner sparsamen Lebensweise sah ich ihr Ende mit raschen Schritten herannahen. Von meinen kleinen Revenüen hatte ich noch gar nichts in nächster Zeit zu erwarten, und sie waren wie Null im Vergleich zu den selbst bescheidensten Ansprüchen an eine Existenz in London. Von den Meinigen aber niemals Unterstützung zu erbitten, hatte ich mir heilig gelobt, nicht weil ich an ihrer Bereitwilligkeit mir zu helfen gezweifelt hätte, sondern weil ich es als eine ernste Pflicht ansah, den selbstgewählten Weg auch selbständig zu gehen und seine Mühen und Sorgen für mich zu tragen, ohne sie denen aufzubürden, die nicht mit ihm übereinstimmten. Es hat mir immer so geschienen, als dürfe man materielle Opfer nur von denen annehmen, mit denen man sich in vollständiger Übereinstimmung des Denkens und Handelns befindet, doch niemals von der Liebe derer, denen wir, um unserer Überzeugungen willen, bitteres Leid zufügen mußten. Ich fing demzufolge an, mich nach allen Seiten hin um Arbeit umzusehen, besonders auch nach Stellen als Erzieherin, da ich sah, daß schon gar zu viele Personen mit bloßem Stundengeben beschäftigt waren. Es ist wahr, daß der Gedanke, in einem englischen Hause Erzieherin zu werden, für mich etwas Entsetzliches hatte. Ich wußte, daß die Erzieherinnen in England Wesen sind, die eine besondere Klasse der menschlichen Gesellschaft bilden, ein Etwas zwischen Herrschaft und Dienstboten, das einen streng begrenzten Anteil an gesellschaftlichen Rücksichten, einen engsten Horizont von Freuden und Erholungen, und eine unmäßig lange Liste von Verpflichtungen und Aufgaben zugemessen bekommt. Aber das war bei weitem nicht alles, was mich erschreckte. Zunächst hatte ich starke Zweifel, ob meine Gesundheit die Anstrengungen eines solchen Lebens, nur nach den Bedürfnissen anderer und nie nach den eigenen eingerichtet, würde ertragen können; ferner, und dies war die Hauptsache, hatte ich ein Grauen vor der Heuchelei, die ich notwendig würde ausüben müssen. Gleich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in London hatte mich ein junges Mädchen besucht, die in unserer Hochschule als Schülerin gewesen war und nun in England eine Stelle als Erzieherin bekleidete. Sie erzählte mir von ihren Erfahrungen, und daß es eine der ersten Verpflichtungen einer solchen Stellung sei, die Schülerinnen Sonntags zur Kirche zu begleiten – in liberalen Häusern, wie das, in dem sie sich befand, einmal, in orthodoxeren zweimal. Schon wenn man eine Erzieherin engagiere, sei die erste Frage nach der Religion. Manchmal kämen Einwände vor gegen die eine oder die andere Kirche; die eine Familie wolle keine Katholikin, die andere keine Protestantin, aber eine Person, die gar keiner Kirche angehöre, wolle niemand, und es würde völlig unmöglich für eine solche sein, überhaupt eine Stellung zu finden. Meine junge Bekannte, die in Hamburg jeden Sonntag die Vorträge unserer freien Gemeinde besuchte, hatte sich als Protestantin angegeben und mußte regelmäßig mit ihrer Schülerin zur Kirche; da sie aber eine lustige, praktische Natur war, so kam sie auf allerlei Hilfsmittel, um der Langeweile des einförmigen, endlos langen Rituells der anglikanischen Kirche auszuweichen und nahm statt des Gebetbuchs (the prayerbook), das in den englischen Familien und den englischen Buchhandlungen eine so große Rolle spielt, irgend ein anderes Buch mit, das jenem äußerlich ähnlich sah, »Emilia Galotti« z. B. oder sonst ein klassisches Werk, um es während der Litanei zu lesen.

Die Predigt benutzte sie wie eine Stunde in der englischen Sprache, da es angenommen ist, daß die Prediger das reinste und beste Englisch sprechen. Der Gedanke, eine solche Komödie spielen zu müssen, widerte mich aber aufs höchste an, und ich war fast erfreut, als mir, durch Vermittlung einer deutschen in England wohnhaften Dame, die ich in Hamburg bei einem Besuch in der Hochschule kennen gelernt und an die ich mich schriftlich gewendet hatte, eine Stelle als Erzieherin in einer jüdischen Familie angeboten wurde. Es war eine von den jüdischen Familien, die durch ihren kolossalen Reichtum den Widerstand der christlichen Gesellschaft besiegt und ihre verfolgte Rasse gerächt haben, indem sie die Verfolger zwingen, sich vor der Allmacht des Geldes zu beugen. Sie war jedoch auch durch persönliche, wahre Verdienste bekannt. Mehrere ihrer männlichen Mitglieder waren zu öffentlichen Ehrenämtern zugelassen, die Frauen waren ausgezeichnet durch Liebenswürdigkeit und Bildung und die ganze Familie wurde mit Recht, wegen ihrer großmütigen, unermüdlichen Anstrengungen zum Besten ihres Volkes, gepriesen. Eine dieser Damen bedurfte nun einer Erzieherin für ihre Töchter, und zu ihr begab ich mich. Ich wurde in das parlour, geführt, denn nur da empfängt man in England die geschäftlichen Besuche; in das drawing-room kommen nur die ebenbürtigen Visiten. Sie empfing mich in einer viel wohlwollenderen und weniger stolz zurückhaltenden Weise als die andern englischen Damen, die ich bisher gesehen hatte. Die erste Frage war jedoch wieder selbstverständlich: »Welcher Religion gehören Sie an? Sind Sie Katholikin?« – »Nein.« – »Ach, das ist gut, dann sind Sie Protestantin – übrigens kommt die Religion bei der Erziehung meiner Töchter nicht in Betracht, die Religionsstunden gibt der Rabbi, aber ich habe andere Einwendungen gegen die Katholiken.« (Ich verstand später, warum sie recht hatte.) Sie verweilte nicht länger bei diesem Gegenstand und ersparte mir somit die peinliche Antwort. Darauf fragte sie mich, ob ich schon die Erziehung eines oder mehrerer Kinder geleitet hätte. Ich sagte ganz ehrlich: »Nein!« fügte aber hinzu, daß mich seit mehreren Jahren die Gedanken über Erziehung ausschließlich beschäftigt hätten, und daß ich es mir zutraue, ein Werk der Erziehung übernehmen zu können. Sie wurde nachdenklich, fragte noch Verschiedenes und entließ mich dann, indem sie mir versprach, mich ihren Entschluß am folgenden Tage wissen zu lassen. Ich erhielt auch am folgenden Tage wirklich ein Billet, in dem sie sehr höflich ihr Bedauern aussprach, mich, trotz des persönlichen vorteilhaften Eindrucks, nicht engagieren zu können, da mir die »Routine« abgehe. Ich fühlte mich innerlich erleichtert, daß das Joch noch einmal an mir vorübergegangen war, und machte es wie der Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand vergräbt, als ob der ungesehene Tod ihm nicht doch ebenso sicher nahe. Dann schrieb ich an die deutsche Dame, die mich empfohlen, teilte ihr den Erfolg ihrer Bemühungen mit und ließ mich unwillkürlich in eine längere Auseinandersetzung meiner Erziehungstheorien ein, die ich für vorzüglicher halten zu müssen glaubte, als die »Routine« der »gouvernantes de métier«. Sie antwortete mir ganz entzückt, sagte, daß alles, was ich geschrieben, mit ihren Ansichten übereinstimme, daß sie sich längst nach einem Wesen gesehnt habe, das diese Ansichten teile, und lud mich ein, zwei oder drei Wochen bei ihr auf ihrem Landsitz zu verbringen, wo sie sich augenblicklich mit ihrer Familie befinde, damit wir uns näher kennen lernen und unsere Gedanken austauschen könnten. Sie fügte mit vieler Zartheit hinzu, daß sie sich denke, die Ausgabe für die Reise könnte mir im Augenblick beschwerlich fallen und daß sie das nicht auf ihr Gewissen nehmen könnte, um sich eine Freude zu bereiten, daß sie daher ihrem Geschäftsführer in London aufgetragen habe, zu mir zu gehen, und alles Nötige zu besorgen.

Der Geschäftsführer, ein freundlicher, englischer Gentleman, erschien auch, führte mich zur Eisenbahn in einen Waggon erster Klasse, ohne daß ich mich um das Wie zu bekümmern hatte, wünschte mir glückliche Reise und – fort brauste der Zug. Ich hatte einen großen Teil von Alt-England zu durchfahren, denn das Ziel meiner Reise lag im Norden von Wales. Der einförmige Charakter der Landschaft im mittleren England, die nur aus großen Wiesenflächen, schönen Baumgruppen, üppig grünen Hecken und Feldern besteht, wechselte, als wir uns Wales näherten, und wurde von immer malerischerer Schönheit, als die Eisenbahn zwischen dem Meeresufer und den kühn und kühner sich erhebenden Felsen und Bergen der Gebirgskette sich hinzog. Wir hielten endlich in Bangor, einer kleinen freundlichen Stadt an den sogenannten Menay Straits, der Meerenge, die die Insel Anglesey von dem Festlande von Wales trennt und über die der Unternehmungsgeist der Engländer außer einer sehr schönen Hängebrücke für Wagen und Fußgänger auch die berühmte, einen doppelten eisernen Tunnel enthaltende Eisenbahnbrücke (Tubular Bridge) gebaut hat, die die große Verbindungsstraße mit Irland ist, indem nun die Eisenbahn nach Anglesey hinüberfährt, wo sich die Schiffe anschließen, die nach Irland gehen. In Bangor wurde ich von einer englischen Dame angeredet, die sich mir als eine Abgesandte von Madame S . . . zu erkennen gab, und mit deren Wagen auf mich wartete, um mich nach Anglesey, wo das Landgut der Familie lag, hinüberzuführen. Am Portal des schönen Landhauses empfing mich meine Wirtin mit ausnehmender Herzlichkeit. Ich hatte sie nur einmal flüchtig in der Hochschule gesehen, aber es strahlte ein solch aufrichtiges Wohlwollen, eine so unmittelbare Herzensgüte von ihr aus, daß man sich sogleich voll Vertrauen zu ihr hingezogen fühlte. Ich befand mich nun zum erstenmal ganz inmitten eines englischen Haushalts, obwohl meine Wirte deutscher Abkunft waren. Niemand unterwirft sich so leicht den Gewohnheiten eines fremden Landes, nimmt so leicht fremde Sitten und eine fremde Sprache an und identifiziert sich so stark und vollständig mit den Eingeborenen, als wie die Deutschen. Fast alle deutschen Familien, besonders die reicheren, die in England sind, haben sich ihr Leben ganz nach englischer Weise eingerichtet, und zwar bis zu solch einem Grade, daß ihre Kinder die Muttersprache vergessen und sich mit Stolz Engländer nennen. Auch das Haus von Madame S . . . war völlig nach englischer Sitte eingerichtet. Der Reichtum trat an die Stelle adeliger Herkunft, um den ganzen Kontingent eines aristokratischen Haushalts zu liefern. Der »buttler«, eine Art Hausmeister, Haupt der Dienerschaft, in schwarzem Frack und weißer Halsbinde, die übrigen Diener, Kutscher usw. in Livreen, die »housekeeper« oder Haushälterin, die Kammerjungfern und die »housemaids« oder Stubenmädchen, die »grooms« oder Stalljungen, diese ganze Hierarchie des englischen Bedienungswesens mit ihren Rangunterschieden, die ebenso heilig gehalten werden wie die in der hochgeborenen Gesellschaft, fand ich auch im Hause von Madame S . . . vor. Für die zahlreichen Kinder war ein deutscher Hauslehrer, eine französische Erzieherin und die gehörige Anzahl »upper and unders nurses« da, und das architektonische Ganze gipfelte in einer englischen Dame, Miß B . . ., derselben, die mich in Bangor empfangen hatte, die die genaueste Kenntnis des englischen Kodex vom savoir-vivre hatte. Sie herrschte beim Mittagstisch und kannte keine Gnade für den kleinsten Verstoß gegen die Sitten, die von der öffentlichen Meinung als einzig gentleman- und ladylike anerkannt sind. Ihr wachsames Auge entdeckte z. B. gleich, ob am andern Ende des langen Tisches Master James oder Master Henry das erforderliche Stück Brot in der linken Hand hätten, das beim Essen des Fisches unumgänglich nötig ist und das Messer ersetzt, das den Fisch niemals berühren darf. Sah sie solch einen Verstoß gegen die Sitte, so rief ein Zeichen des Kopfes einen der Diener an ihre Seite, sie legte ihm ein kleines, zierlich geschnittenes Stückchen Brot auf den silbernen Präsentierteller, indem sie sagte: Master James oder Master Henry! worauf dann die so Zurechtgewiesenen auf den Pfad der Sittlichkeit zurückkehrten. Aber auch in weiteren Verhältnissen war Miß B . . . eine organisierende und praktische Natur. So schrieb sie unter anderem für Madame S . . . die unzähligen Billets und Briefe, die den Vormittag englischer Damen allgemein in Anspruch nehmen, und die in den großen Städten der ungeheuren Entfernungen und der dadurch bedingten Zeitverschwendung wegen, allerdings notwendig geworden sind. Außerdem hatte Madame S . . . aber eben auch eine ganz besondere Leidenschaft für das Briefschreiben und eine unglaubliche Menge von Korrespondenzen, denen sie allein gar nicht genügen konnte. Ihre bekannte Güte zog ihr eine Unzahl von Bittstellern und Anliegen aller Art zu, die Gastfreundschaft und die zahlreichen Verbindungen des Hauses erforderten, unaufhörlich Einladungen zu geben und zu empfangen; dann kamen die Briefe an Kaufleute, Lieferanten, Schneiderinnen, Verwalter der Häuser in der Stadt oder der Güter auf dem Lande usw., endlich die vielfachen Beziehungen, die Madame S . . . in den meisten Ländern Europas mit zum Teil bedeutenden und hervorragenden Persönlichkeiten aller Klassen der Gesellschaft unterhielt. Das Arbeitskabinett dieser Dame glich dem Bureau eines Ministers, wo sie an dem mit Papieren aller Art bedeckten Schreibtisch anordnete, diktierte, und Miß B . . ., mit der Geschicklichkeit und Gewandtheit eines Kabinettsrats ausführte, schrieb und expedierte, indem sie mit weiser Mäßigung die zu ausführlichen Ergießungen ihres Chefs beschnitt und abkürzte. Mit allen Einzelheiten des Lebens dieser Familie vertraut, weihte Miß B . . . sich ihr mit einer unvergleichlichen Treue und Hingebung und lebte für deren Interessen, als wären es ihre eigenen. Natürlich hielt sie dabei ihren Standpunkt fest; denn sie hatte zwei Ideale, zu denen sie wenigstens die junge Generation der Familie hätte hinführen mögen: die Aristokratie und die englische Hochkirche. Sie träumte aristokratische Verbindungen für die jungen Leute und Rückkehr in den Schoß der für sie allein seligmachenden Kirche, denn die Eltern S . . . gehörten zu den Unitariern und erzogen ihre Kinder in ihren Ansichten.

Am Morgen nach meiner Ankunft erschreckte mich der dröhnende Schall eines Instruments, das ich bis jetzt nur im Theater und zwar in der Oper Norma gehört hatte, wenn die Priesterin mit einer Keule an ein ehernes Schild schlägt, um das Volk zusammenzurufen. Ich glaubte, dies sei das Signal zum Frühstück und beeilte mich, dem erschütternden Rufe zu folgen. Ein Diener öffnete mir eine Tür, und ich befand mich in einem Bibliothekzimmer, in dessen Mitte ein Pult stand, auf dem eine große Bibel aufgeschlagen lag und vor dem Herr S . . . saß. Alle Bewohner des Hauses, bis auf den letzten Dienstboten, saßen in feierlichem Schweigen im Halbkreis umher; man bot mir schweigend einen Sitz, und Herr S . . . begann alsbald nach einem einleitenden Gebet, ein Kapitel aus der Bibel und dann eine Predigt von Channing, dem Haupt und Ideal der Unitarier, vorzulesen. Zum Schluß wurde das Vaterunser gebetet und dann kniete ein jeder auf die Erde, das Gesicht seinem Stuhle zugewendet und in beide Hände vergraben, um still für sich zu beten. Hiermit war die Hausandacht beendet, und alle kehrten zu ihren Tagesaufgaben zurück, die Herrschaft zum Befehlen, die Diener zum Bedienen, und so war die irdische Ordnung wieder hergestellt, die einen Augenblick lang von der unsichtbaren Gegenwart Gottes unterbrochen worden war. Ich war bei alledem sehr angenehm berührt durch diese Art, den Tag zu beginnen, die in den meisten englischen Familien, besonders auf dem Lande, dieselbe ist. Diese Stunde gemeinschaftlicher Sammlung und ernster Stimmung beim Beginn des Tages hätte sicher immer eine sittliche Wirkung, sobald man damit keinerlei Zwang verbände, wodurch man Heuchler macht, weshalb diejenigen, die in den religiösen Formen ihre Befriedigung nicht mehr finden, einen anderen Gegenstand gemeinschaftlicher Betrachtung wählen sollten. In England aber, dem Lande der hochmütigen Rangunterschiede par excellence, hatte diese Sitte etwas doppelt Patriarchalisches und Rührendes, weil da wenigstens für eine Stunde jene Unterschiede in einem gemeinsamen Gefühle schwanden. Ich hielt es jedoch für meine Pflicht, Madame S . . . zu sagen, daß ich nicht mehr bei diesen Morgenandachten erscheinen würde, da die religiösen Formen keine Bedeutung mehr für mich hätten. Sie hatte in ihrer großen, menschlichen Güte den wahren Geist der Toleranz gefunden, bat mich, ganz zu tun, wie ich für gut fände, und ließ auch die Freundlichkeit und Teilnahme, die sie mir gezeigt hatte, nicht einen Augenblick darunter leiden. Dagegen bemerkte ich wohl, daß die übrigen Mitglieder des Hauses, besonders Miß B . . ., mich seitdem nicht mehr mit so günstigen Augen ansahen, wenn auch namentlich letztere es nie an der streng konventionellen Höflichkeit fehlen ließ. Außer Madame S . . . hatte ich aber noch ein Mitglied des Hauses, und zwar dessen Haupt, für mich, Herrn S . . . nämlich, einen Mann, der mir große Achtung einflößte. Er gehörte jenem Teil der Bourgeoisie an, die, durch eigene Anstrengung zu kolossalem Reichtum gelangt, in England mehr wie irgendwo anders eine mächtige, kompakte, tätige Partei des aufgeklärten Liberalismus, des praktischen Fortschritts und der großartigsten Freigebigkeit bildet. Die Namen von Richard Cobden, John Bright und anderen haben sie verherrlicht, und S . . . war ein Freund aller dieser Männer und stets bereit zu helfen, wo es ein großes öffentliches Unternehmen zu fördern oder persönliches Elend zu mildern galt. Für die Arbeiter seiner Fabriken hatte er ein wahrhaft väterliches Interesse und sorgte für ihr materielles und geistiges Wohl; daneben hatte er aber auch die kleine Eitelkeit des parvenu und fühlte sich geschmeichelt durch den Umgang mit dem Adel. Ein sehr praktischer Geschäftsmann, liebte er gleichwohl auch die schönen Künste und war ihr eifriger Beschützer. Besonders liebte er die Musik, spielte selbst recht gut Klavier, und hier war es, wo wir uns begegneten. Er begleitete mich jeden Abend zum Gesang, wo wir dann die Liederschätze deutscher Musik durchnahmen, was mich sehr bei ihm in Gunst setzte.

Das große und prächtige Haus war fast fortwährend voll von Besuchern, die sich mehr oder minder lange aufhielten. Hier lernte ich die schönste Seite des englischen Lebens kennen, das Landleben nämlich auf den großen Besitzungen des begüterten Teils der englischen Gesellschaft. Es ist wahr, es ist gerade hier, wo der auf die Spitze getriebene, genußsüchtige Egoismus sich am breitesten entwickelt hat. Der ungeheure Grundbesitz der einzelnen, die unabsehbaren Parks mit ihren Waldesschatten, die nur für den Genuß des Besitzenden da sind, scheinen eine Sünde gegen die Nationalökonomie wie gegen die Humanität, wenn man daneben die Hunderttausende bedenkt, die in den Fabriken, an der Maschine, in elenden, von Dampf geschwärzten Häusern, oder noch schlimmer ohne Obdach, unter dem vom Kohlenrauch geschwängerten, bleigrauen Himmel der großen Städte Englands leben und von dem Despotismus des Kapitals abhängig sind, während der Boden, der allen Brot zusammen mit gesünderer Arbeit geben könnte, brach liegt, damit eine begünstigte Gesellschaft in elegantem Müßiggang dort ihre Tage verschwelgen kann, oder junge, reiche »Dandies« die Untätigkeit ihres Daseins mit dem Lärm und der scheinbaren Geschäftigkeit der Jagdpartien bemänteln. Wenn man aber diesen schwarzen Hintergrund des Gemäldes etwas aus den Augen verliert – und man kann es eben dort am ersten, weil auf dem Lande auch das Leben der unteren Klassen eine freundlichere, das menschliche Gefühl weniger verletzende Gestalt hat –, so muß man gestehen, daß die großartige Gastfreundschaft, die völlige Zwanglosigkeit und edle Freiheit des Verkehrs, die mit allen Mitteln zu genußreichem Dasein ausgestatteten Lokalitäten, die einem hier geboten werden, etwas dem ästhetischen Bedürfnis hoch Zusagendes haben und daß sich wohl kaum in irgendeinem andern Lande etwas dem zu Vergleichendes findet.

Unter den zahlreichen Besuchern, die sich während meines Aufenthaltes dort einfanden, kamen mehrere Persönlichkeiten vor, die ganz und gar zu jenen scharf ausgeprägten Typen gehörten, die man vorzugsweise in England antrifft. Es sind dies Typen, die so stark in ihrer Einseitigkeit sind, daß sie in ihr beinahe die Vollkommenheit erreichen, während sie nach anderen Seiten sich als beschränkt und mittelmäßig zeigen. Zu diesen gehörte unter andern ein alter Mann aus Manchester, der mich ungemein interessierte. Er war früher selbst Arbeiter gewesen, hatte sich dann eine bescheidene Unabhängigkeit gemacht und lebte nun für die Verbesserung des Loses der Arbeiter und namentlich für die Verbesserung des Strafkodex und der Einrichtung der Gefängnisse. Er war besonders in letzterer Angelegenheit schon mehrere Male vor dem Parlament mit Reformplänen erschienen und diese waren nicht unberücksichtigt geblieben. Man hatte ihm das Recht gegeben, alle Gefängnisse Großbritanniens frei besuchen zu können und sich von den dort herrschenden Zuständen zu überzeugen. Er war der Freund, Tröster, Ermahner und Sittenprediger der Gefangenen geworden und hatte mehr als einen Verurteilten zu der Richtstätte begleitet und seinen Mut bis zum letzten Augenblick aufrecht erhalten. Ich betrachtete den einfachen schlichten Greis, mit dem Antlitz voll Güte, Milde und Energie, mit dem schneeweißen Haar, dem stets untadelhaften, schwarzen Anzug und der weißen Halsbinde, voll Ehrfurcht und Sympathie, und suchte seine Unterhaltung, wo ich nur konnte. Da er mein lebhaftes Interesse für die Fragen, die ihn beschäftigten, gewahrte, schlug er mir eines Tages vor, ihn in das Gefängnis des, dem S . . . schen Gute zunächst gelegenen kleinen Ortes, das er zu besichtigen wünschte, zu begleiten. Ich nahm das mit Freuden an, und so wanderten wir eines Morgens inmitten der herrlichen Landgüter voll lachender, frischer, üppiger Vegetation, die die Straße in ununterbrochener Reihe begrenzen, unserem Ziele zu. Mein ehrwürdiger Gefährte war wirklich religiös, gehörte ebenfalls der Unitarierkirche an, war aber durchaus, wie ich es später in England noch öfter und besonders bei Geistlichen fand, für die Notwendigkeit der Todesstrafe, die er sogar mit noch mehr düsterer Majestät umkleidet wünschte, als dies in England der Fall ist, weil er glaubte, der dadurch erregte Schrecken und das unwillkürlich eintretende Grauen vor dem Tode könnten erfolgreich für die Verminderung der Verbrechen werden. Vergeblich bestritt ich ihm die Moralität eines solchen Mittels und suchte vergebens zu beweisen, daß es unmöglich logisch sein könne, wenn die Gesellschaft auf legalem Wege dasselbe tue, wofür sie strafe, nämlich: morde. Seine einseitige Vortrefflichkeit war diesen Argumenten unzugänglich, und er berief sich auf die himmlische Gerechtigkeit, um die irdische Ungerechtigkeit versöhnend zu erklären.

Die Pforten des Gefängnisses taten sich bei Nennung seines Namens auf, und wir traten bei den zwei einzigen Gefangenen, die sich augenblicklich, zum Ruhme der Moralität des kleinen Ortes, dort befanden, ein. Das Gefängnis bestand aus einem reinlichen, weiß getünchten, ziemlich geräumigen Zimmer mit vergitterten Fenstern, hölzerner Bank und eben solchem Tisch und zwei hölzernen Betten mit Matratze. Der eine der Gefangenen war ein sanfter, still aussehender Mensch, der mit Rührung den guten Worten zuhörte, welche mein Begleiter an ihn richtete, und von einer tröstenden Hoffnung belebt schien, als jener dem wahrhaft Reuigen nach vollbrachter irdischer Gerechtigkeit die Vergebung jenseits des Grabes verhieß. Der andere, ein wüst aussehender Irländer, hörte ihm in finsterem Schweigen zu, und als der Greis geendet hatte, schüttelte er den Kopf und sagte trotzig: »Wozu dient mir das, dermaleinst auf ein gutes Leben zu hoffen, wenn ich hier Elend und Hunger habe tragen müssen? Nein, das sagt mir gar nichts. Führt mich aus dem Gefängnis, gebt mir genug zu essen und zu trinken; denn wenn ich draußen bin, fange ich doch wieder an zu trinken, um mein Elend zu vergessen, und dann schlage ich meine Frau wieder und schlage sie vielleicht tot und komme an den Galgen. Übrigens ist auch das noch besser, als so wie ein Hund leben.«

Mein frommer Gefährte wollte ihm antworten, der Gefangene aber zuckte verächtlich die Achseln, drehte ihm mit einem Ausruf der Ungeduld den Rücken, stützte die beiden Ellenbogen auf den Tisch, verbarg sein Gesicht in den Händen und gab kein weiteres Zeichen der Teilnahme mehr bei allem, was der alte Mann ihm noch sagte, grüßte auch nicht, als wir Abschied nahmen und gingen. Mein Gefährte war betrübt über den Mißerfolg seiner liebevollen Ermahnungen, aber so sehr ich seine Absicht und sein wahrhaft humanes Handeln ehrte, so konnte ich doch nicht umhin, im stillen dem Gefangenen recht zu geben. Kann den, der trotz saurer Lasttierarbeit Weib und Kind in Hunger und Elend verkommen sieht, der aus Mangel an Erziehung und edlerer Gewöhnung immer in sich die brutalen Triebe siegen fühlt, kann den, sage ich, die unbestimmte Aussicht auf ein fernes, ersatzvolles Jenseits versöhnen, und lehren, die wilde Empörung der ewig gereizten angebornen Roheit zu dämpfen?

Noch einen andern merkwürdigen Typus, ganz vom andern Ende der Gesellschaft, lernte ich eines Tages kennen, als ein großes Gastmahl, das das ganze Haus in Aufruhr brachte, stattfand. Der nächste Gutsnachbar von Herrn S . . . war ein Baronet, dessen Frau die Tochter eines alten Lord Amhurst war, der sich zu der Zeit, als ich im S . . . schen Haus weilte, bei seinem Schwiegersohn aufhielt. Auf dem Lande konnte der reiche Fabrikherr, der sich durch sein Geld, seinen Fleiß und seine Redlichkeit einen Namen und eine Stellung erworben hatte, mit den adeligen Gutsnachbarn wie mit seinesgleichen umgehen, und schon waren mehrere Besuche und Gegenbesuche ausgetauscht worden.

Die Gegenwart des Lords gab Veranlassung, mehr zu verlangen; es wurde eine Einladung zum Mittagessen gegeben und angenommen. Die Vorbereitungen dazu waren der Art, als gälte es einem welthistorischen Ereignis, und hier war es, wo sich Miß B . . . s Organisationsgeist in vollem Glanze zeigte. Sie entwarf ihren Schlachtplan und hielt an unsichtbaren Fäden die ganze Armee der Unterbeamten, die noch bedeutend durch in Livreen gesteckte Gärtnerburschen usw. vermehrt wurde, in Ordnung, und erst als alles auf das glänzendste bereit war, zog sie sich selbst zurück, um Toilette zu machen. Endlich schlug die feierliche Stunde, und die Wagen der adeligen Nachbarn fuhren am großen Eingang des Hauses vor. Weißbehandschuhte Bediente standen bereit, den Arm hinzuhalten, damit die Damen sich beim Aussteigen darauf stützen könnten, denn auch dies ist englische Etikette, daß ein Diener bei solcher Gelegenheit nie anders behilflich sein darf, als indem er den gebogenen Arm oder gar einen schönen Stock als Stütze vorhält, da seine Hand die Hand der Lady nicht berühren darf. Madame S . . . empfing ihre Gäste im Salon, und wenige Augenblicke darauf trat auch Herr S . . . in schwarzem Frack und weißer Halsbinde ein. Ich erstaunte über den Ausdruck von Verlegenheit und Unterwürfigkeit, der sich in Gesicht und Benehmen dieses wirklich verdienstvollen Mannes den Abkömmlingen langer Ahnenreihen gegenüber zeigte, die vielleicht weniger ausgezeichnete Eigenschaften hatten wie er und sicher weder Rang noch Reichtum durch Anstrengung und Arbeit gewonnen hatten. Was hatte es denn für eine Bewandtnis mit diesem freien Lande, wo ich auf Schritt und Tritt dem ungeheuren Ansehn der Geburt, dem strengsten Formalismus in allen Lebensverhältnissen und dem tief eingewurzelten Kastengeist begegnete! War dies alles Folge des Gesetzes, das eine freie Gesellschaft sich selbst auferlegt und ein Zeugnis ihrer Moralität, oder war es nur eine andere Form derselben Widersprüche der Sitte und einer edleren Lebensanschauung, die ich hinter mir gelassen hatte, und die auch hier bekämpft werden mußten, wenn schon mit andern Waffen?

Unter den Gästen interessierte mich am meisten der alte Lord Amhurst, der der wahre Typus des feinen aristokratischen Weltmanns im besten Sinne des Wortes war; ein Typus, der heutzutage fast schon der Tradition angehört und in unserer modernen, mit Bourgeoisie und Geldadel durchflochtenen Gesellschaft nicht mehr vorkommt. Er war bereits über achtzig Jahre alt, erfreute sich aber einer trefflichen Gesundheit und war von jugendlicher Lebendigkeit, besaß im höchsten Grade das, was der Franzose »esprit« nennt, dazu ein außerordentliches Gedächtnis, das ihm einen reichen Vorrat interessanter Mitteilungen zu Gebote stellte – ihm, dem Zeitgenossen der großen französischen Revolution und ihrer beiden Bastarde von 1830 und 1848; ihm, der nicht nur beinah alle europäischen Höfe und Länder kannte, sondern auch längere Zeit in China als englischer Gesandter gelebt und alle nur irgendwie hervorragenden Persönlichkeiten am Ende des vorigen und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gekannt hatte. Als ich ihm vorgestellt wurde, redete er mich sogleich im besten Deutsch an und sagte mir, er habe einen ausgezeichneten Staatsmann meines Namens gekannt, in dem ich nach wenigen bezeichnenden Worten meinen Vater erkannte. Nach dem Mittagessen zogen die Damen nach englischer Sitte sich zurück, und ich hatte nun auch Gelegenheit, die Tochter zu beobachten, die nichts von den liebenswürdigen, wahrhaft hinreißenden Eigenschaften des Vaters geerbt zu haben schien, sondern ganz jene abstoßende, kalte, trockne Weise hatte, der man in England so häufig begegnet und deren Verschlossenheit nicht etwa verborgne Schätze, sondern ein inhaltleeres Wesen verbirgt. Als die Herren sich wieder eingefunden hatten, wurde musiziert. Ich mußte, von Herrn S . . . begleitet, singen, und dann schlug Lord Amhurst, der in der heitersten Laune war, seiner Tochter vor, eines ihrer alten Duette zu singen, denn er war ein leidenschaftlicher Freund der Musik und war selbst ein berühmter Dilettant gewesen. Das Duett des achtzigjährigen Vaters und der halbhundertjährigen Tochter war sehr ergötzlich – es war ein komisches Duett aus der älteren italienischen Musik – und die Art, wie es vorgetragen wurde, zeigte noch die treffliche Schule und Künstlerschaft der beiden Sänger.

Außer den täglichen Spaziergängen in der herrlichen Besitzung selbst machte ich auch mehrere größere Landpartieen mit. Man zog gewöhnlich in mehreren Wagen aus, während ein Teil der Gesellschaft, Herren sowohl wie Damen, zu Pferd folgten. An irgend einem besonders schönen Punkt der Umgegend, am Fuße des Snowdon, des höchsten Gipfels der Walliser Berge, oder im Schatten hundertjähriger Eichen in den herrlichen Parks, fanden wir von geschäftigen Dienern ein köstliches Frühstück serviert, oder es wurde an einem bestimmten Punkte Halt gemacht, um zu Fuß in die wilderen, den Wagen unzugänglichen Gebirgsgegenden vorzudringen, unter anderen einmal in die ungeheuren Schieferbrüche, die zu der Anglesey gegenüberliegenden, wundervollen Besitzung Pennant-Castle gehören und ihrem Besitzer allein über hunderttausend Pfund Sterling jährlich einbringen. Mir fiel bei diesen malerischen, in wilden Zacken aufsteigenden, dunkelbläulichen Massen die Gebirgsszene aus dem zweiten Teil des Faust ein, und ich wiederholte mir leise: »Gebirgesmasse bleibt mir edel stumm.« Der Eindruck, den die großen geologischen Urformen, die gewaltigen Konturen der primitiven Zustände unserer Erdrinde auf uns machen, beschäftigt unser Auge, unsere Einbildungskraft, unser wissenschaftliches Interesse; sie treten uns aber niemals so nahe, reden nicht so lebendig und vertraut zu uns, wie die Erscheinungen der organischen Welt, und wir fühlen uns kaum versucht, ihnen das geheimnisvolle Wort der alten vedischen Weisheit: »Das bist du«, zuzuflüstern.

Die Naturschönheiten des herrlichen Landes übten mehr als die Gesellschaft einen wohltätigen, versöhnenden Einfluß auf mein Gemüt, und ich sah mit Angst der Rückkehr nach London und in die schwüle Atmosphäre des Flüchtlingslebens entgegen, von dem ich zwar noch nicht viel gesehen, desto mehr Unerquickliches aber gehört hatte. Mir kam aufs neue die Lust, nach Amerika zu gehen, in frische, noch vom Kampf der Zivilisation nicht berührte Zustände, und in dieser Stimmung schrieb ich an Kinkels. Ich erhielt bald darauf von beiden Gatten die freundlichsten Antworten, in welchen sie mich aber entschieden wegen meiner Furcht vor der Rückkehr in das Londoner Leben bekämpften. Er schrieb: »Ich danke Ihnen herzlich für den freundlichen Brief und den Hauch von Naturglück, der aus ihm mir herüber weht. Ich teile aber Ihre Ansicht über Emigration und Erfrischung der Menschheit durch Natur nicht. Wie friedlich sieht Ihr Anglesey Sie an! Und doch grünen seine Bäume von eingesognem Blut. Dort versammelte ein christlicher König Englands die Druiden wie zu einer Ratsversammlung und ermordete sie alle, alle. Es wäre aus ihrem Naturleben und Naturkultus keine moderne Menschheit, keine Geschichte, kein England und Wales von heute geworden. Die sogenannte Natur verbessert den Menschen nicht. Es gibt zwei Klassen von Menschen, ehrliche und unehrliche, mit matten Mittelgliedern, Schattierungen, dazwischen. Die Gesellschaft kann den Charakter der letzteren etwas rascher, etwas freundlicher entwickeln, aber zum Bessern verändern wird ihn keine Natur. Die Elemente, die Ihnen London momentan widerlich machen, sind überall, und jeder kann sich an jedem Ort von ihnen scheiden. So werde ich jetzt tun, klar, scharf und rein, wie einst, Anno 1841, von den Feinden in Bonn. Aber ins Weite fliehen, frommt zu gar nichts; man muß wie der am Pfahl angebundene Bär ehrlich um sich beißen, bis man Ruhe hat. Nur die ernste Arbeit der Geschichte fördert, und die Geschichte ist Kampf. Fallen Sie nicht auf Rousseaus Standpunkt zurück!«

Noch entschiedner schrieb Johanna: »Von Herzen freue ich mich, daß die Eindrücke des schönen Landes Dich so sehr beglücken. Wie es Dir mit der Natur dort, so ist es mir mit den Menschen ergangen, die ich hier kennen und achten lernte. England wird mir täglich heimatlicher, und der große Sinn seiner Bewohner läßt mich verschmerzen, was unsere Landsleute verschulden. Menschen, die aus dem Kleinlichen ihrer Persönlichkeit nicht herauszureißen sind, muß man eben ihrem Schicksal überlassen. Aber daß Du aus Verdruß über die Londoner Umgebungen nach Amerika flüchten willst, ist unpraktisch und gleicht Deiner verständigen Weise nicht. Eine Atmosphäre des Klatsches und der Intrigue wird es in Amerika so gut geben wie an jedem Ort der Welt. Wer den Willen hat, einem solchen Kreise sich in London zu entziehen, der kann es ja in jedem Augenblick. Wir haben es sogar in einer kleinen deutschen Stadt ehedem gekonnt, indem wir konsequent alle Brücken abbrachen, die aus dem Poppelsdorfer Schloß in die Bonner Gesellschaft führten, indem wir uns von den angenehmsten Bekannten lösten, wenn sie uns einen Hauch aus der verdorbenen Luft in unser gereinigtes Haus brachten. So haben wir mehr bewirkt, indem wir die gleichartigen Elemente an uns heranzogen, als wenn unser Lebensfunke in jenem Dunstkreise erstickt worden wäre.

»Ich war diesen Winter sehr in Gefahr, der Schwäche nachzugeben, aus Mangel, einer andern – einer herabziehenden Gesellschaft zur Beute zu werden. Ich war krank, unfähig, meine entfernt wohnenden Freunde aufzusuchen – die Abende waren oft sehr hart. Aber es hat sich mir gelohnt, daß ich eine oft bittre und freudlose Einsamkeit einem Schwanken im Prinzip vorzog. Ich habe keine Schlinge um den Fuß, und wo ich jetzt in selbstgewählte Kreise trete, da umweht mich eine klare, durch nichts getrübte Luft. Bald sind die letzten Fäden durchgerissen, die noch aus vermoderten Verhältnissen in unsre neue, schöne reine Welt hineinreichen, und dann entfalten wir wieder die alten breiten Schwingen und sind wieder ganz wir selber.«

Ich fühlte, daß sie recht hatten, und beschloß nach London zurückzukehren, da ich doch auch nicht länger von der Gastfreundschaft der mir noch so wenig bekannten Familie S . . . Gebrauch machen wollte. Madame S . . . gab mir beim Abschied die Versicherung ihres wärmsten Interesses und sprach von Plänen für die Zukunft. Ich schied von ihr mit inniger Dankbarkeit und Freundschaft im Herzen. Herr S . . . fuhr mich selbst nach Bangor hinüber zur Eisenbahnstation. Als er mir mein Billet genommen hatte, frug er mich, ob es mir Freude machen würde, mit Lord und Lady Palmerston zu fahren. Ich bejahte, und er führte mich zu einem Waggon, in dem, außer den Genannten, weiter niemand saß. Herr S . . . nahm in deutscher Sprache von mir Abschied und reichte mir ein Körbchen mit herrlichen Weintrauben aus seinen Treibhäusern zur Erquickung auf der Reise. Es war mir nicht schwer, Lord Palmerston zu erkennen, dessen Äußeres mir durch die vortrefflichen Karrikaturen in dem englischen Witzblatt »Punch« genügend bekannt war. Er las ein englisches Journal, und als er es beendet hatte, bot er es mir mit ein paar höflichen, in gebrochenem Deutsch gesprochenen Worten an und entschuldigte sich dabei, daß er so schlecht Deutsch spreche. Ich antwortete ihm auf Englisch; er setzte die Unterhaltung sogleich in dieser Sprache fort und machte mich sogleich auf zwei Artikel in dem Journal aufmerksam, die er als die wichtigsten bezeichnete. Der eine beschrieb die Rückkehr des jungen österreichischen Kaisers von seiner offiziellen Rundreise durch seine Staaten, auch durch das von russischen Waffen unterworfne und vom Henker beruhigte Ungarn, sowie die Freudenbezeugungen, das Glockenläuten, Blumenstreuen und Vivatrufen, womit er in Wien empfangen worden war. Der zweite gab einen Bericht von der Abfahrt des ersten großen Dampfschiffs, das den regelmäßigen Dienst zwischen England und Australien machen und die Reise in drei Monaten zurücklegen sollte, und beschrieb den freudigen Enthusiasmus, mit dem die freiwillig herbeigeeilten Tausende von Zuschauern diese Abfahrt begrüßt hatten. Nachdem ich beide Artikel gelesen hatte, gab ich Lord Palmerston das Journal zurück und sagte ihm, daß der Enthusiasmus, von dem man im zweiten Artikel spräche, eine weit größere Bedeutung habe, als der im ersten beschriebene, da er einem Ereignis gälte, das einen neuen Fortschritt der Zivilisation und der die Erde erobernden Kultur bezeichne und von einem freien Volke, ungeheuchelt, einer Tat des Friedens dargebracht worden sei, während der Enthusiasmus der Wiener mir als eine schamvolle Tat über den frischen Gräbern ihrer gemordeten Brüder und ihrer zertretenen Freiheit erscheine, daß ich aber auch an diesen letzteren nicht glaube und ihn für einen polizeilich befohlenen und bezahlten halte. Er schien erstaunt, daß eine sehr einfach aussehende Reisende ihm solche Ansichten vortrug und dabei die Kühnheit hatte, ihm und »her ladyship« Weintrauben aus ihrem Körbchen anzubieten, die die letztere stolz und kalt ablehnte, die er hingegen freundlich dankend annahm. Das Gespräch schien ihn aber zu interessieren, und er fragte mich, ob, was ich eben gesagt, sich auf eigne Beobachtungen gründe und ob ich die Stimmung in Deutschland kenne. Ich bejahte, fing an, ihm von den Zuständen, die ich erst seit so kurzem verlassen hatte, zu erzählen, und sprach meine Überzeugung aus, daß die Reaktion, die jetzt mit all ihren Schrecken hereingebrochen sei, nicht allzu lange dauern könne und daß, trotzdem der Schein dagegen sei, die Zeit unaufhaltsam zur Bekämpfung jedes Despotismus vorwärts schreite. Er hörte mir höflich und aufmerksam zu. Vielleicht regte sich etwas wie ein Vorwurf in seinem Gewissen, als ich, mit absichtlicher Wärme, von dem heldenmütigen Ungarn sprach, das Englands Intervention von der Unterjochung durch russische Waffen hätte retten können. Freilich war er gerade einer jener Staatsmänner, deren Gewissen den Figuren aus Kautschuk gleicht, die nach dem jeweiligen Druck irgend eine beliebige Form annehmen und, nachdem der Druck aufhört, in ihre frühere Form zurückspringen; denn sonst hätte er nicht immer wieder, in den verschiedenartigsten politischen Kombinationen, Minister werden, hätte nicht der Freund des Kaisers Nikolaus (im geheimen sogar von ihm besoldet, wie das Gerücht sagte) sein und zugleich mit jedem Liberalismus kokettieren können. Sehr zu meinem Leidwesen stiegen, gerade im lebhaftesten Gang unserer Unterhaltung, andere Personen in den Waggon ein, besetzten die Plätze zwischen uns und machten so dem Gespräch ein Ende. In London angelangt, wartete er, der zuerst ausstieg, auf mich, die ich die letzte war, und während seine Frau mit dem Bedienten, der sie an der Station erwartet hatte, dem ihrer harrenden Wagen zuschritt, bot er mir die Hand zum Aussteigen und nahm einen höflichen Abschied. So war ich denn wieder in diesem Riesenstrom des Londoner Lebens, kehrte in mein kleines Stübchen bei Mrs. Quickly zurück und fragte mich nun: »What next?«

Meine Freunde Kinkel entschieden die Frage, indem sie mir ankündigten, daß sie deutsche Sprachstunden für mich gefunden hätten. Freilich waren es nur zwei Stunden die Woche, und die Stunde trug nur zwei und einen halben Schilling ein; aber es war doch ein Anfang, und diese fünf Schillinge jede Woche füllten schon einen Teil der Öde aus, die sich in meiner Kasse zu zeigen anfing. Und dann – Stundengeben war wenigstens individuelle Freiheit und Unabhängigkeit nach der Arbeit. Die Gewißheit, mich nach den Stunden in einer eigenen, wenn noch so bescheidenen Häuslichkeit zu finden, zog ich tausendmal dem Luxus vor, der mich vielleicht als Gouvernante in einem reichen Hause umgeben hätte, den ich aber mit fortwährender Unterwerfung unter einen fremden Willen und mit der Heuchelei eines Glaubens, den ich nicht mehr hatte, hätte erkaufen müssen. Ich war also hocherfreut über diesen bescheidenen Anfang und betrat, doch nicht ohne seltsame Empfindung, die Laufbahn derjenigen, die ihr Brot verdienen. Zum Glück war diese erste Erfahrung keine harte. Meine zwei kleinen Schülerinnen waren allerliebste Mädchen, Töchter eines Arztes, dessen Frau mich gleich bei der ersten Zusammenkunft durch ihr freundliches Entgegenkommen und ihre sympathische Schönheit einnahm. Sie war durch Kinkels, mit denen sie befreundet war, vorteilhaft für mich gestimmt und behandelte mich eher wie eine Freundin, als wie eine Lehrerin, und das in immer höherem Grade, je mehr sie sah, daß ihre Kinder mich von Stunde zu Stunde lieber gewannen und die Stunden wie ein Fest ansahen. Es herrschte ein zarter Mystizismus in dem Hause, die Eltern waren Anhänger von Swedenborg; aber das mißfiel mir weniger als die trockne Orthodoxie der Hochkirche, und wenn die reizende kleine Florence mir von den bösen und guten Geistern sprach, die ihre Handlungen beeinflußten, so hütete ich mich wohl, daran zu rühren. Bald verschaffte mir die Mutter neue Stunden, für die ich etwas mehr fordern konnte, da die Familie reicher war als die ihre, und so sah ich mich auf meiner neuen Laufbahn vorwärtsschreiten. Persönliche Empfehlungen, von Familie zu Familie sind die besten Mittel, um zu etwas zu kommen; es gibt auch noch den Weg zur Anzeige im Journal, aber das erste ist besser, mehr »respectable!« – Ich kann nicht sagen, mit welcher Rührung ich nach einem Monat das erste selbstverdiente Geld empfing. Weit davon entfernt, mich dadurch gedemütigt zu fühlen, kann ich im Gegenteil sagen, daß mir niemals Geld mehr Freude gemacht hat. Ich hatte ja Wort gehalten: ich verdiente mir mein täglich Brot, ich war eine Arbeiterin wie die Töchter des Volks, und ich fand wieder, daß nur so das Geld einen sittlichen Wert hat, indem es Austauschmittel wird zwischen dem, der Dienste verlangt, und dem, der sie leistet. Ich kam durch die Praxis auf meine alten Theorieen von der Abschaffung des Erbrechts zurück, und es schien mir von neuem, als ob die Sittlichkeit und die menschliche Würde nur dabei gewinnen könnten. Jedes menschliche Wesen hat Anspruch auf eine Erziehung, die es fähig macht, auf sich selbst zu ruhen; dieses Recht müßte die Gesellschaft ihm sichern, indem sie die Eltern im Fall der Not zwänge, es ihm zu gewähren, oder, bei absolutem Mangel an Mitteln von deren Seite, selber helfend einträte. Jeder Erwachsene aber (ausgenommen die durch Krankheit völlig Unfähigen, für die die Gesellschaft natürlich zu sorgen hätte) sollte sich durch Arbeit sein Leben selbst verdienen. Welch eine tiefe und gesunde Revolution würde das in den Sitten, in den Grundideen des Daseins geben! Die Eltern würden, anstatt Reichtümer für ihre Kinder aufzuhäufen, so viel als möglich für eine gute, nach allen Seiten vollständige Erziehung ausgeben, nur mit dem Unterschied, daß man, anstatt kleine mittelmäßige Talente oder einen bloßen Gesellschaftsfirnis zu entwickeln, die vorherrschende individuelle Anlage berücksichtigen würde, um eine Spezialität auszubilden, durch die das Individuum ökonomisch unabhängig würde. So würde nicht nur vor der Notwendigkeit der Arbeit und der Freude an einer mit Erfolg auszuübenden Befähigung der Müßiggang verschwinden, sondern mit ihm noch eine Menge anderer Übel, zunächst die falsche aber so häufige Tendenz der Eltern, an der Erziehung zu sparen, um dem künftigen Wohlleben der Kinder etwas zuzufügen, sowie die Oberflächlichkeit des Vielwissens und der Mangel an tüchtig ausgebildeten Spezialitäten. Welche Wohltat würde es z. B. für die Gesellschaft sein, wenn man es nicht mehr für nötig hielte, jedes junge Mädchen vom Bürgerstande an bis hinauf zur Aristokratie, ob sie Talent habe oder nicht, Klavier lernen zu lassen, um so während mehrerer Stunden des Tages die Ohren und Nerven ihrer Umgebungen zu martern, während vielleicht eine andere Fähigkeit, die sie zu einem höchst nützlichen Mitgliede der Gesellschaft gemacht hätte, unausgebildet bleibt, und es ganz andere Mittel gibt, um wirklich musikalische Menschen, mit wahrem Verständnis für Musik, zu bilden. Ähnliche Beispiele ließen sich unzählige auffinden, und es ist kein Zweifel, daß die Gesellschaft nicht nur durch das Wegfallen der falschen Bildung gewinnen würde, sondern auch durch die erhöhte Zahl starker, ausgeprägter Individualitäten, die sich gegenseitig um so mehr interessante Dinge zuzubringen hätten, als ein jeder irgend eine Sache aus dem Grund verstände und jede Sache, die gründlich gewußt ist, eine interessante Seite hat. Es versteht sich von selbst, daß bei der vorherrschenden Entwicklung einer Spezialität die allgemeine Bildung nicht vernachlässigt werden dürfte. Der Unterricht in den nötigsten allgemeinen Gegenständen des Wissens gehört in die erste Jugend, wo alle Anregungen für wissenschaftliche oder künstlerische Richtungen, alle nötigen Elemente gegeben werden müßten für alle. Daraus würde sich dann, durch die vorherrschende Anziehung, die Spezialität herausstellen, die aber immerhin, gerade je tüchtiger sie ergriffen würde, noch Zeit übrig lassen würde, um auch für die allgemeinen Dinge einen offenen Sinn und ein teilnehmendes Interesse zu bewahren. Man könnte einwenden, daß dies alles eine so kostspielige Erziehung, so ungeheure Mannigfaltigkeit der Mittel, eine solche verwickelte Organisation der Lehrkräfte erfordern würde, daß es die Kräfte der Gesellschaft überstiege. Darauf braucht man nur einfach zu erwidern: wenn die Gesellschaft die Mittel findet, den Luxus der Höfe und das ungeheure Budget der stehenden Heere zu bestreiten, so wird es ihr auch wohl möglich sein, die Mittel aufzufinden, durch die sie sich selbst vervollkommnen und aus sich selbst das vernünftig und organisch sich entwickelnde Wesen machen kann, für das zuletzt jene kolossalen Ausgaben von selbst wegfallen, weil für Völker, die sich selbst zu regieren und zu erziehen verstehen, sowohl die Pracht monarchischer Höfe als wie der Hemmschuh des bürgerlichen Lebens, die stehenden Heere, überflüssig werden.


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