Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Siebzehntes Kapitel

1848

Am Neujahrstage lasen wir im kleinen Kreis der anwesenden Familie das Testament meines Vaters. Glücklicherweise herrschte zwischen uns zu viel Liebe und edler Sinn, um diesen Akt anders als mit all' der Ehrfurcht zu begehen, die wir dem Geschiedenen schuldig waren. Nicht ein störendes Wort wurde laut, und wir hatten nicht das häßliche Schauspiel zu erleben, das leider so häufig in der Welt vorkommt, die Feier des Todes durch Erbschaftsstreitigkeiten entstellt zu sehn. Mich rührten und ergriffen besonders die einfachen und würdigen Worte, mit denen das Testament anfing, und mit denen mein Vater seinen Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ausdrückte. In ihnen fand ich seine einfache, gute, wahre Natur wieder. Das übrige, der materielle Teil, ließ mich gleichgültig. Doch fand es sich, daß das Vermögen meines Vaters viel geringer gewesen war, als wir vermutet hatten, und daß, da es in viele Teile ging, ein jeder Anteil nur klein sein würde. Dazu war es noch ungewiß, ob meine Mutter eine Pension, die ihr von seiten des verstorbenen Fürsten zugesichert war, erhalten würde; in diesem Fall hätten wir natürlich mit ihr geteilt, aber dann hätten wir eben nur ein sehr bescheidenes Leben führen können, bei weitem beschränkter als das, an das wir gewöhnt waren. Zum erstenmal stieg bei meiner Schwester und mir der Gedanke auf, daß eine von uns gehen und selbst ihr Brot erwerben müsse. Einige der Brüder waren wohl in guten Stellungen, aber es fiel uns nicht ein, von ihnen abhängig werden zu wollen. Wir besprachen schon diesen Punkt, und eine jede von uns war bereit zu dem Opfer. Ich war fest entschlossen, nicht nachzugeben und, wenn es sein müßte, meinen Erbanteil ganz der Mutter zu überlassen und zu gehn. Ich fing ohnehin an zu fühlen, daß ich nicht lange mehr mit denen würde leben können, die meine heiligsten Überzeugungen für falsch hielten. Aber zu gleicher Zeit stand ich betroffen vor der Frage: »Was tun, um mir mein Brot selbst zu erwerben?«

Ich hatte viel gedacht, mehr als die Mehrzahl der Mädchen in meinem Alter; ich hatte viel gelesen. Aber wußte ich eine Sache so gründlich, um darauf meine Unabhängigkeit zu stützen? Hatte ich eine Fachkenntnis irgendeiner Art? Ich fühlte das Ungenügende meiner Erziehung mit tiefer Pein. Seit ich die Malerei hatte aufgeben müssen, hatte ich angefangen zu hoffen, daß ich eines Tages etwas würde schreiben können. Ich hatte einige schüchterne Versuche gemacht, kleine Novellen und Aufsätze an Verleger zu schicken, ohne irgend jemand davon zu sprechen. Mehreres wurde gedruckt, aber nicht bezahlt. Ich wußte nicht, wie man dabei verfahren müsse, ich wagte nicht, bei meinen Familienmitgliedern um Rat zu fragen wegen Sachen, die ihnen mißfielen, und so sah ich keine Hoffnung in dieser Richtung.

Während so der Horizont meines Lebens düster und verschleiert war, fing derjenige der Völker an, sich aufzuhellen. Die Zeitungen brachten die Nachricht von Bewegungen in Sizilien und Neapel. Der harte und verdummende Despotismus, der auf jenen schönen Ländern lastete, schien plötzlich still zu stehen, und ein neues Leben schien bereits aufzublühen. Mein Freund schrieb mir: »Zu denken, daß man in Neapel auf den öffentlichen Plätzen zum Volke von der Freiheit und seinen Rechten redet, und genötigt zu sein, in Deutschland zu bleiben, ist beinah mehr, als man ertragen kann.«

Wie hätte ich gewünscht, es ihm gewähren zu können, dorthin zu gehen, ihn in der Fülle des Lebens zu wissen, inmitten eines Volks, das ein unerträgliches Joch abwirft! Aber leider konnte ich nichts tun, als jene Ereignisse, wie er, aus der Ferne mit glühender Teilnahme verfolgen.

Eines Tages, als ich von einem einsamen Spaziergang heimkam, fand ich alles im Hause in größter Aufregung. Die Nachrichten von der Pariser Revolution am 24. Februar waren angekommen! Mein Herz klopfte vor Freude. Die Monarchie gestürzt, die Republik erklärt, ein provisorisches Gouvernement, das einen berühmten Dichter und einen einfachen Arbeiter zu Mitgliedern zählte – es schien ein himmlischer Traum und war doch Wirklichkeit. Nur wenig Blut war für so hohen Preis vergossen worden, und die großen Losungsworte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! standen wieder auf der Fahne der Bewegung.

Welche Todesqual, mein Glück nicht zeigen zu dürfen, meine Erregung in mein Herz verschließen zu müssen, es zu sehen, daß man um mich her da, wo ich nur Hoffnungen sah, großes Unglück erwartete! Welcher Schmerz, an Blicken und Bemerkungen zu begreifen, daß die Freude, die ich unwillkürlich zeigte, mir als ein schwerer Fehler angerechnet wurde!

Ich schwieg, so viel ich konnte, und gab meinen Gefühlen nur in Briefen an Theodor und die »Kleine« Ausdruck.

Der elektrische Strom verbreitete sich bald in allen Richtungen. Deutschland, das so fest eingeschlafen schien, erbebte wie von einem unterirdischen Feuer. Die Nachrichten von Wien und Berlin folgten sich rasch. Der Fürst der politischen Finsternis, Metternich, war entflohn! Die Grundlagen des Despotismus schienen überall zu wanken. Die Stütze des Absolutismus, die Militärmacht, schien unvermögend vor der Begeisterung der Völker, die für ihre Rechte aufstanden. Die drei glorreichen Märztage in Berlin bewiesen es. Ein jeder Tag fast wurde durch ein neues, wichtiges Ereignis bezeichnet. Aber wie verschieden war die Auffassung dieser Ereignisse je nach den verschiedenen Anschauungen! Eines Tages z. B. fand ich beim Eintreten in das Wohnzimmer meine Mutter mit der Zeitung in der Hand und sie rief mir entgegen: »Nun wirst du zufrieden sein: der König von Preußen ist mit der schwarz-rot-goldnen Fahne in der Hand durch die Straßen von Berlin geritten. Was kannst du mehr wünschen?«

Ich erwiderte, daß mir das gar keine Freude machte, und ich war auch eher traurig über die Maskerade; denn nur der Druck des Augenblicks hatte sie gewaltsam hervorgebracht; sie konnte nicht der Ausdruck der Gesinnung eines Monarchen sein, der, wie allbekannt war, den romantischen Traum der Wiederherstellung feudaler Zustände geträumt hatte. Was ich ersehnte, das waren nicht Gnadengeschenke und königliche Zugeständnisse an das Volk, das war vielmehr das ernste selfgovernment des Volkes selbst, vor dem die Fürsten sich beugen oder verschwinden mußten.

Die Nachricht, daß ein deutsches Vorparlament sich in Frankfurt versammeln werde, erfüllte mich mit namenloser Freude. Die Stadt war in einer grenzenlosen Aufregung. In der Versammlung der freien Gemeinde, die ich schon während des ganzen Winters statt der protestantischen Kirche besucht hatte, stieg der Redner nicht auf die Kanzel, um irgendeiner Betrachtung regelrecht zu folgen, sondern er sprach am Altar feurige Worte der Begeisterung, indem er die Gemeinde aufforderte, bereit zu sein, einen freudigen Kampf zu kämpfen um die heiligsten Rechte der Menschheit. Draußen hörte man Waffengeklirr, denn die Bürger eilten in das nahe Zeughaus, um sich zu bewaffnen. Mir war todesfreudig zu Mute. Ich hätte gewünscht, daß der Feind draußen vor dem Tore der kleinen Kirche gestanden hätte, und daß wir alle hinausgezogen wären, Luthers Choral singend, um für die Freiheit zu kämpfen oder zu sterben. – Das Volk kam aus seinen Höhlen hervor mit dem neugierigen Blick und dem naiven Erstaunen eines Menschen, den man lange Zeit im Dunkeln gehalten, und der den Tag wiedersieht. Ich mischte mich unter die Volkshaufen, die fortwährend die Straßen füllten. Ich teilte ihre Freude, als man die dreifarbige Fahne auf dem Palais in der Eschenheimer Gasse aufpflanzte, wo der deutsche Bund so lange nicht zum Heile, sondern zum Unheile Deutschlands, getagt hatte. Oft stand ich bei den Gruppen der Arbeiter, die sich vor den Schaufenstern der Bilderläden versammelten, an denen die Porträts der Männer der provisorischen Regierung in Paris, der ersten Liberalen Deutschlands, der Häupter der großen französischen Revolution usw. ausgestellt waren. Ich suchte ihnen alles zu erklären, ihnen die Männer zu bezeichnen, in die sie Vertrauen haben könnten, ihnen die Bedeutung der kommenden Tage klar zu machen. Ein neues Leben sprang überall auf. Auch im Theater erschienen die Schillerschen Dramen wieder, die lange von den deutschen Bühnen verbannt gewesen waren. Ich wohnte der ersten Aufführung von Don Carlos bei. Es war, als finge man jetzt erst an, den edelsten der deutschen Dichter zu begreifen, als spräche seine große Seele jetzt zum erstenmal zu dem erwachenden Vaterland. In der Szene, wo Posa für die unterdrückten Niederlande Freiheit erbittet und mit dem Zauber seiner schönen Seele sogar des Despoten Herz bewegt, brach der Jubel in unbändiger Weise aus. Zu gleicher Zeit tönte Freudengeschrei von der Straße her. Alles fragte nach der Ursache; die Antwort wurde laut von jemand aus dem Parterre verkündet; es zogen eben einige Männer des Vorparlaments in die Stadt ein, die jahrelang Märtyrer ihrer freien Ansichten gewesen waren. Das Volk hatte ihnen die Pferde abgespannt und zog sie im Triumph durch die Straßen. Ein Rausch des Entzückens war in aller Herzen.

Die Natur selbst feierte dies Fest der Wiedergeburt. Der Frühling war außerordentlich früh und schön. Ende März war schon alles grün und in Blüte, so daß es möglich gewesen war, die ganze Stadt in einen Garten zu verwandeln. Die Häuser waren mit Blumen und dreifarbigen Fahnen geschmückt. Man wandelte in den Straßen wie in grünen Laubgängen. Die Eisenbahnen, die Dampfschiffe, mit Fahnen und Blumen geschmückt, brachten unaufhörlich Scharen fröhlicher Pilger, die zum Jubiläum der Freiheit herbeieilten. Niemals vielleicht, selbst in den Tagen des Ruhmes bei den Kaiserwahlen, hatte die alte Reichsstadt so viel Menschen versammelt gesehen.

Der letzte März kam. Eine glorreiche Sonne glänzte am wolkenlosen Himmel über der blumengeschmückten Stadt und den Massen geschmückter Menschen. Eine junge Bekannte, die einzige Person in meinen Umgebungen, die meine Gesinnungen teilte, kam ganz früh am Morgen, um mich abzuholen und mit mir nach der Möglichkeit zu spähen, den Ereignissen des Tages in etwas beizuwohnen. Wir nahmen unseren Weg nach dem Römerplatz, wo das ehrwürdige Gebäude steht, in dem einst die deutschen Kaiser des heiligen römischen Reichs gewählt wurden. Der Platz war ringsum von den Reihen der Frankfurter Nationalgarde und der Turner umgeben, denn auch Vater Jahns Turnvereine, so lange als staatsgefährlich verboten, waren wieder aufgelebt. Es war ein heiterer Anblick, diese frische, fröhliche Jugend zu sehen in einem nicht unmalerischen Anzug, leinenem Kittel, spitzem Hut mit breitem Rand und Feder, die Waffen in der Hand und das Gesicht von Begeisterung leuchtend. Es war das Versprechen einer Zukunft, wo man keine stehenden Heere mehr brauchen würde, sondern wo jeder freie Mann, wohl in den Waffen geübt, bereit sein würde, das Vaterland und den eigenen Herd, wenn es sein müßte, mit aller Kraft zu verteidigen.

Wir drangen glücklich durch die Reihen durch und traten in eines der dem Römer zunächstgelegenen Häuser aufs Geratewohl ein, um die Einwohner zu bitten, uns ein Plätzchen an einem Fenster zu gönnen. Die einfachen Bürgersleute fanden unsre Bitte ganz natürlich und führten uns in ein Schlafzimmer, wo ein kleines Kind in der Wiege schlummerte, unbekümmert um das, was draußen vorging.

Der Platz war dichtgedrängt voll Menschen und schien wie mit einem Mosaik von Köpfen bedeckt. Kaum daß eine Straße offen erhalten werden konnte, um die Abgeordneten des Volks zum Römer hineinzuführen. In dem alten Kaisersaale sollte das Vorparlament sich konstituieren, seinen Präsidenten wählen und von da sich in die Paulskirche, die in Eile für die Sitzungen zubereitet war, begeben. Endlich nahte der Zug der Abgeordneten, die, je zwei und zwei, auf dem offengehaltenen Pfad entblößten Hauptes und nach allen Seiten die jubelnde Menge grüßend zum Römer gingen. Vor allem wurden die Männer aus Baden mit freudigem Zuruf begrüßt, die schon lange als Vorkämpfer einer freieren Zukunft bekannt waren. Während nun im Römer beraten wurde, wogte ein reges Leben unter den Tausenden auf dem Platze; Hoffnung, Erwartung, Staunen über das so plötzlich Errungene machten sich in den lebhaftesten Äußerungen Luft. Wohl mochte auch die Furcht manches Herz bewegen, aber sie schwieg vor der Freudenfülle des Tages, und die Bosheit stand im stillen lauernd, um ihr geheimes und gefährliches Spinnennetz zu weben, in dem die sorglos Freudigen und die übereilt Sicheren zur bestimmten Stunde wieder gefangen werden sollten.

Endlich kündeten Kanonenschüsse und Glockenläuten an, daß das erste deutsche Parlament sich konstituiert habe. Plötzlich wurde alles still und am großen Fenster des Römer, von wo einst der erwählte Kaiser dem Volk verkündet wurde, rief nun einer der Deputierten den Namen des Präsidenten des Vorparlaments aus. Es war ein Name, der allen, welche die Freiheit liebten, bekannt und lieb war.

Welches Auge wäre wohl trocken geblieben in diesem Moment! Welches Herz hätte nicht in seliger Zuversicht geschlagen! Wer hätte nicht gehofft, daß das deutsche Volk, das Volk ernster Denker, so unterrichtet, so ruhig besonnen, mündig sei und die Verantwortlichkeit für seine Zukunft selbst in die Hand nehmen könne? Wer hätte gezweifelt, daß die von der Liebe und dem Vertrauen des Volks erwählten Männer fähig seien, die Träume ihres ganzen Lebens endlich zu verwirklichen?

Ich zweifelte nicht, ich sah nur, »unverhofft ein ewig Glück auf goldnen Strahlen glänzend niedersteigen«. Meine persönlichen Kämpfe traten in den Hintergrund vor dem Glück des Vaterlands. Niemals hatte ich Deutschland so heiß geliebt. Noch vor einigen Wochen hatte ich gewünscht, in dem sich erhebenden Italien zu sein. Jetzt hätte ich um keinen Preis von Deutschland weg gemocht; ich fühlte mich mit allmächtigen Liebesbanden daran geknüpft und war überzeugt, daß nirgends die Entwicklung so vollständig und schön sein würde.

Als ich nach Haus zurückkehrte und erzählte, wo ich gewesen sei, wunderte man sich über meine Kühnheit, aber man tadelte sie nicht, denn sie war gelungen, und der Erfolg meiner Ansichten hielt die Kritik etwas zurück. Meine einzige bittere Enttäuschung in diesen Tagen war, nicht in die Paulskirche zu können, die, weil zu wenig Raum war, nur dem männlichen Publikum geöffnet war. Was mich aber ein wenig tröstete, das war der Anblick des öffentlichen Lebens. Man sah da Szenen, von denen man bisher keine Ahnung gehabt hatte. Tribünen wurden in den Straßen, auf den öffentlichen Spaziergängen improvisiert, von denen herab die hervorragendsten Volksmänner, wie Hecker, Struve, Blum u. a. zu dem Volke sprachen. Die Jugend besonders drängte sich um diese Tribünen und gab, zumal durch die malerische Tracht der Turner, diesem Schauspiel auch einen äußeren Reiz. Die radikale, republikanische Partei wollte entscheidende Maßregeln: die Erklärung der Grundrechte des deutschen Volks, die unmittelbare Bewaffnung aller waffenfähigen Männer und die Permanenz des Vorparlaments, bis ein definitives Parlament vom Volke erwählt sei. Dies war ein revolutionäres Programm, die Erklärung der Souveränität des Volks. Die Gemäßigten, die Ängstlichen erschraken davor. Die geheimen Feinde, die politischen und religiösen Jesuiten unterminierten den Boden und wühlten im stillen. Die Majorität war noch zu erstaunt, zu überrascht von all dem Geschehenen, um ein klares Bewußtsein über die nötigsten Dinge des Augenblicks zu haben. Man unterhandelte mit der Vergangenheit; man nahm Vorsichtsmaßregeln; man wollte die Form retten; man wollte den Terrorismus verhüten; man verwarf die Vorschläge der republikanischen Minorität und ergriff halbe Maßregeln, die immer ein Zeichen der Schwäche sind. Es wurde ein Ausschuß erwählt, um sich mit dem alten Bund, in den man einige neue liberale Mitglieder hineinbrachte, zu verständigen. Man verschob die Nationalbewaffnung bis zur Entscheidung des wirklichen Parlaments und erklärte das Vorparlament für unberechtigt, über die Geschicke der Nation zu entscheiden.

Nach diesen Beschlüssen verließen die radikalen Republikaner die Kirche, um sich direkt an das Volk zu wenden. Es war der dritte Tag der Beratungen. Die Teilung in der Versammlung, die regenerieren sollte, lag am Tage. Die Bestürzung, die Aufregung, die Befürchtungen und der Zorn von ein und der andern Seite waren schrecklich. Kundgebungen aller Art, heftige Beratungen in den verschiedenen Sektionen dauerten die ganze Nacht durch. Am Abend des dritten Tages kam die obenerwähnte junge Dame voll Freude, um mir zu sagen, daß ein Herr ihrer Bekanntschaft ihr versprochen habe, uns zwei am folgenden Tag in die Paulskirche zu bringen, an einen Platz, wo wir alles sehen und hören würden, ohne bemerkt zu werden. Wer war glücklicher als ich? Am folgenden Morgen begaben wir uns früh zur Kirche und wurden von unserem Beschützer, der zu der die Kirche umgebenden Nationalgarde gehörte, auf die Kanzel geführt, die nach dem Innern der Kirche hin mit schwarz-rot-gelben Tüchern verhängt war, die sich aber ein wenig auseinanderschieben ließen, so daß wir die ganze Kirche übersehen und, da die Tribüne gerade unterhalb der Kanzel war, die Redner trefflich hören konnten. Mehrere Frauen von Deputierten kamen ebenfalls in unser Versteck; sie hatten die Freundlichkeit, uns alle die bedeutendsten Männer zu zeigen, und sie belustigten uns durch den neckischen Streit, den die eine, eine Süddeutsche und feurige, radikale Republikanerin mit einer andern, der schönen, etwas stolzen Frau eines gelehrten Doktrinärs, führte, die sie nur den »gemäßigten Fortschritt« nannte und der sie lachend prophezeite, daß man mit dem nicht zum Ziele kommen werde.

Die Mitglieder der Linken, die nicht ausgetreten waren, verlangten zunächst stürmisch die Aussöhnung mit den Radikalen, die tags zuvor die Versammlung verlassen hatten. Man sandte einen der badischen Abgeordneten an sie ab, um sie zurückzurufen. Es gelang ihm, und nach einiger Zeit kehrten die sechzig Mitglieder, Friedrich Hecker an der Spitze, in die Kirche zurück. Sie wurden jubelnd empfangen, und Hecker sprang auf die Tribüne, um das Opfer, das sie der Einheit brachten, zu erklären und zur Energie nochmals aufzufordern. Hecker war sehr schön, ein Christuskopf mit langem, blondem Haar und mit schwärmerisch begeistertem Ausdruck. Er war längst in Deutschland durch seine republikanischen Gesinnungen bekannt, und ich wußte durch Theodor, der ihn kannte, wie sehr er im Privatleben die Grundsätze verwirklichte, für die er in der badischen Kammer seit Jahren kämpfte. Er sprach mit einem Feuer und einer Beredsamkeit, die unwiderstehlich fortrissen. Ich bewunderte in diesem Augenblick das Opfer, das er der Einheit brachte, und das Publikum belohnte es mit lautem Jubel. Dennoch war es ein gefährliches Opfer, und die geheimen Feinde, deren gar manche mit auf den Bänken der Abgeordneten saßen, mochten wohl kaum ein Lächeln zurückhalten können, als sie die wiederholten Fehler derjenigen sahen, die die Freiheit retten sollten.

Nach dieser Erklärung folgten nun noch Verhandlungen und Reden über das eigentliche Resultat dieser Versammlung, das darin bestand, daß für den ersten Mai ein definitives Parlament, aus allgemeinem Stimmrecht hervorgegangen, sich in Frankfurt versammeln solle, um über die Zukunft Deutschlands zu entscheiden. Ein Freudenschrei inner- und außerhalb der Paulskirche begrüßte diesen Beschluß, der augenblicklich draußen den die Kirche umgebenden Volksmassen bekannt gemacht wurde. Ich war wie von einem Schwindel des Glücks erfaßt; ich sah meine Träume Wahrheit werden, eine reiche, freie, lebensvolle Zukunft sich für Deutschland öffnen. Um sechs Uhr abends wurde das Vorparlament geschlossen. Die Abgeordneten verließen die Kirche wieder in Prozession, während das jubelnde Volk ihnen Blumen auf den Weg streute. Ich hatte es nicht bemerkt, daß ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte, ich dachte nur an Deutschland und an den ersten Mai. Ach, ich überlegte in meiner Freude nicht, daß jeder Verzug, in einem Augenblick der Entscheidung, verderblich ist, und daß um zu siegen, man dem Feind nie die Zeit lassen muß, sich zu sammeln.

Als ich zurückkehrte, fand ich niemand zu Haus. Es war mir lieb, denn ich hatte nötig, allein zu sein, um mich ungestört den Empfindungen hinzugeben, die mein Herz füllten. Ich setzte mich an das offene Fenster, durch das der Frühlingswind mir Blütenduft zuwehte. Aus einem nahen öffentlichen Garten, wo das Abschiedsfest der Abgeordneten stattfand, tönte mir die Marseillaise, von einem Musikkorps gespielt, entgegen – dieser schöne Gesang der Freiheit, der wie die Memnonssäule erklingt, wenn die Sonne aufgeht. Ich war selig müde und genoß jene wunderbare, schöne Stimmung, wo das persönliche Sein sich aufgelöst fühlt in ein großes universelles Empfinden. Ich hatte dem Gang der Geschichte noch so wenig beigewohnt, um zu wissen, daß die Menschheit nicht so plötzlich in neue Phasen tritt; daß die Augenblicke, wo alles reine Hoffnung ist, nur wie Blitze das Ziel erleuchten, nach dem die Massen auf langem, mühevollem Weg hinstreben, der oft abgelenkt und unterbrochen wird durch die Unwissenheit und Schwäche, noch öfter aber durch das Vergessen der Maxime, die schon Christus aufgestellt hat, »daß man den jungen Wein nicht in alte Schläuche füllen darf«.

Einige Zeit nach den oben erzählten Begebenheiten wurde beschlossen, daß meine Mutter mit uns Töchtern in unsere kleine nordische Residenz zurückkehren sollte, um sich daselbst für immer niederzulassen, denn das Vermögen, das uns blieb, erlaubte uns nicht mehr wie früher zu reisen, oder mit dem Aufenthaltsort zu wechseln. Die Notwendigkeit, Frankfurt zu verlassen, war mir wie ein Todesurteil. In einigen Wochen sollte diese Stadt das Zentrum der nationalen Entwicklung werden, alle großen Entscheidungen sollten da getroffen werden, die besten deutschen Männer sollten sich da versammeln – und ich sollte in einen kleinen Winkel zurückkehren, den der große Lebensstrom nicht einmal berühren würde! Ich fühlte einen grenzenlosen, vernichtenden Schmerz. Ich wußte, daß ich eine große Kraft der Entsagung besaß für alles, was die Menschen gewöhnlich Glück nennen. Aber dem entsagen, was das geistige Leben fördert – sich ausschließen müssen von den großen Ereignissen des Lebens der Menschheit, von den Eindrücken, die uns über uns selbst und die Kleinheit der Existenz erheben – das war für mich stets der untragbarste Schmerz und schien mir die wahre Sünde gegen den heiligen Geist. Das große Recht der Individualität an alles, was ihr nötig ist, um alles zu werden, was sie werden kann, stellte sich mir in bitterer Klarheit dar. Daß es erlaubt sei, jede Autorität zu brechen, um dieses Recht zu erobern, war mir keinem Zweifel mehr unterworfen. Aber leider gehört zu der Erreichung dieser moralischen auch die ökonomische Unabhängigkeit. Bis dahin hatte man die Unabhängigkeit der Frau nur zugestanden, wenn sie Vermögen hatte. Aber die, die keins hatte, was sollte sie tun? Zum erstenmal stellte sich in meinen Gedanken die Notwendigkeit der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau durch ihre eignen Anstrengungen fest. Für den Augenblick konnte ich jedoch nichts anderes tun, als mich in mein Schicksal fügen, denn ich hatte nicht den Mut, mich plötzlich von den Meinen zu trennen, und ich konnte es nicht, weil die Einkommenfrage meiner Mutter noch nicht entschieden war. Aber ich war fest entschlossen, im Fall sie das Ihre nicht bekäme, ihr meinen Teil der Erbschaft zu lassen und Erzieherin zu werden.

Wir verließen Frankfurt. Ich empfand das doppelte Weh, das Grab meines Vaters und die Geburtsstadt von Deutschlands Zukunft hinter mir zu lassen. Als wir schieden, war es, als wollte mein Herz brechen, und als wir in das grüne enge Tal einfuhren, in dem unsere nunmehrige Heimat lag, war es mir, als schlösse sich über mir das Grab und als gäbe es für mich hinfort weder Leben noch Zukunft mehr.

Während der Reise hatte ich noch ein paar frohe Augenblicke. Unser Eisenbahnzug war außerordentlich lang. Es befanden sich darin eine Masse Freiwilliger, die nach Schleswig-Holstein gingen, um sich dort für die deutsche Nationalität zu schlagen. Die Waggons waren mit Fahnen und Blumen geschmückt. Auf jeder Station glitt ich aus dem Wagen, um diese frische, begeisterte Jugend zu betrachten. Ich beneidete sie um die Freiheit, ihren Teil Gefahr an dem allgemeinen Werke nehmen zu können, während ich nicht einmal von meinen Sympathien sprechen durfte und dahin gehen mußte, wo nichts zu tun war. Auf einer der Stationen sah ich einige Polen, die in ihre Heimat eilten, da sie dort auf eine Erhebung hofften. Die jungen Freiwilligen sprachen ihnen in heiteren Worten Mut ein und sagten: »Wenn wir da unten (in Schleswig-Holstein) fertig sind, kommen wir euch zu helfen.« Die Jugend in ihrer großmütigen Begeisterung kannte den Zweifel nicht am Gelingen der Revolution und am Siege der Freiheit. Sie kannte noch die kleinlichen nationalen Eifersüchteleien nicht, die sich nur allzubald entwickelten und ebensowohl von den Demokraten als von den Reaktionären genährt wurden, und die einen bekannten Demokraten sagen ließen: »Wenn der Haß zwischen Slaven und Deutschen noch nicht existierte, so müßte man ihn schaffen.« Traurige Worte, deren Resultate nur den Tyrannen zugute kamen!

In ihrem großmütigen Eifer fanden die jungen Leute es sehr natürlich, den Deutschen zu helfen, Deutsche zu sein, und den Polen zu helfen, Polen zu sein. Gewiß hätte keiner von ihnen angestanden, den Polen denjenigen Teil ihres Landes wieder herauszugeben, den Deutschland, nach jener grausamen Teilung, unrechtmäßig besaß. Wie mein Herz diesen großmütigen Worten Beifall zollte! Wie wenig es mir in den Sinn kam, daß diese frischen Lippen, die jetzt so hoffnungsreich Worte des Mutes und der Begeisterung sprachen, in wenigen Wochen für immer stumm, daß diese leuchtenden Augen geschlossen sein würden, um sich nicht mehr zu öffnen, daß dieses Blut umsonst vergossen sein würde.

Die große Bewegung hatte doch auch ein schwaches Zucken in unserer kleinen, abgelegenen Residenz verursacht. Revolutionäre Szenen hatten vor unserer Ankunft stattgefunden. Man hatte sich vor dem alten Schloß, in dem wir einst die Marseillaise gesungen hatten, versammelt, um die Zusammenberufung der Kammer zu fordern, die unter der Regierung dieses Fürsten nie zusammengetreten war. Der Fürst hatte natürlich nachgeben müssen, da die zwei Kanonen, die das Arsenal ausmachten, einer abschlägigen Antwort wohl keinen Nachdruck hätten geben können. Es war vorauszusehen, daß die Kammer, die aus einigen dreißig Deputierten bestand, zunächst das Budget nachsehn und die hohen Ausgaben für das Theater streichen würde. Der Erbprinz, der, nach deutscher Sitte, sich im Militärdienst eines großen Staates »würdig« für seine dereinstigen Regentenpflichten vorbereitete, war zur Zeit nicht anwesend, sonst würde er vielleicht versucht haben, seinen Vater von solchen Konzessionen zurückzuhalten. Er war sehr durchdrungen von den Vorzügen seiner Stellung von Gottes Gnaden und hatte gegen eine Dame, die in der Stadt lebte, wo er in Garnison stand, in einem Gespräch über die Pariser Februarrevolution geäußert: »Wenn wir auf Paris marschieren, so werden wir, glaube ich, Heinrich V. auf den Thron setzen und nicht die Orleans, denn die Legitimität muß konsequent sein.«

Einige der höheren Angestellten, gegen die sich der Zorn des Volkes mit Fenstereinschlagen, Auspfeifen in den Straßen und andern mehr geräuschvollen als gefährlichen Demonstrationen kundgegeben hatte, gingen mit niedergeschlagenen Augen, mit eingeschüchtertem und gedemütigtem Aussehn einher, während sie früher durch eine gewisse Arroganz und durch Vornehmtun gegen Geringere bekannt gewesen waren. Ein junger Mann, den man früher als eifrigen Demokraten gemieden hatte, war jetzt der Löwe des Tages. Er stand an der Spitze der Bewegung, redete zu dem Volk, beruhigte den Aufstand und empfing mit herablassendem Lächeln (denn er war kein ernster Mensch) die Danksagungen gedemütigter Vornehmen, die er durch seine Dazwischenkunft beschützt hatte.

Alles das hatte etwas Kleinliches und Lächerliches, denn diese kleinen Bewegungen nahmen die Formen und Namen der großen Bewegung an und waren nur tragikomisch. Man hätte in ihnen Stoff gefunden, um die Revolution besser zu verspotten, als Goethe es mit der großen Revolution seiner Zeit getan. Dennoch war auch in diesen kleinen Vorgängen eine ernste Seite. Es war der Aufschrei der Unterdrückten gegen die »kleinen« wie die »großen« Tyrannen.

Die »Kleine« war nicht daheim, als ich zurückkam. Sie war zu Besuch bei ihrem Großvater und einem der größten Mittelpunkte der Bewegung nahe. Sie wurde aber in Kürze mit ihrem Bruder zurückerwartet. Mit welcher tiefen inneren Seligkeit sah ich diesem doppelten Wiedersehn entgegen! Es war das Licht, das in meine Seele zurückkehren sollte. Ich hatte es sehr nötig. Die Briefe Theodors waren in den letzten Wochen immer kürzer und seltener geworden, ja hatten endlich ganz aufgehört. Es war eine schmerzvolle Entbehrung für mich, aber ich entschuldigte ihn völlig wegen der sich überstürzenden Ereignisse, in denen er ganz und gar aufging. In meiner Seele stieg auch nicht der leiseste Zweifel auf; das Band, das uns vereinte, war heiliger als das, das der Priester segnet; es war das Band einer Liebe ohne Berechnung und eines Vertrauens ohne Grenzen.

Ich besuchte sehr häufig seine Mutter, mit der sich eine neue Intimität, auf anderer Grundlage wie die frühere, gebildet hatte. Sie war ihrem geliebten Sohn zum Teil in die Freiheit gefolgt. Sie selbst blieb eifrige Christin, aber sie war entschiedene Demokratin geworden und tolerant bis zu solchem Grade, daß sie es verstand, wie ihre Kinder und ich dem Ideal treu bleiben konnten, auch wenn wir uns von den christlichen Dogmen lossagten. Bei ihr fand ich die Sympathie, die mir im eigenen Haus versagt war, und wenn mein Herz zu voll war, ging ich, es bei ihr zu erleichtern. Eines Tages saßen wir auch in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa beieinander, und sie las mir aus den Briefen ihres Sohnes vor, in denen er ihr die Schilderung der Ereignisse gab, an denen er teilgenommen hatte. Er schrieb, daß sein ganzer Tag der Teilnahme an den öffentlichen Ereignissen gewidmet sei, und »am Abend«, fügte er hinzu, »eile ich in den kleinen Garten in die Laube; ich helfe die Wolle wickeln, während wir friedlich plaudern; das ist meine Erholung«.

Wenn ein vergifteter Pfeil urplötzlich inmitten eines friedlichen Festes das Herz trifft, kann die Wirkung nicht schrecklicher sein, als die war, die das Lesen dieser wenigen Zeilen bei mir hervorbrachte. Wem gehörte dieser Garten, diese Laube? Wem leistete er die kleinen Dienste? Welches waren diese Plaudereien, die seine Erholung ausmachten? Alles das schien seiner Mutter so wohl bekannt, daß sie ohne ein Wort der Erklärung darüber wegging. Warum wußte ich allein nichts davon? Ich war zu stolz, um zu fragen, aber ich fühlte einen eisigen Hauch über das wehen, was noch einige Augenblicke zuvor eine blühende Oasis in der Wüste meines Lebens gewesen war. Während ich scheinbar noch dem Rest der Vorlesung zuhörte, mein Sinn aber wie versteinert an dieser einzigen Stelle haften blieb, öffnete sich leise die Stubentür und der Kopf der »Kleinen« im Reisehut schaute herein, hinter ihr der des Bruders. Sie hatten zu Haus eine Überraschung machen wollen, die Zeit ihrer Ankunft nicht vorausgesagt.

Das war denn das Wiedersehn, dem ich mit allem, was heilig und liebend in mir war, entgegengesehen hatte!

Er reichte mir die Hand mit befangenem Wesen; ein flüchtiger Druck war der einzige Gruß nach dieser langen, traurigen Trennung, nach den harten Verlusten, die ich erlebt, nach den unerwarteten Ereignissen, die unsere teuersten, gemeinsamen Hoffnungen zu verwirklichen versprachen. Die »Kleine« drückte mich mit Inbrunst an ihr Herz und sah mich wehmutsvoll an; meine Trauerkleider mochten die Spuren der Leiden, die ich durchgemacht hatte, noch mehr hervorheben, und sie mochte in meinem Antlitz vielleicht den Ausdruck einer plötzlichen Offenbarung lesen, deren Ursache sie kannte und deren Wirkung sie fürchtete.

Ich verließ sie bald, denn ich hatte es nötig, allein zu sein, um dem Unglück, das, obgleich noch nichts gesagt war, drohend vor mir aufstieg, in das Angesicht zu sehen.

Wer könnte die Trauer, die Qual der Wochen, die folgten, beschreiben? Ich sah ihn einigemal bei uns und an anderen Orten, aber es war nicht mehr wie sonst. Es kamen und gingen keine Briefe mehr; keine flüchtigen vertrauten Worte, keine beredten Blicke, die dem einen Herzen Botschaft vom anderen brachten, wurden mehr gewechselt. Er vermied es nicht gerade, allein mit mir zu sein, aber unsere Unterhaltung betraf allgemeine Gegenstände, als hätte es nie persönliche Beziehungen zwischen uns gegeben. Die »Kleine« war noch zärtlicher gegen mich wie früher, aber sie war offenbar verlegen und unsere Beziehungen waren peinlich. Ich kämpfte zugleich mit meinem Stolz, mit der Zärtlichkeit und der Unmöglichkeit zu glauben, daß eine Liebe wie die unsere sterben könne. Ich fühlte den Stachel der Eifersucht gegen ein unbekanntes Etwas, das mir seine Liebe entzogen hatte; was mich aber am bittersten verletzte, das war eben dies, daß er nicht frei genug war, um mir alles zu sagen, wie ich es so oft von ihm erbeten hatte. Wenn er mir frei bekannt hätte, was in seinem Herzen vorging, so hätte ich sein Vertrauen mit der Ehrfurcht vor der Freiheit aufgenommen, die er selbst geholfen hatte zu entwickeln. Sein Schweigen aber und seine anscheinende Gleichgültigkeit waren eine grausame, abscheuliche Beleidigung und seiner und meiner unwürdig. Nach einigen Wochen, in dieser Qual verlebt, hörte ich, daß er nach Frankfurt ginge, um den Sitzungen des Parlaments beizuwohnen. Ich erwartete mit tödlicher Angst einen Abschied, der aufklären und gutmachen werde – ein einfaches und edles Geständnis, so wie er es der heiligen Freundschaft, die unsere Liebe hätte überleben müssen, schuldig gewesen wäre; nichts von alledem kam. Ein kurzer Abschiedsbesuch, bei dem meine Schwestern zugegen waren, ein Händedruck wie einer einfachen Bekannten – das war alles.

So ging mir dieser Stern unter, dessen Licht allein die Nacht meines Daseins erleuchtet hatte. So endete diese Liebe, die mich in allen Leiden aufrecht erhalten hatte und beinahe der Anker des Heils für meine Seele geworden war, der ich so viel geopfert hatte und noch mehr zu opfern bereit gewesen wäre!

Ich konnte noch nicht daran glauben, ich konnte den Gedanken nicht fassen, daß ein Gefühl, das so tief, so unauslöschlich in mir war, in ihm hätte sterben können. Ich sagte mir, daß dies nur eine vorübergehende Phase wäre, daß er zu dem Bund zurückkehren würde, den die Freiheit gesegnet hatte. Dennoch wollte ich Gewißheit haben: die unbestimmten Qualen waren nicht zu ertragen. Einige Tage nach seiner Abreise ging ich zu der »Kleinen« und bat sie, mir die Wahrheit zu sagen, ohne irgend etwas zu mildern oder zu verstecken. Sie zögerte einige Augenblicke, es wurde ihr schwer, mir zu antworten; aber sie blieb unserer Freundschaft würdig und sagte mir einfach, daß ihr Bruder eine Neigung für die Frau seines besten Freundes gefaßt habe, in der Stadt, wo er das letzte Jahr verbracht hatte; daß sie die Neigung erwidere, obgleich sie ihren Mann hoch verehre; daß beide mit diesem letzteren darüber gesprochen hätten, der sich höchst edel benommen habe, und daß auf gemeinsamen Beschluß Theodor die Stadt für längere Zeit verlassen hätte.

Ich konnte zuerst kein Wort sagen nach diesem Bekenntnis. Im Zustande der Ungewißheit, des Zweifels, verlangt man heiß nur nach dem einen: Gewißheit; auch die schrecklichste Wahrheit scheint besser als der Zweifel. Wenn aber das Urteil unwiderruflich gefällt, wenn die trostlose Wirklichkeit entschleiert ist, was gäbe man nicht, um wenigstens für Augenblicke den Zweifel, die Möglichkeit, noch zu hoffen, zurückrufen zu können!

Endlich fragte ich: »Warum mir nicht davon sprechen?«

Die »Kleine« antwortete mir, daß sie ihren Bruder auch dringend aufgefordert habe, mit mir darüber zu reden, daß er sich aber nicht dazu habe entschließen können, indem er selbst überzeugt sei, daß jene Neigung nur ein vorübergehendes Gefühl sein werde, von dem er mir keine Rechenschaft geben könne. Die »Kleine« überhäufte mich mit Zärtlichkeit und Liebe, aber ich konnte auch selbst ihr nicht den Abgrund von Schmerz zeigen, der sich in mir geöffnet hatte. Es war die Öde und die Einsamkeit des Grabes.

Zu Haus verriet ich nicht mit einer Silbe mein trauriges Geheimnis. Ich wollte Theodor noch bewahren vor dem Haß, den die Meinigen gegen ihn gefühlt haben würden, hätten sie die ganze Tiefe meines Schmerzes gekannt. Aber in der Nacht, als ich allein war, fing ein Kampf zwischen Tod und Leben in mir an. Mein Herz schlug, als wollte es seine Bande sprengen, und der Tod wäre mir eine willkommene Erlösung gewesen. Endlich aber hörte ich, (wie schon so oft in meinem Leben) eine Stimme aus der Tiefe meiner Leiden herauf, die mir sagte: »Sterben wollen, um nicht mehr zu leiden, ist Schwäche. Lebe für das Ideal, um das Gute in dir und um dich her zu vollbringen!« Und als der Tag kam, hatte ich das Leben mit seinen harten Konsequenzen von neuem auf mich genommen, aber es schien mir, als wäre ich nicht mehr ich selbst. In solchen Nächten wie die, die ich verbracht hatte, entschieden sich die Geschicke der Menschen. Wenn der Mensch siegreich daraus hervorgeht, so ist es, um auf ewig ein Diener, ein Kämpfer der Idee zu sein. Zufolge der verschiedenen Naturen wird diese Idee zum Fanatismus, der das Individuum verschlingt und an die Stelle der persönlichen Selbstsucht die starre Selbstsucht eines Prinzips setzt, wie bei Ignatius von Loyola, oder sie wird zur Flamme der weltumfassenden Liebe, die alle erlösen möchte, wäre es auch mit dem Opfer des eignen Selbst, wie bei Jesus von Nazareth. Oder endlich, in Verhältnissen, die weniger zur äußern Tat treiben, wird sie der Schild der eigenen persönlichen Würde, die unversehrt aus jedem Kampf hervorgeht und über alle Enttäuschungen siegt.

Ich versenkte mich mehr als je in meine Studien, und besonders suchte ich solche Lektüre, die auf die Ereignisse des Tages Beziehung hatte. Mehreremal die Woche ging ich zu der »Kleinen« und las mit ihr und ihrer Mutter. Beide hatten ihre Zärtlichkeit gegen mich verdoppelt, gleichsam wie um den Sohn und Bruder zu entschuldigen, obgleich nie ein Wort mehr, ihn betreffend, zwischen uns gewechselt wurde. Wir lasen unter anderem zusammen Fichtes Reden an die deutsche Nation. Sie schienen für den Augenblick, in dem wir uns befanden, geschrieben, und waren ein Beweis dafür, wie lange Zeit ein Volk braucht, um seine Propheten zu verstehen. Die Ideen über die Volkserziehung interessierten uns am meisten; wir besprachen sie mit Begeisterung. Die Notwendigkeit, diese Erziehung auch auf die Frauen auszudehnen, wurde mir klar. Dieser Gedanke beschäftigte mich Tag und Nacht. Wie könnte ein Volk sich selbst regenerieren und frei werden, wenn seine eine Hälfte ausgeschlossen wäre von der sorgfältigen, allseitigen Vorbereitung, die die wahre Freiheit für ein Volk ebensowohl wie für die Individuen verlangt? Wie könnte die Frau, in deren Händen die erste Erziehung des künftigen Staatsbürgers liegt, sein Herz und seinen Geist zur Erkenntnis seiner Pflichten heranbilden, wenn sie selbst sie nicht kennt, wenn sie kein Band zwischen sich und dem Leben ihres Volkes fühlt? Wie könnte der Mann je in vollem Umfang seine Pflicht im öffentlichen Leben tun, wenn ihm daheim am häuslichen Herd nicht ein großes Frauenherz zur Seite stünde, das teilnimmt an seinen großen Interessen und bereit ist, ihnen, wenn es sein muß, sogar das persönliche Glück zu opfern?

Inzwischen hatte sich die Kammer unseres kleinen Ländchens versammelt, ebenso wie die Kammern aller deutschen Einzelstaaten, ungeachtet des in Frankfurt tagenden Parlaments. Unter den Abgeordneten befanden sich einige wenige aufrichtige Demokraten, zugleich gebildete und interessante Männer. Die »Kleine«, die in dieser Beziehung ebenso mächtig in ihrem Hause war, wie ich ohnmächtig in dem meinigen, vermochte ihre Eltern leicht, diese Herren, zusammen mit einigen anderen ausgezeichneten Demokraten der Stadt, öfter abends bei sich zu vereinen. Unter den letzteren zeichnete sich besonders ein junger Mann aus, ein philosophischer Geist, radikal in seinen Ansichten, ein edler Charakter und unerschütterlich konsequent in Wort und Tat. Er war ein Universitätskamerad Theodors und, wie dieser, Theolog gewesen, hatte sich aber auch wie dieser völlig von der Theologie losgesagt. Er war mir von Anfang an besonders interessant und bezeigte auch mir warme Sympathie. Wir besprachen in diesen Vereinigungen alle Lebensfragen der Zeit, besonders die sozialen, die uns allen weit wichtiger erschienen, als die politischen. Ich begann die verschiedenen sozialen Systeme zu studieren; jener junge Mann (den ich vorzugsweise den »Demokraten« nennen will) gab mir die Bücher. Eine der Fragen, die am meisten zwischen uns besprochen wurde, war die Abschaffung des Erbschaftsrechts. Die Idee ergriff mich mächtig, sie schien mir einen ganzen Kodex einer neuen Moral zu enthalten.

Das persönliche Eigentum, die Frucht der Arbeit abzuschaffen, schien mir ungerecht, wo nicht unmöglich. Daß aber das Eigentum mit dem Tode dessen, der es erworben, aufhöre, fand ich vernünftig. Zunächst würde das die ungeheure Macht des Kapitals beschränken und die Eltern zwingen, ihren Kindern eine solche Erziehung zu geben, daß sie durch eigene Anstrengung selbständig werden könnten. Jedes Individuum würde zur Arbeit greifen müssen, um leben zu können, und damit würde vielen Lastern vorgebeugt werden, die aus der Faulheit infolge angeerbter Reichtümer entspringen. Je mehr ich diese Idee in mir durchdachte, desto vernünftiger erschien sie mir.

Diese Vereinigungen und diese Studien gaben meinem Leben wieder einigen Reiz. Doch mußte ich immer schwer dafür büßen, denn sie mißfielen meiner Familie im höchsten Grade. Unser Arzt, der zugleich Freund des Hauses und in der Stadt als einer der bedeutendsten Männer angesehen war, fand eines Tages auf meinem Schreibtisch die »Soziale Politik« von Julius Fröbel aufgeschlagen liegen. Er war empört darüber und sagte meiner Mutter, daß er seiner Tochter niemals erlauben werde, ein solches Buch zu lesen. So groß waren noch die Vorurteile und die Beschränktheit der Ansichten damals in den gebildetsten Kreisen in Deutschland! Meine Mutter wußte, daß sie in meiner Lektüre keine Vorschriften mehr geben konnte, denn dazu war ich nicht mehr jung genug, aber es war ihr äußerst peinlich, und sie zeigte es mir offen, wie sehr ihr solche Studien mißfielen. Die anderen Mitglieder der Familie vermieden mich fast und sahen mich wie ein verlorenes Wesen an. Wenn ich abends von meinen Freunden heimkehrte, erwiderte man kaum meinen Gruß, setzte das Gespräch mit doppeltem Eifer fort, um mir nicht die Zeit zum Sprechen zu lassen, oder man schien so vertieft in die Arbeit, daß man meinen Eintritt nicht bemerkte. Ich setzte mich zu den Mahlzeiten und Familienzusammenkünften mit dem bitteren Gefühl nieder, als eine Schuldige angesehen zu werden für Überzeugungen, die allein mir das Leben noch erträglich machten und ihm einen Wert gaben. Ich kann nicht sagen, was ich litt, und meine Leiden wurden noch vermehrt durch das Bewußtsein, anderen auch solche zu verursachen, denn meine Mutter besonders litt grausam, eine von ihr so sehr geliebte Tochter auf dem, ihrer Ansicht nach falschen Wege zu sehen und sie ausgestoßen zu wissen aus der Gesellschaft, in der sie einst ein Liebling gewesen war. Meine früheren Bekannten vermieden mich jetzt wirklich ganz offen. In meiner Gegenwart wurde das Gespräch gezwungen, man vermied seine Gesinnungen auszusprechen, ich schwieg über die meinigen. Um das Anathem, unter dem ich lebte, zu vollenden, erhielten meine Mutter und meine Schwestern eines Tages eine Einladung zu einem Diner am Hof, von der ich ausgeschlossen war. Das war der offene Krieg; ich gehörte zu den Feinden der Monarchie und die kleinen Götter unseres Olymps rächten sich an mir durch ihre Nichtachtung. Für meine Mutter war es ein schwerer Schlag; ihr Stolz empörte sich, und sie lehnte die Einladung ab; meine Schwestern allein gingen hin.

Außerdem aber fühlte meine Mutter sehr wohl, daß ich eine tödliche Wunde im Herzen trug. Sie haßte von nun an den Urheber meiner Leiden, um so mehr, da sie noch immer glaubte, daß er allein an meinen Verirrungen schuld sei; ich verriet jedoch nie mit einem Wort, was vorgegangen sei. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn angeklagt zu sehen, und ich glaube, daß es für die wahre Liebe keinen bitterern Schmerz gibt, als die Schuld des Geliebten eingestehen zu müssen. Man kann sie sich selbst in Gedanken längst eingestanden haben, aber sie von andern verurteilen zu hören, ist unerträglich. Auch konnte ich es nicht ertragen, bedauert zu werden, und ich glaube auch, daß jeder tiefe Schmerz diese stolze Scham hat.

Aber je weniger ich davon sprach, desto gewaltiger war mein Leiden. Ich hatte einige Zeit nach dem Bekenntnis der »Kleinen« an den Bruder geschrieben; ihm gesagt, daß ich alles wüßte; daß das einzige, woraus ich ihm einen Vorwurf mache, das sei, nicht eine höhere Idee von mir gehabt und mir alles selbst gesagt zu haben. Ich fügte hinzu, daß ich noch vollständig für ihn in dieser unglücklichen Neigung fühlen könnte, und daß ich weiter nichts verlange, als unsere Freundschaft fortzusetzen, die Vertraute seines inneren Lebens zu bleiben. Es schien mir, als müßte dieser Brief den Weg zu seinem Herzen finden. Die uneigennützigste Liebe, die über sich selbst gesiegt hat, hatte ihn diktiert.

Dennoch blieb er ohne Antwort! Ich begriff dies grausame Schweigen nicht, das eine andere Saite in meinem Herzen zerriß. Aber die grenzenlose Liebe, die ich für ihn gehabt hatte, wollte nicht sterben.

Ach, wenn die Männer die Tiefe und Selbstlosigkeit der wahren weiblichen Liebe kennten, sie würden anders handeln. Wenn, durch eine jener seltsamen Strömungen, die ein Herz zum andern ziehen, eine zweite Liebe die Stelle der ersten einnimmt, so müßte der Mann immer den edlen Mut haben, dies zu bekennen und müßte so der Frau, die er geliebt hat, es möglich machen, ihm die Freundschaft zu bewahren, die jeder Liebe folgen soll. Er würde dadurch dem Schmerz seinen bittersten Stachel nehmen. Eine Liebe, die ebensowohl die Vereinigung zweier Intelligenzen wie zweier Herzen war, müßte Freundschaft bleiben, wenn sie aufhört Liebe zu sein, und die Befriedigung der Intelligenz würde die Leiden des Herzens mildern, bei einer Frau, deren Geist ebenso entwickelt wäre, wie ihr Herz.

Die Verhandlungen des Frankfurter Parlaments dauerten fort, und auf der Rednerbühne daselbst ertönten herrliche Reden, in denen die edelsten Ansichten über die höchsten Fragen der Menschheit entwickelt wurden. Man sah es bei dieser Gelegenheit recht, welch ein Volk von Denkern das deutsche Volk gewesen war, und wie schnell dem vorbereitenden Gedanken sich nun die Worte, ja glänzende Rednergaben zur Verfügung stellten, wie andere Völker sie erst in langer parlamentarischer Übung entwickeln. Noch war auch jedes Herz gläubig und zweifelte nicht, daß dieser glänzenden Reife der Anschauungen, diesem hohen Flug der Gedanken das praktische Können zur Seite stehen werde. Die Grundrechte des deutschen Volkes erschienen, kurz, prägnant, alles umfassend, was ein Volk braucht, um glücklich und mächtig zu werden. Sie wurden, als Flugblätter gedruckt, durch ganz Deutschland verbreitet, und es gab fast keine Hütte, wo man sie nicht an die Wand angeschlagen und voller Hoffnung gelesen hätte. Ich selbst brachte mehr als eins dieser Blätter in die Wohnungen der Armen, die ich noch eifriger besuchte wie früher, denn ich konnte ihnen ja nun die gute Nachricht bringen und ihren Blick auf eine bessere Zukunft lenken. Ich begriff jetzt, warum die Priester und ihresgleichen es so leicht haben, das Volk zu trösten. Sie brauchen ihm nur das Paradies hinter den Wolken zu versprechen, das es für ein Leben voll Elend entschädigen soll, wobei ihre Verantwortlichkeit nicht in Gefahr kommt. Die Demokratie aber hatte eine schwerere Aufgabe übernommen. Sie wollte dem Volke die Erde geben, ihm die Möglichkeit schaffen, ein menschenwürdiges Dasein hienieden zu führen. Es war unendlich schwerer, dies neue Evangelium zu predigen, denn hier mußte man seine Versprechungen wahr machen. Doch fing das Volk an zu hoffen und zu begreifen, daß ein Tag kommen könne, wo der alte Fluch, den es allein geerbt hatte, gehoben werden könne. Ein armes Weib, das mit vielen Kindern in einer wahren Höhle lebte und von Krankheit, Hunger, Elend jeder Art zu einem Skelett geworden war, sagte mir unter strömenden Tränen: »Ja, wenn es so ist – wenn meine Kinder ein besseres Leben erwartet, dann will ich gern gelitten haben.«

Die schönste der Frankfurter Verhandlungen war die über den öffentlichen Unterricht. Was Fichte und andere Patrioten einst verlangt hatten, war erfüllt, ja übertroffen. Ich vergoß Freudentränen, als ich diese Verhandlungen las. Ein Volk von vierzig Millionen Seelen hatte nicht nur durch die Grundrechte die Garantie alles dessen, was zu einer menschlichen Existenz gehört, erlangt, durch die Annahme der Beschlüsse über den öffentlichen Unterricht erhielt es auch die Garantie eines geistigen Lebens durch das Mittel der Erziehung. Wissenschaften und Künste sollten nicht mehr von den begünstigten Klassen monopolisiert werden; ihr tröstendes Licht sollte in die Hütte des Armen, wie in den Palast des Reichen, dringen. Der Unterricht war obligatorisch. Bis zu einem gewissen Alter durften die Kinder nicht zu einer andern Arbeit als der der Schule verwendet werden, damit sie später, wenn auch die Arbeitszeit vernünftig beschränkt sei, am häuslichen Herd die Freude des geistigen Lebens, die ihnen der Unterricht eröffnet hatte, finden könnten – diesen neuen Gast, der überall sich im Kreise der Familien niederlassen und den Stall des Lasttiers in eine Wohnung menschlicher Wesen verwandeln sollte.

Im Herbst kam Theodor von Frankfurt zurück. Aber nur auf wenige Tage. Er war zum ersten Redakteur einer der bedeutendsten demokratischen Zeitungen in Norddeutschland ernannt. Es war dies für den Augenblick die beste Tätigkeit für ihn, da die Presse nun frei war und so viel neue Ideen zu verbreiten waren, die der Entwicklung helfen sollten. Außerdem war es auch pekuniär eine vortreffliche Stellung. Ein Jahr früher hätte dieser Umstand unser beiderseitiges Leben verändert, denn unsere Vereinigung wäre die unmittelbare Folge davon gewesen, jetzt wurde er ein Grund zu weiterer Trennung. Völlig von meiner Familie geschieden, die ihn haßte, kam er nur zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch, und ich sah ihn nur zwei- oder dreimal ganz flüchtig. Ich war mehreremal auf dem Punkt, zu ihm hinzugehen und zu ihm im Namen jener Freundschaft zu sprechen, die nur durch sein grausames Verstummen einen anderen Charakter erhalten hatte. Es schien mir unmöglich, daß er mir anders als mit jener sanften Freundesstimme antworten könne, die so lange der Trost meines Lebens gewesen war. Wenn er mir gesagt hätte: »Verzeihe mir! Ich war zu jung, um mein eigenes Herz zu kennen; bleibe meine Freundin« – hätte ich ihn nicht verstanden? Aber er hatte nicht den moralischen Mut, den Mut der wahren Freiheit, die sich bedingt fühlt und es einzugestehen wagt. Eine Dame, die ihn auch sehr lieb gehabt hatte und unsere Geschichte kannte, sagte mir einige Jahre später: »Seine Trennung von Ihnen ist der einzige dunkle Fleck im Leben dieses Menschen.« Ich kämpfte schmerzlich in mir gegen die Versuchung, mit ihm zu reden, aber der Stolz, der in seiner ganzen Stärke erwachte, sowie das Zartgefühl hielten mich zurück; denn in diesem Augenblick weniger wie in jedem andern wollte ich ihn daran erinnern, daß mein Herz heilige legitime Rechte hatte: die einer Liebe, die auf der Ehrfurcht für die Freiheit beruhte.

Er schied, um seine Tätigkeit zu beginnen. Ich hielt mir natürlich seine Zeitung. Sie trat mit glänzenden Leitartikeln auf, so wie nur er sie schreiben konnte, in denen der unerbittliche Kritiker mit dem begeisterten Poeten zusammenging und nicht nur zerstörte, sondern auch herrlich schuf. Ich las sie mit schmerzlichem Entzücken; hier war er noch immer der Mensch, den ich ganz und überzeugt geliebt hatte. Als sein Geburtstag kam, konnte ich dem Wunsche nicht widerstehen, ihm ein Zeichen der Erinnerung zu geben. Ich schrieb ihm einige Worte, die einfach meine Wünsche für sein Glück ausdrückten. Dieses Mal antwortete er mir auch – nur wenige, aber gute, sanfte Worte, und fügte hinzu, indem er zum erstenmal an die Vergangenheit rührte: »Wir lebten zu ausschließlich einer im andern; es war natürlich, daß ein Bruch kam. Wenn Sie koketter gewesen wären, so hätten Sie die Position anders benutzt, und Sie hätten gesiegt. Es versteht sich, daß ich Ihr Lob singe, indem ich dieses sage.«

Zum ersten Male sah ich es hier, welche Macht die Koketterie selbst über bedeutende Männer hat. Ich hatte von jeher diesen weiblichen Fehler tief verabscheut und hatte geglaubt, daß die Offenheit und Wahrheit eines Gefühls seine edelste Zierde sei. Nach diesem Briefe sagte ich mir mit schmerzlichem Erstaunen, daß, wenn ich hätte rechnen können in meiner Liebe, wenn ich mein Seelenleiden hinter der Anziehung der Intelligenz, die immer stark ist bei einem geistreichen Mann, hätte verbergen können, wahrscheinlich alles anders gekommen sein würde.

Wie viel Gelegenheit hatte ich noch später im Leben, die Schwäche bedeutender Männer koketten und kapriziösen Frauen gegenüber zu bemerken! Dem Manne gefällt die immer zu erneuende Eroberung, die die kokette Frau ihm auferlegt, während die einfache, wahre Frau in ihrer Hingebung nichts anderes verlangt, als das Gebäude des Lebens friedlich im Schatten ihrer Liebe aufzubauen.

Meine Stellung im Hause wurde täglich unerträglicher. Die Meinigen, trotzdem sie edel und gut waren, waren fast grausam gegen mich, nur weil ich andere Ansichten hatte als die ihren, und mit Menschen umging, die ihnen, ihrer Grundsätze wegen, nicht sympathisch waren. Es war die Tyrannei der Familie, die sich in diesem Fall noch auf den bedauernswerten Grundsatz stützte, daß die Frau nicht für sich selbst denken, sondern auf dem Platz, den ihr das Schicksal angewiesen hat, bleiben soll, einerlei ob ihre Individualität dabei untergeht oder nicht. Meine Schwester fragte mich eines Tages: »Gibt es denn wirklich etwas, was du mehr liebst als deine Familie?« und als ich dies bejahte, schüttelte sie traurig den Kopf und sagte: »Ja, dann ist alles klar.« Es war eben die alte Geschichte: man muß Vater, Mutter, Geschwister verlassen, um dem Messias zu folgen. Aber trotzdem ich mich in meinem Rechte fühlte, war ich nicht weniger traurig darüber, daß ich sie leiden machte und daß ich die Kluft sich erweitern sah, die unsere gegenseitige Liebe zu verschlingen drohte.

Die »Kleine« und ihre Mutter taten alles Mögliche, um mich zu trösten, um die Traurigkeit, die mich verzehrte, zu mildern. Aber die Harmonie, die bei ihnen herrschte, ließ mich doppelt das Elend meiner Lage fühlen. Ich empfing daher mit Freude die Einladung einer jungen Berliner Dame, die ich während eines kurzen Aufenthaltes, den sie bei Verwandten in unsrer kleinen Residenz machte, näher kennen gelernt hatte und die mich nun aufforderte, für einige Zeit zu ihr zu kommen. Die »Kleine« beschwor mich, zu gehen, um mich in etwas auszuruhen und zu sammeln. Ich selbst natürlich wünschte es dringend. Die preußische Kammer in Berlin war noch der einzige leuchtende Punkt, der von der Revolution übrig war; das Frankfurter Parlament ging zu Grunde seit der Wahl des Reichsverwesers, Johann von Österreich. Die Freiheit der Entwicklung war von diesem Augenblick an vorbei, und die Reaktion zog mit vollen Segeln, unter dem Schutz des österreichischen Absolutismus und Jesuitismus, wieder ein. In Berlin hielt die radikale Partei noch stand und kämpfte tapfer.

Ich war aber so niedergeschlagen und matt, daß ich kaum den Mut hatte, die Einwilligung zu dieser Reise zu verlangen. Ich fand jedoch keinen großen Widerstand, da man jene junge Dame nicht für exzentrisch hielt, und so konnte ich gehen. Als ich auf der Reise war, fühlte ich mich wie einem Gefängnis entflohen. Dennoch war ich traurig und gebeugt und lebte erst ein wenig auf nach dem herzlichen Empfang, den mir meine liebenswürdige Wirtin bereitete, und als die interessanten Szenen, denen ich beiwohnte, meine Gedanken in etwas von ihrem gewöhnlichen, traurigen Nachsinnen losrissen. Ich hatte Berlin noch nie gesehen und war angenehm überrascht von so manchem Großartigen, was mir hier entgegentrat. Ich fühlte mich befreit von der drückenden Enge der kleinen Verhältnisse und begriff mehr als je, daß dem Menschen Raum nötig ist, Raum für den Gedanken, für die Tat, mit einem Wort: die Freiheit, nach seiner Überzeugung und dem innersten Bedürfen seiner Natur zu leben. Ich ging natürlich oft in die Kammersitzungen und wohnte Verhandlungen von höchstem Interesse bei, wo der entschiedenste Radikalismus stets den Sieg behielt. Die Abschaffung der Todesstrafe und des Adels wurde mit großer Majorität beschlossen. Man ging viel gerader auf das Ziel los wie in Frankfurt.

Doch mischten sich in diese Erfolge schon die dunkelsten Befürchtungen. Die Reaktion erhob siegend ihr Haupt, und man sah einen schrecklichen Kampf nahen, einen Kampf auf Leben und Tod. Ein Freund meiner Wirtin, Abgeordneter der Linken, kam, so oft er einen Augenblick Zeit hatte, uns zu sehen und uns über die Lage der Dinge zu berichten. Schon war das Netz gesponnen und zum Zusammenziehen fertig, in dem die Revolution gefangen und erstickt werden sollte. Meine Freundin und ich waren in großer Aufregung. Wir gingen täglich aus und mischten uns unter die Volksgruppen, die in den Straßen zusammenstanden und leidenschaftlich diskutierten, ohne eigentlich klar zu wissen, was man zu fürchten habe und wie man handeln solle. Bei uns war alles bereit, um im Fall der Not jenen Freund, den Deputierten, aufzunehmen, zu verstecken und ihm fortzuhelfen, denn man fürchtete einen Gewaltstreich gegen die Abgeordneten. Daß man die Kammer auflösen und Berlin in Belagerungszustand erklären werde, schien abgemacht, nach den Truppenmassen zu urteilen, die zusammengezogen wurden. Die Aufregung unter den Arbeitern und den Studenten war ungeheuer. Wir hatten uns am Nachmittag auf den Platz begeben, wo die Kammer tagte, und standen mit einer Menge Arbeiter, alles ernste, entschlossene Menschen, zusammen, denen wir mitteilten, was wir durch den Deputierten wußten. Plötzlich ertönte militärischer Lärm, und zu gleicher Zeit rückte von mehreren Seiten her Kavallerie heran und fing an, den Platz zu besetzen. Den Abgeordneten wurde befohlen, auseinanderzugehen, und sie, nur der Gewalt weichend, zogen nun in geordneter Prozession zum Hause hinaus über den Platz, um sich dann zu verteilen. Es war ein trauriger Anblick, und uns allen, die wir dastanden, kochte das Blut vor Empörung und Schmerz. Die letzte Hoffnung der Revolution war vorbei. Der Belagerungszustand wurde wirklich erklärt. Man fürchtete Widerstand von seiten der Bevölkerung, es konnte zu einem Bombardement der Stadt kommen. Meine Freundin beschwor mich zu gehen, um meiner Mutter willen, da sie vor dieser nicht die Verantwortung des Unglücks, das mir hätte widerfahren können, übernehmen wollte. Ich hätte nun im Gegenteil bleiben mögen, um die Gefahr mit der Freundin und dem Volk zu teilen, die Kindesliebe siegte jedoch und ich beschloß zu gehen, nur um meine Mutter nicht zu tödlich zu ängstigen, aber ich ging abermals mit schwerem Herzen und beneidete meine Freundin, die am Orte bleiben konnte, wo eine große Entscheidung eintreten mußte. Noch einmal erlitt ich die schreckliche Qual, das Zentrum des großen Lebensstromes, den Kampf, der den heiligsten Interessen galt, verlassen zu müssen.

Meine Freundin begleitete mich an den Bahnhof. Wir fanden ihn ganz mit Militär besetzt, das die Abfahrenden überwachte. Die Wartesäle waren gedrängt voll von Menschen, die geradezu flohen, um dem Schicksal, das die Regierung über die Stadt verhängen zu wollen schien, zu entgehen. Es war völlig, als ob der Feind vor den Toren stände. Ganze Familien aus allen Schichten der Gesellschaft drängten sich da zusammen. Die Ärmeren führten ihr Hab und Gut mit sich, Vorräte, Betten, Kleidungsstücke. Die Kinder weinten, die Frauen waren außer sich, die Männer bestürzt. Ich schloß meine Freundin mit heißem Schmerz in die Arme und stieg in den enorm langen Zug. Im Waggon, wo ich saß, wurden die finstersten Möglichkeiten besprochen. Plötzlich hielt der Zug an. In einem Nu waren alle Köpfe heraus, um zu sehen, was es gäbe; man fragte, man schrie; ein großer Teil der Reisenden sprang heraus, obgleich zu beiden Seiten der Bahn tiefe Gräben waren. Endlich erfuhr man, daß das Volk in Potsdam die Schienen aufgerissen und man dem Zug das Signal gegeben habe, zu warten, bis es möglich sei, weiter zu fahren. Die Gespräche, die sich nun entspannen, zeigten, wie sehr die Furcht sich schon wieder der Gemüter bemächtigt habe. Der Geist, der die Märztage hervorgerufen hatte, war im Erlöschen. Der Fall von Wien, der Belagerungszustand in Berlin hatten den Glauben an die Revolution erschüttert. Die Reaktion siegte.

Wir kamen in Potsdam erst in der Nacht an. Da war auch alles voll von Soldaten, und es war ein solches Gedränge, daß ich ratlos dastand und nicht wußte, wie ich zu meinem Gepäck kommen sollte. In meiner Verlegenheit war es mir eine angenehme Überraschung, als sich plötzlich ein junger Offizier mir nahte, sich verbeugte, seinen Namen nannte und seine Dienste anbot. Es war ein junger Mann, mit dem ich früher auf Bällen zusammengekommen war; er hatte mich erkannt. Ich nahm in diesem Augenblick seinen Schutz willig an, obgleich er zu den Feinden des Volks gehörte und jeden Augenblick berufen werden konnte, es zu bekämpfen. Er begleitete mich bis zu dem Gartenhause des Großvaters der »Kleinen«, das außerhalb der Stadt lag und woselbst dieser in Zurückgezogenheit vom öffentlichen Leben die Tage des Alters verbrachte. Ich wollte dort für die Nacht um Gastfreundschaft bitten. Ich mußte lange und wiederholt an der Glocke ziehen, bevor man öffnete. Endlich fragte eine Stimme schüchtern, wer da sei. Sobald ich meinen Namen genannt hatte, wurde ich eingelassen. Ich fand den ehrwürdigen Greis mit seinen beiden Töchtern, von denen die eine die geistvolle Tante Theodors war, noch im Salon vereinigt, obwohl es schon spät war. Sie empfingen mich auf die liebenswürdigste Weise und entschuldigten sich, nicht früher haben öffnen zu lassen. Sie hatten aber Furcht gehabt, es könne ein unwillkommener Besuch sein, da man in diesen Tagen mehrere Exzesse gegen einige Würdenträger der Kirche begangen hatte. Sie baten mich freundlichst, einige Tage zu bleiben, und ich nahm es dankbar an, da ich nur zu froh war, noch etwas in der Nähe von Berlin bleiben und die Entscheidung abwarten zu können. Am folgenden Tage kam die erschütternde Nachricht, daß Robert Blum in der Brigittenau bei Wien erschossen worden sei. Das erste Opfer der wütenden Reaktion war also gefallen. Danach konnte man sich nur auf die traurigsten Dinge gefaßt machen. Die Reaktion mußte sich schon sehr stark fühlen, da sie es gewagt hatte, den geliebten Volksmann, einen der besten Charaktere, eine der praktischesten Intelligenzen der ganzen revolutionären Partei, zu töten. Von nun an konnte sie alles wagen.

Mein Herz war schwer von düstern Ahnungen, von Zorn und Schmerz. Ich zitterte noch für ein anderes Leben; für Julius Fröbel, der mit Blum zusammen nach Wien geschickt war und über dessen Schicksal noch nichts verlautete. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur aus Theodors Schilderungen, der eng mit ihm befreundet war, und aus seinen Schriften. Ich war aber seit einiger Zeit mit ihm in Korrespondenz und nahm den innigsten Anteil an ihm. Der Gedanke, daß er Blums Schicksal wahrscheinlich werde teilen müssen, war mir entsetzlich. So verließ ich Potsdam in tiefen Seelenqualen am Abend, um heimzukehren. Außer mir waren im Waggon nur zwei Herren, die ich gleich für Mitglieder der äußersten Rechten des aufgelösten Parlaments erkannte. Ich hatte die Augen geschlossen, schlief aber die ganze Nacht nicht. Die Herren, die sich mit einer Schlafenden allein glaubten, sprachen ohne Rückhalt zusammen. Sie kehrten nach Hause zurück, freuten sich, daß »die Geschichte« vorüber sei, daß die Tage der Ordnung wiederkehren würden, und daß der Pöbel nun endlich haben werde, was er verdiene. Der eine, der ganz eingeweiht schien in das geheime Getriebe der »höhern Politik«, erzählte mit Wohlbehagen, wie die Auflösung der Kammer und der Belagerungszustand längst vorbereitete Maßregeln gewesen seien und wie man nur die Rückkehr der Truppen aus Schleswig-Holstein und »das Ende dieser Geschichte« abgewartet habe, um gegen die Revolution in der Hauptstadt selbst vorzugehen. Der Erzählende ahnte es nicht, daß ein Ohr ihn hörte, das den Sinn seiner Worte anders erfaßte als er. Ich erkannte in dem allem, wie stark die Reaktion sei und wie sie systematisch die Netze ausgestellt habe, um die Revolutionäre zu fangen. Ach, es war deren eigne Schuld! Sie hatten die günstigsten Augenblicke versäumt und hatten nicht das Rechte zu treffen gewußt.

Mein Leben zu Hause wurde traurig, wie zuvor. Alles, was ich von meiner Reise erzählen konnte, brachte bei den Meinigen einen entgegengesetzten Eindruck hervor, wie bei mir; jedes Ereignis, von dem die Zeitungen Nachricht brachten, wurde total anders beurteilt, als wie ich es beurteilte. Meine einzige Zuflucht waren wieder die »Kleine« und ihre Mutter.

Einmal die Woche kamen wir abends dort zusammen, um gemeinschaftlich mit dem »Demokraten« philosophische Bücher zu lesen. Wir fingen mit Schleiermacher an, der den philosophischen Geist auf die Kanzel mitgenommen hatte, und, ohne den vollen Mut des Zweifels und der Kritik zu haben, es dennoch vorgefühlt hatte, daß die freie Prüfung die logische, unvermeidliche Folge des Protestantismus sein müsse. Zwei Jahre früher hätten mich die Gedanken Schleiermachers ganz befriedigt. Da teilte ich noch mit ihm diese Scheu des Herzens, an den letzten Grundlagen der Überlieferung zu rühren und die letzten Folgerungen des philosophischen Gedankens zu ziehen. Jetzt sah ich, daß ich über den religiösen Liberalismus, der sich selbst täuscht, hinaus war. Nachdem ich den bittern Kelch des ersten Skeptizismus, der die Einheit des Wesens schmerzlich stört, getrunken hatte, fühlte ich mich stark und bereit, jeder Tradition zu entsagen, die vor der Prüfung der Vernunft nicht bestehen könne. Ich stimmte daher eifrig dem Vorschlag des »Demokraten« bei, Schleiermacher ruhen zu lassen und Feuerbach vorzunehmen. Bis jetzt war der mir geradezu verboten gewesen. Meine Mutter sah in ihm den Ausdruck des vollendeten Atheismus, und ich hatte selbst bisher noch eine Art Scheu gehabt, mich an die Freidenker zu wagen. Jetzt war diese Scheu verschwunden und ich stimmte bei: »Das Wesen des Christentums« von Feuerbach zu lesen. Gleich von den ersten Seiten an sagte ich sehr erstaunt: »Aber das sind ja Gedanken, die ich längst kenne: meine eignen Folgerungen, die ich nur nicht zu gestehen wagte.« Alle die angstvollen Stunden meiner Jugend mit bezug auf die Religion wurden mir nun klar und verständlich; sie hatten ihren Grund gehabt in dem Ungestüm des Gedankens, der sich auflehnte gegen ein Joch, in dem er gefangen gehalten werden sollte. Feuerbach nannte, so schien es mir, zum erstenmal die Dinge bei ihrem wahren Namen; er vernichtete für immer die Idee einer andern Offenbarung als derjenigen, die sich in den großen Geistern und den großen Herzen macht. Sein Gedanke schien sich in den letzten Worten seines Buchs zusammenzufassen: »Heilig sei uns das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser.« Also keine übernatürliche Verwandlung mehr, kein priesterlicher Exklusivismus, sondern das ganze Leben bis in seine kleinsten Äußerungen, die Ausübung einer reinen menschlichen Moral.

Der philosophische und befreiende Fortschritt, der sich so in mir vollzog, vollendete natürlich auch meine vereinzelte Stellung in der Gesellschaft. Man ließ mich absichtlich Bemerkungen wie die folgende hören, die bei dem Urteil über ein junges Mädchen gemacht wurde: »Welch ein liebenswürdiges Geschöpf: sie maßt sich gar kein eignes Urteil an.« Man wollte mir zeigen, wie weit man mich vom rechten Wege abgewichen fände. Aber weit davon entfernt, auf jenen Weg zurückzukommen, beschäftigte ich mich im Gegenteil immer mehr mit den Gedanken an die Emanzipation der Frau, Emanzipation von den Vorurteilen, die sie bisher gefesselt hielten, zur ungehemmten Entwicklung ihrer Fähigkeiten und zur freien Ausübung der Vernunft, wie sie dem Manne seit langem gestattet sind. Trotzdem ich in so engen Verhältnissen lebte, so hörte ich doch von mehr als einer weiblichen Individualität, die vom regenerierenden Hauch, der die Welt durchweht hatte, erwacht war und sich von der dreifachen Tyrannei des Dogmas, der Konvention und der Familie befreien wollte, um nach ihren Überzeugungen und durch ihre eignen Anstrengungen zu leben. Die deutsche Frau fing an, noch eine andere Bestimmung in sich zu fühlen, als die, bloß eine gute Hausfrau zu sein – ein Titel, den man ihr stets, nicht ohne Beimischung von Geringschätzung, beigelegt hatte, da es heißen sollte, daß sie außerdem nichts sei. Ich fing an, mit der »Kleinen« Pläne zu machen. Ich wollte mittels brieflichen Verkehrs, mich mit den Frauen oder Mädchen, die mit uns gleiche Sympathien hatten, in Verbindung setzen, sie auffordern, andere Gleichgesinnte in ihren Kreisen aufzusuchen und diese zu gleichem Tun zu vermögen. So wollten wir Deutschland wie mit einem Netz einer großen Frauenverbindung überziehen, in der auch die Schwächeren, Zaghaften durch die Gemeinsamkeit Mut fassen sollten. Die bessere Erziehung der Frauen, die Erwerbung verschiedenartiger Kenntnisse zur Erlangung ökonomischer Unabhängigkeit, ein weiteres Feld edler Bestrebungen – das sollte die erste Aufgabe sein, um die Frauen zunächst fähiger zu machen, die Erziehung der Jugend im patriotischen und humanen Sinn in die Hand zu nehmen und sich an dem großen Werk der nationalen Erziehung, das so viele große Männer gepredigt hatten, zu beteiligen. Noch sah ich meinen Weg nicht klar, wußte noch nicht, wie ich verwirklichen sollte, was sich in meinem Gedanken bewegte, aber ich fühlte, daß das Ziel meines Lebens hinfort sein werde, an der Emanzipation der Frauen von den engen Grenzen, die die Gesellschaft ihrer Entwicklung gesteckt hat, und von den Kleinigkeiten und der Unwissenheit, die die Folgen davon waren, arbeiten zu helfen.

Die Wunde der verratenen Liebe blutete noch immer fort im Grunde meines Herzens. Ich konnte diese Liebe nicht aus meinem Herzen reißen, und ich hätte es nicht gewollt, wenn ich es gekonnt hätte. Die Treue schien mir das Siegel der Würde eines großen Gefühls. Ich gab mich nicht ohnmächtigen Klagen und eitler Trauer hin, und es gelang mir, mein Leid zu verbergen und mein Unglück stolz zu tragen. Aber ich hätte für nichts auf der Welt die Neigung eines andern Mannes annehmen oder ein ernstes Gefühl in seinem Herzen aufkommen lassen können. Wahre Freundschaft und ernste Sympathie konnte ich teilen, wie dies z. B. mit dem »Demokraten« der Fall war, aber jene allmächtige Empfindung, wie ich sie für Theodor gehabt hatte, konnte ich nie wieder einem andern Manne widmen.

Das Schicksal überhäufte mich mit Prüfungen aller Art. Zuerst wurde ich sehr krank und war kaum, gegen Weihnachten, etwas hergestellt, als die Mutter der »Kleinen« plötzlich starb. Dies Ereignis erschütterte mich tief, nicht nur weil sie wie eine zweite Mutter für mich gewesen war, sondern auch weil ich wußte, wie Theodor sie liebte und welcher Schlag dies für ihn sein würde. Mein erster Ausgang war nun natürlich zu der »Kleinen«. Wir weinten miteinander vor der geliebten Leiche. Der Vater bat mich, am folgenden Tage wiederzukommen und während des Begräbnisses bei der Tochter zu bleiben, denn in jenen Gegenden Deutschlands war es nicht Sitte, daß Frauen mit zum Begräbnis gehen. Ich wußte, daß man Theodor dazu erwartete. Die Erregung, ihn wiederzusehn, sollte zu den anderen Erregungen hinzukommen, aber ich schwankte nicht und ging am andern Tag hin. Der Flur des Hauses war mit Blumen bestreut, in der Mitte stand der Sarg. Mein lieber Lehrer von einst war in seinem priesterlichen Talar, dem langen, faltenreichen, schwarzen Mantel, den die protestantischen Prediger in Deutschland tragen und der etwas Ehrwürdiges hat. Ich trat in das Zimmer, wo die »Kleine« mit allen ihren Brüdern war. Theodor reichte mir die Hand, wir sprachen kein Wort, aber er wußte, daß ich mit ihm litt. Draußen füllte sich der Vorsaal mit Menschen, die der Verstorbenen das Geleit geben wollten, und ein Männerchor stimmte einen feierlichen Choral an beim Sarg. Wir im Zimmer lauschten regungslos den Trauerklängen. Ein gewaltiger Schmerz lag dumpf auf mir, ich wußte, daß er mir gegenüberstand an die Mauer gelehnt, und fühlte, daß sein Blick auf mir ruhte, obgleich ich nicht aufsah. Dem schönen, ernsten Gesang entstieg aber plötzlich eine Macht, die mich über mich selbst erhob. Ich zerbrach die Fessel des Schmerzes voll Stolz und Energie, ich erhob das Haupt und die Augen nach oben, denn Flügel trugen mich weit über Schicksal und Tod, in die Reihen freier Geister, würdig zu verstehen und verstanden zu werden, und bereit, vorwärts zu dringen, wäre es auch gegen die ganze Welt. Diese Bewegung war ganz spontan, ganz unbemerkt für die andern, nur einer hatte sie gesehen und verstanden. Er kam im selben Augenblick auf mich zu, reichte mir die Hand und drückte die meine mit Innigkeit. Dann ging er, um seinen Platz hinter dem Sarge einzunehmen.

Ich blieb mit der »Kleinen« allein während der zwei Stunden, die das Begräbnis dauerte. Dann kamen der Vater und die Söhne zurück. Ersterer schloß mich gerührt in seine Arme. Ich nahm Abschied, um sie sich selbst zu lassen, aber im Augenblick, als ich das Zimmer verließ, kam Theodor mir nach und sagte, er werde mich begleiten. Wir sprachen von ihr, die wir beide verloren. An meiner Haustür reichte er mir die Hand und sagte mit bewegter Stimme: »Leben Sie wohl, liebe Freundin.« Den folgenden Tag reiste er zu seiner Arbeit zurück.

Das war der letzte Tag des Jahres 1848!


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