Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Drittes Kapitel

Die politischen Flüchtlinge

Schon ehe ich nach Wales ging, hatte ich mich etwas in dem Kreis, wenigstens der deutschen politischen Flüchtlinge, umgesehen und hatte eben dort jene Eindrücke empfangen, deren in den Briefen von Kinkel und Johanna Erwähnung getan wurde und die mich von neuem schwankend gemacht hatten, ob es nicht besser sei, ganz aus diesen Beziehungen zu scheiden und nach Amerika hinüber zu gehen. Einmal nach London zurückgekehrt, konnte ich es nicht unterlassen, die angeknüpften Bekanntschaften fortzusetzen, teils, weil ich aufgesucht wurde und zu allein war, um allem Verkehr auszuweichen, teils, weil sich wirklich interessante und bedeutende Persönlichkeiten darunter fanden, die mich anzogen und deren Umgang lehrreich und wohltuend für mich sein konnte. Ich beschloß, mich eben auch nur diesen letzteren näher anzuschließen, im übrigen aber mich mehr beobachtend zu verhalten und jedenfalls sehr auf meiner Hut zu sein, nicht in das Netz kleiner Intriguen und häßlicher Klatschereien verwickelt zu werden, die auch hier sich einstellten, wie überall, wo Menschen zusammenkommen, deren Leben nicht scharf gezeichnete Ziele und unausgesetzte Beschäftigung mit großen Gedanken oder mit notwendiger Arbeit in sich schließt.

Nur wenige Häuser von mir entfernt hatte sich für die deutsche Emigration ein Zentrum gebildet in dem Hause einer Dame, deren Bekanntschaft ich schon in Hamburg gemacht hatte, wo sie sich einige Zeit aufhielt und die Hochschule öfter besuchte, bis sie, nach einer polizeilichen Haussuchung, die man bei ihr vornahm, es für besser hielt, mit ihrer Familie nach England überzusiedeln. Sie war eine Deutsch-Russin aus einer der höchsten aristokratischen Familien der Ostseeprovinzen und an einen livländischen Baron verheiratet, von dem sie mehrere Kinder hatte. Reich, von schöner Gestalt und einnehmendem Gesicht, elegant und vornehm im Betragen, gebildet, gutmütig, lebhaft, eine enthusiastische Natur, hatte sie, ich weiß nicht wie, sich der Demokratie angeschlossen, hatte sich in der Heimat mißliebig gemacht und diese verlassen, war dann aber auch, da des Kaisers Nikolaus Arm weit reichte, in Deutschland und der Schweiz stets von dem beobachtenden Auge der Polizei verfolgt worden und, da man sie der Teilnahme an Kinkels Flucht, obgleich grundlos, für verdächtig hielt, war sie schließlich, wie schon erwähnt, durch direkte Maßregeln zu dem Entschlusse getrieben worden, sich auf den gastfreien Boden Englands zu retten. Im Anfang ihres Aufenthalts in London hatte sie, gleich den andern Flüchtlingen, im Kinkelschen Hause das natürliche Zentrum für den politischen Kreis gesucht, der sich im Exil zusammenzufinden strebte, um die Heimat in der Ferne wieder herzustellen und sich von den gemeinsamen Hoffnungen, Wünschen und Plänen zu unterhalten. Aber einesteils waren mannigfache Mißstimmungen entstanden, vielleicht aus Mißverständnis, vielleicht aus wirklich unvereinbaren Gegensätzen, und andernteils hatten Kinkels durchaus keine Zeit, einer müßigen Gesellschaft zu leben und in unfruchtbaren Beratungen die Stunden zu vergeuden, die sie in anstrengender Arbeit verbringen mußten, um sich und den Kindern eine neue Heimat zu gründen. Kinkel wurde, vielleicht ebensoviel durch diese Notwendigkeit, als durch seinen klaren praktischen Blick von vornherein zu der Überzeugung geführt, daß es sich darum handle, den bisher immer wiederholten Irrtum aller politischen Emigrationen zu vermeiden, den Macaulay in seiner Geschichte, bei Erwähnung der englischen Flüchtlinge in Holland, so trefflich beschreibt: den nämlich, daß sie, anstatt die Zeit des Exils kräftig zu benutzen und mit fruchtbringender Arbeit auszufüllen, sie in steriler Erwartung demnächst eintreten müssender Ereignisse, der Rückgabe des Verlornen, des Vaterlandes und ihrer politischen Machtstellung, verschwenden. Es geht den politischen Parteien darin wie den Individuen: nach großen Katastrophen, die das Leben schmerzlich verändern, hofft der Mensch immer im Grunde der Seele darauf, daß das Schicksal noch einmal so gut sein werde, dieselben Verhältnisse, dieselbe Sachlage herbeizuführen, damit er diesmal die früher gemachten Fehler vermeiden und Herr der Situation bleiben könne. Aber ach! Das Schicksal ist nicht so gütig; was sind ihm die Schmerzen und Sorgen eines Individuums oder einer Partei? Es gab ihnen ja die Gelegenheit, anders zu handeln, und nun sie so gehandelt, wie sie es getan, nun muß mit eherner Notwendigkeit auch die lange Kette von Folgen eintreten, von deren starken Banden uns kein Gott erlöst, außer wenn wir es begreifen: daß jedes Gutmachen vergangener Fehler, jeder Sieg über die Vernichtung, die tragische Schicksale mit sich bringen, nur vorwärts liegt, im großen, reinen, energischen Handeln, das den gegebenen Moment mit seinen Forderungen annimmt und ausfüllt, ohne in müßiger Qual ewig nach rückwärts zu schauen, und das für ewig Vergangene wieder heraufzubeschwören.

Nur sehr wenige in der Emigration begriffen dies, und so zog sich denn, als Kinkels ihre Tür verschlossen hatten und in die strenge Tageseinteilung keine Zeiträuber mehr eindringen ließen, die ganze Schar der Flüchtlinge in das Haus der obenerwähnten Frau von Brüning, die es gastfreundlich öffnete und eigentlich nichts mehr verlangte, als Königin und Gottheit dieser wandernden Demokratie zu sein. Sie hatte ein ganzes Haus mit ihrer Familie inne, mit derselben Einteilung, wie das oben beschriebene, in dem ich wohnte, nur mit größeren Räumen und eleganterer Ausstattung. Man kam in Versuchung, immer nur von ihr zu sprechen, wenn man von der Familie sprach, denn sie war allerdings die Seele des Ganzen und ihr Wille herrschte unbedingt. Ihr Gatte teilte, wie er offen aussprach, ihre demokratischen Ansichten nicht, und sicher war der Kreis, den sie im Hause versammelte, nicht der Umgang seiner Wahl. Dennoch fügte er sich in alles, was die viel jüngere Gattin anordnete und wohnte stets, wenn auch oft mit mürrischem Angesicht, den allabendlichen Versammlungen der flüchtigen Demokratie im Salon seiner Frau bei. Was ihn zu dieser Unterwerfung brachte, weiß ich nicht. Ob er sie, trotz ihrer ihm antipathischen politischen Richtung, zu tief liebte, um ihr offen entgegenzutreten, ob es, wie einige behaupten, war, weil das Vermögen ihr gehörte und er zu zartfühlend war, sie in dessen freiem Gebrauch zu hindern, oder ob er, um seiner Kinder willen, duldete, was er nicht ändern konnte – das sei dahingestellt; eins ist gewiß: daß er das, was seine Frau durch glänzende Liebenswürdigkeit im Salon vor ihm voraus hatte, durch größere Sorgfalt für das Haus, besonders für die Kinder, ersetzte; denn diese wuchsen von seiten der Mutter so ziemlich wie wilde Ranken auf. Kurz, wenn man als Gesinnungsgenosse der Frau von Brüning zweifelhaft darüber sein konnte, ob man ihr als Charakter die volle Anerkennung zollen dürfe, die man ihrer Anmut darbringen mußte, so konnte man, trotzdem man nicht seiner Meinung war und seine Liebenswürdigkeit nicht eben allzusehr hervorleuchtete, doch nicht umhin, Herrn von Brüning als einen völligen Ehrenmann zu betrachten und zu schätzen.

Frau von Brüning nahm mich freundlich, aber nicht mit der Zuvorkommenheit auf, die sie ihren anderen Gästen angedeihen ließ. Es war ein geheimer, von vornherein gefühlter Antagonismus zwischen uns, der nur, wie ich später erzählen werde, in einer feierlich ernsten Stunde sich aufhob und versöhnte. Dieser Antagonismus konnte sich sicher nicht durch weibliche Eitelkeit erklären, denn sie mußte von vornherein sehen, daß in mir auch nicht der leiseste Anspruch sein konnte, ihr, der Schönen, Anmutigen, Gefeierten, den Rang streitig zu machen und mir, deren Seele ein so schmerzlich tiefer Ernst füllte, der Sorgen aller Art mit dunklen Fittichen um das Haupt rauschten, mir konnte es nicht in den Sinn kommen, ein glänzender Stern der Parteigeselligkeit sein zu wollen, wie sie war. Das heimlich Trennende zwischen uns war vielmehr wohl dies: ihr Enthusiasmus galt mehr den Persönlichkeiten, der meine mehr den Prinzipien: sie wollte im Bereich unserer Ideen mit ihren reichen Mitteln herrschen, ich wollte ihnen dienen mit dem wenigen, was ich war und hatte. Dazu kam, daß sie mich mit Recht für eine Freundin von Kinkels hielt, mit denen sie eben damals auf ganz gespanntem Fuße lebte und die sie nicht mehr sah. Ich wurde daher auch keineswegs ein täglicher Gast bei ihr wie die übrigen, ja zuweilen kam ich so selten, daß man schickte, mich zu holen und mir Vorwürfe wegen meines Ausbleibens machte. Dennoch ging ich von Zeit zu Zeit gern hin, weil ich gewiß war, dort eine oder die andere interessante Persönlichkeit zu finden, so unter anderen den Doktor Löwe aus Kalbe, der mit seinen klugen, scharfen Augen einem so recht bis ins Herz hinein zu schauen schien und dessen Gespräche mich durch ihre Klarheit, durch ihre Präzision und Verstandesschärfe vor denen aller übrigen anzogen. Eine sehr geistvolle Freundin in Deutschland, der ich von dem Eindruck schrieb, den er mir gemacht, antwortete mir darauf: »Alles, was Sie mir von den Londoner Verhältnissen und den Menschen, mit denen Sie dort verkehren, sagen, interessiert mich auf das lebhafteste. Ganz vorzüglich Ihre Erwähnung Löwes, weil wir uns da auch in einer Anerkennung begegnen. Ich sah und hörte Löwe im Jahr 1848 in Frankfurt, hatte damals kaum seinen Namen gehört und hatte doch den ganzen entschiedenen Eindruck des unbegrenztesten Vertrauens zu seiner Einsicht wie zu seinem Charakter. ›Für den verbürge ich mich unbedingt‹, sagte ich damals und hatte stets eine Herzensfreude, wenn es mir durch sein späteres Verhalten und sein Ausharren bis an das Ende bestätigt wurde. Zuerst hörte ich von ihm in tiefem Abenddunkel eine Rede am Grabe eines verstorbenen parlamentarischen Freundes, nach ihm sprach Gagern! Da schied ich sie schon gleich, wie sie sich später gezeigt: ruhig fest der eine, leidenschaftlich schwankend der andere.«

Wenn Löwe unter den Männern reiferen Alters als ganz bedeutend hervortrat, so zeichnete sich unter den jungen Leuten eine wahrhaft ideale Jünglingsgestalt aus, die alle andern so weit überragte, daß man auch ohne Prophet zu sein, sagen konnte: »Der allein hat eine große fruchtbringende Zukunft!« Ich meine Carl Schurz, der durch seine kühne Tat, die Rettung Kinkels aus Spandau, bereits einen Namen hatte, der den einen furchtbar, den andern mit einem Lorbeer umgeben war. Noch ganz jung, kaum zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt, hatte er bereits die badische Revolution an der Seite seines Lehrers und Freundes mitgemacht, hatte sich aus dem eingeschlossenen Rastatt vor der Übergabe auf die verwegenste Weise durch eine Wasserleitung, die aus der Festung nach dem Rhein zu führte, nach Frankreich gerettet und hatte dann, im Verein mit der hochherzigen Johanna, den Plan entworfen und ausgeführt, durch den er den geliebten Lehrer aus dem langsamen Martertod der Zelle befreite. Ich hatte ihn bereits in Hamburg kennen gelernt, als er, natürlich unter falschem Namen, auf dem Wege nach Berlin war, wo er, selbst zum Tode verurteilt, mehrere Monate lang unter den Augen seiner Henker lebte und sich frei bewegte, ohne erkannt zu werden, bis seine Vorbereitungen gereift waren und er jenen die Beute mit sicherer Hand entführte. Damals schon, bei einem mehrstündigen Zusammensein, hatte ich in ihm eine Natur von Begabung erkannt, wie sie nur selten sich findet. In beschränkten Verhältnissen aufgewachsen, aber ein Kind des schönen Rheinlandes, vereinigte er in sich alle Elemente, die jener glückliche Boden hervorzubringen vorzugsweise geeignet ist: neben der größten Einfachheit und Anspruchslosigkeit im Äußern, tiefe, sinnige Gemütlichkeit, Güte und Poesie, feste klare Auffassung des Lebens, sehr viel praktischen Sinn und jene unerschütterliche Energie, die in einem heitern und berechtigten Selbstvertrauen wurzelt und das unerläßliche Erfordernis für kühne Erfolge ist. Ich war seit seinem Aufenthalt in England, woselbst Retter und Geretteter zugleich ankamen, beständig in Korrespondenz mit ihm gewesen und hatte hierdurch Gelegenheit gehabt, die großartigen Anlagen dieses jungen Mannes näher kennen zu lernen und nächst Kinkels war er es gewesen, auf den ich mich in England am meisten gefreut hatte. Er kam auch gleich nach meiner Ankunft, mich zu sehen, und von da an sah ich ihn fast täglich bei mir, bei Kinkels, oder bei Frau von Brüning, wo ihn nun ein der Politik fernabliegendes Interesse allabendlich hinführte. Ihm hatte sich das Exil, statt dem herben Tranke, den es anderen bot, bereits segenspendend erwiesen. Unter der Zahl der politischen Flüchtlinge befand sich auch Johannes Ronge, dessen Frau eine intime Freundin der Frau von Brüning geworden war. Sie hatte für einige Zeit ihre jüngste Schwester bei sich zu Besuch, ein noch ganz junges, schönes, mit den liebenswürdigsten Anlagen ausgestattetes Wesen, die ich von der Hochschule her kannte, wo sie eine der ersten Schülerinnen gewesen war, bis sie diese verließ, um zu ihrer Schwester nach London zu gehen. Sie war ein Liebling im Hause der Frau von Brüning, und dort hatte Schurz sie kennen und lieben gelernt und sich mit ihr verlobt. Dieses liebenswürdige Brautpaar gab dem Kreis im Brüningschen Hause einen besonderen Reiz, der noch dadurch gesteigert wurde, daß beide ungewöhnlich musikalisch begabt waren und Schurz häufig den seelenvollen Gesang seiner Braut begleitete. Leider blieben sie der Gesellschaft nicht lange erhalten, denn nach ihrer im Laufe des Sommers erfolgten Verheiratung beschlossen sie, nach Amerika zu gehen. Schurz wußte wohl, daß er in England vielleicht durch Stundengeben sich ein reichliches Auskommen schaffen könnte, aber einesteils fühlte er in sich die Befähigung zu etwas Höherem, und dann wollte er sich eben aus dem unfruchtbaren Warten der Emigration auf eine bald neu ausbrechende Erhebung befreien und die Zeit zwischen der eingetretenen Reaktion und einer möglichen Änderung der Umstände benutzen, um die Freiheit in ihrer realen ungehinderten Entwicklung in Amerika zu sehen und zu beobachten. Noch recht frohe Stunden verlebte ich mit dem jungen Paar in ihrer ländlichen Einsamkeit in Hampstead, einem dem Teile von London, wo ich wohnte, nicht allzu fernen kleinen Ort mit reizenden Landhäusern und frischer Landluft. Noch vor Ende des Sommers aber schieden die jungen Leute, begleitet von meinen treuesten Wünschen. Ihr Scheiden ließ eine tiefe Lücke in meinem Leben zurück und entpoetisierte mir den Kreis im Brüningschen Hause so sehr, daß ich von nun an weit weniger hinging. Was die übrigen Flüchtlinge betraf, so enthielten die Worte, die mir eben dieselbe Dame, die mir über Löwe geschrieben, in ihrem Briefe sagte, leider nur zu viel Wahres: »Erzählen Sie mir von den Unseren in London, es interessiert mich ein jeder dort Geborgene. Ich wünsche allen leidliche Tage und praktischen Sinn. In bezug darauf ist aber manches unfreundlich, was herüberklingt; ich fürchte, sie leben im ganzen zu viel nur mit sich und verlieren die übrige Welt, indem sie diese nur als Material für ihre sozialistischen Ideale betrachten, aus den Augen, sie denken, es sei ein totes Material, während es doch lebt, nicht um viel und weit, aber doch um an sich zu denken und sich gar nicht über seinen augenblicklichen Vorteil hinaus benutzen lassen zu wollen. Ich habe immer die Angst, daß sich unsere Besten an das wenden, was den bestehenden Verhältnissen gegenüber eine Tollheit ist. Die Massen müssen uns auch bis zum nächsten Schritt noch weiter nachreifen. Ich mache darin täglich trübe Erfahrungen. Möglich, daß der Süden sich schon weiter entwickelte, wir haben das Joch noch vollkommen nötig, das über uns liegt; glauben Sie mir, die Lehren, die man in Hessen und Schleswig-Holstein jetzt empfängt, sind um nichts zu stark. Wenn ich dies ganze trostlose Gebiet überschaue, stockt mir die Kraft zum Leben, und ich möchte für mich ›Schlafenszeit‹.«

Zum Teil wurden aber auch die törichten Hoffnungen, denen sich so viele hingaben, von Deutschland aus genährt. Dort erwartete man viel von der Emigration, von der man glaubte, daß sie eine Wünschelrute besäße, um goldne Hilfsquellen aus dem Boden zu zaubern; die Flüchtlinge hingegen hielten es für unnütze Mühe, sich um dauernde Arbeit umzusehen, da sie glaubten, stets auf der Wacht stehen und bereit sein zu müssen, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel der diesmal siegenden Revolution zu Hilfe zu eilen. Es erschienen auch einzelne Abgesandte der revolutionären Partei von dort, um im Falle günstiger Eventualitäten ein gemeinsames Handeln zu verabreden. Unter ihnen war ein ehemaliger Artillerieoffizier, der sich mit besonderem Eifer diesen Verhandlungen hingab, die bestimmtesten Hoffnungen auf eine bald zu erwartende Erhebung aussprach und sich gründlich über die einzelnen Persönlichkeiten und die von einer jeden zu erwartenden Hilfe unterrichten zu wollen schien. Ich sah ihn nur einmal, aber er flößte mir ein instinktives Mißtrauen ein; und erst später erfuhr ich, wie vollkommen dies gerechtfertigt war. Denn als nach einigen Monaten die Verfolgungen und Verhaftungen in Berlin und Rostock erfolgten, und der lange, traurige Prozeß begann, da ergab es sich, daß dieses selbe Individuum der Verräter gewesen war, dessen freilich falschen und lügnerischen Angaben wohl auch ich meine Ausweisung zu danken gehabt hatte. Er war frech genug gewesen, ausdrücklich nach England herüberzukommen, um zu sehen, ob er seinen Judaslohn noch vergrößern und noch mehr Opfer in die Falle locken könne, die eine neue Verherrlichung des Systems werden sollte, durch das das Polizeiregiment des Herrn von Hinckeldey sich eine so klägliche Unsterblichkeit errungen hat. Welcher Zustand mußte der Deutschlands sein, wenn eine Regierung wie die preußische sich elender Spione bediente, um die Gesinnung solcher Leute auszuforschen, die wenigstens den Mut ihrer Überzeugungen gehabt, Heimat, bürgerliche Stellung, Vermögen und jede hoffnungsvolle Grundlage der Existenz aufgegeben hatten, um ihnen treu zu bleiben, und keines anderen Vergehens schuldig waren, als zu schnell und zu kühn von den Regierenden die edle Einsicht notwendiger Konzessionen, von den Massen die unmittelbare Befähigung zur vernünftigen Ausübung voller Freiheit verlangt zu haben! Wie es dort aussah, drückten schmerzvoll wenige Worte meines teuren Freundes, des Predigers der freien Gemeinde zu Hamburg, aus, der mir schrieb: »Ich beschäftige mich jetzt ausschließlich mit Kant. Gäbe es einen jüngsten Tag und an ihm ein Weltgericht, so müßte ohne alle Gnade das deutsche Volk verurteilt werden, das fünfzig Jahre nach solch einem Manne sich von Pfaffen gängeln läßt. Was mühen sich doch kleine Geister mit Denken und Reden ab, nachdem Männer wie Kant so scheinbar vergeblich gedacht haben!«

Aber auch die flüchtige Demokratie war, bis auf wenige Ausnahmen, darin schuldig, daß sie an ihren theoretischen Idealen hängen blieb und darüber den offenen Blick für die Zustände, die sie umgaben und aus denen sie so viel hätte lernen können, verlor. Häuser, wie das der Frau von Brüning, nährten diese verderbliche Richtung. Dort wurde dem theoretisierenden Müßiggang und jenen eitlen Hoffnungen Vorschub geleistet durch törichtes Geschwätz, bei dem man sich gegenseitig exaltierte und zur phantastischen Gewißheit geträumter Vorgänge hinaufschraubte, während eine angenehme Geselligkeit mit stets gut besetzter Tafel und materielle Hilfe durch die allezeit bereite Großmut der Hausfrau über die Not des Augenblicks und die Nötigung der Arbeit täuschten. Wie den Einsichtsvollen hierüber die Augen aufgingen, sobald sie aus dem engen Dunstkreis der Emigration heraustraten, bewies mir ein Brief von Schurz, den ich aus Amerika, einige Monate nach seinem Scheiden, von ihm erhielt; er schrieb unter anderem:

»Ich habe in Amerika noch nicht viel gesehen, aber sehr viel gelernt. Es ist das erste Mal, daß ich in einem demokratischen Lande lebe, und daß ich sehe, wie ein Volk sich gebärdet, das frei ist. Ich gestehe, ohne zu erröten, daß ich davon früher nur schwache Begriffe hatte. Meine politischen Meinungen haben eine Art innere Revolution erlebt, seit ich in dem Buche lese, in dem allein das Wahre steht, im Buche der Wirklichkeit. Wenn ich mir nun die meisten der hitzigen Revolutionäre von Fach vorstelle, wie die Emigration sie heranbildet, oder die meisten freisinnigen Damen der gebildeten Stände mit ihrer sentimentalen Demokratie in die hiesigen Verhältnisse hineingesetzt denke, wie sie beide schrecklich räsonieren würden, die ersteren über das Wesen der Bourgeoisie und die Umtriebe des Pfaffentums, die letzteren über die wilde Zügellosigkeit des Volks, und wie beide dann zu dem Schluß kommen würden, daß es nichts sei mit diesem Eldorado – dann will es mir ein wenig bange werden um die künftige europäische Republik, die ihre Stützen in jenen beiden Elementen finden soll. In der Tat ist es wahr, der erste Anblick dieses Landes erfüllt uns mit stummem Erstaunen. Hier sehen Sie das Prinzip der individuellen Freiheit bis zu den letzten ihrer Konsequenzen: der Verachtung des freigemachten Gesetzes getrieben; dort sehen Sie den krassesten religiösen Fanatismus sich in brutalen Akten austoben; die große Masse des arbeitenden Volkes sehen Sie hier in der vollsten Freiheit für ihre Emanzipationsbestrebungen und daneben den Spekulationsgeist des Kapitals sich in unerhörten Unternehmungen herumtummeln; hier eine Partei, die sich die demokratische nennt und die zugleich die Hauptstütze des Instituts der Sklaverei bildet, dort eine Partei, die gegen das himmelschreiende Unrecht des Sklaventums donnert, aber all ihre Argumente auf die Autorität der Bibel stützt und in einer unglaublichen geistigen Abhängigkeit steht; hier der unaufhaltsame Geist der Emanzipation, dort das tätige Gelüst der Unterdrückung – alles dies in voller Freiheit, in buntem Gewirre durcheinander, nebeneinander. Der von Europa herübergekommene Demokrat, der bisher in der Welt der Ideen gelebt und noch keine Gelegenheit gefunden hat, diese Ideen in Menschennatur umgesetzt, verkörpert zu sehen, fragt sich stutzend: Ist das ein freies Volk? Ist das eine wirkliche Demokratie? Ist die Demokratie eine Tatsache, wenn sie all diese entgegengesetzten Prinzipien in ihrem Schoße beherbergt? ist das mein Ideal? – So fragt er sich zweifelnd und tritt mit unsicherm Fuß in diese neue, wirklich neue Welt. Er beobachtet und denkt, streift allmählich die Vorurteile ab, die ihm Europa aufgeladen, eins nach dem andern, und zuletzt kommt er zur Lösung des Rätsels: Ja, so sind die Menschen, wenn sie frei sind. Die Freiheit bricht die Fesseln der Entwicklung entzwei. Alle Kräfte, alle Schwächen, alles Gute, alles Schlechte, zeigen sich am Licht des Tages und in ihrer Wirksamkeit; der Kampf der Prinzipien kämpft sich unbeschränkt durch; die äußere Freiheit zeigt erst, welche Feinde zu besiegen sind, bis wir die innere erobert haben. Wer die Freiheit will, darf sich nicht wundern, wenn die Menschen sich nicht besser zeigen, wie sie sind. Die Freiheit ist der einzige Zustand, in dem es den Menschen möglich ist, sich selbst kennen zu lernen, indem sie sich hinstellen, wie sie sind. Dabei kommt das Ideal nicht heraus, das ist gewiß, aber ein unglücklicher Gedanke wäre es, das Ideal trotz den Menschen herausforcieren zu wollen. Hier läßt man die Jesuiten wirtschaften, man schlägt sie nicht tot und treibt sie nicht aus – denn die Demokratie statuiert die Freiheit eines jeden Bekenntnisses, so lange es nicht die bürgerliche Freiheit anderer beschränkt, – man bekämpft sie nicht mit der Waffe der offiziellen Gewalt, sondern einfach mit der öffentlichen Meinung. Das ist nicht allein demokratischer, sondern auch solider, denn geht der Kampf der öffentlichen Meinung gegen die geistige Abhängigkeit langsam, so ist das ein Zeichen, daß die Menschen eben noch nicht reifer sind. Dieser Kampf hat den Vorteil, daß er stets gleichen Schritt hält mit dem Standpunkt der Menge, darum sind seine Siege weniger schnell, weniger glänzend, aber dauerhafter und entscheidender. So geht's hier mit allem. Der europäische Revolutionär wird darüber ungeduldig und möchte kräftige Schläge hineintun; aber die Menschen sind nun einmal so, daß sie sich nicht vernünftig klopfen lassen, und die wahre Demokratie ist einmal so, daß in ihr der öffentliche Verstand regiert, nicht wie er sein sollte, sondern wie er ist. Es ist meine feste Überzeugung, daß die europäischen Revolutionäre eine nächste Revolution durch ihre bloße Regierungslust, durch den bloßen Drang, schnell und positiv besser zu machen, in die Reaktion hineintreiben werden. Jeder Blick in das politische Leben Amerikas gründet meine Überzeugung fester, daß die Aufgabe einer Revolution nichts anderes sein kann, als dem Volkswillen Raum zu schaffen, d. h. jede Autorität, die im Staatsleben ihre Organisation hat, zu brechen und die Schranken der individuellen Freiheit so weit als immer möglich niederzuwerfen. Der Volkswille wird sich dann austoben, Dummheiten machen usw., aber das ist einmal seine Art; will man ihm etwas vortun und ihn darnach frei lassen, so wird er seine Dummheiten dennoch machen, trotz allem, was ihm vorgetan worden ist. Jede dieser gemachten Dummheiten aber absolviert etwas, während das Klügste, was man dem Volke vortut, nichts absolviert, bis der öffentliche Verstand selbst so weit ist, es tun zu können. Bis dahin muß das Betreffende à force de l'autorité bestehen oder es schwankt. Besteht es aber durch die Autorität, dann steht's schlimm mit der Demokratie. Hier in Amerika kann man täglich sehen, wie wenig ein Volk nötig hat, regiert zu werden. In der Tat, was man in Europa nur mit Schaudern nennt, die Anarchie, sie existiert hier in schönster Blüte. Es gibt wohl Regierungen, aber keine Herren; es gibt Gouverneure, aber sie sind Kommis. Was hier in Amerika an großen Unterrichtsanstalten, an Kirchen, an großen Verkehrseinrichtungen usw. entsteht, verdankt fast alles seine Existenz nicht der offiziellen Autorität, sondern dem spontanen Zusammenwirken der Privatleute. Man tut hier einen Blick in die Produktivität der Freiheit. Hier sehen Sie eine kostbar gebaute Kirche: eine Aktiengesellschaft hat sie gegründet; dort eine Universität: ein reicher Mann hat zu Erziehungszwecken ein bedeutendes Legat hinterlassen, das dient nun als Kapitalstock, und die Universität gründet sich fast ganz auf Subskription; dort ein Waisenhaus von weißem Marmor gebaut: ein reicher Bürger hat es errichtet – und so geht's weiter ins Unendliche. Man wird hier erst gewahr, wie überflüssig die Regierungen in einer Menge von Angelegenheiten sind, wo man sie in Europa für durchaus unentbehrlich hält, und wie die Möglichkeit, etwas tun zu können, die Lust weckt, etwas zu tun.«

Hochinteressant waren mir diese Mitteilungen meines jungen Freundes, deren Richtigkeit sowohl in bezug auf Amerika als auf die demokratische Flüchtlingspartei und die Revolution mir gleich einleuchtete. Ich hatte zu viel von dem revolutionären Treiben in der alten Welt gesehen, um nicht die naturgemäßere Entwicklung der Freiheit in der neuen zu begreifen. Nur eins glaubte ich festhalten zu müssen, dessen Verkennung seinerseits mir ein Irrtum schien: nämlich die Möglichkeit einer ästhetischeren, künstlerischeren Form des freien Lebens, in Deutschland wenigstens, wenn einmal dort die Idee der Freiheit vollständig gesiegt und sich von innen heraus entwickelt hätte, da ich sonst vollkommen mit Schurz einverstanden war, daß das Octroyieren von freien Systemen, daß eine theoretische Freiheit, dem lebendigen aber noch unreifen Volkselement aufgepfropft, niemals zum fruchtbringenden Baume werden könnte. Aber in Europa ging ja das Streben nach Freiheit von anderen Voraussetzungen aus, als in Amerika; dort, wo sich eine neue Gesellschaft, ohne historische Vergangenheit, ohne ein eigentümlich entwickeltes nationales Element, ohne irgend eine ideale Tendenz außer jeder gegebenen Möglichkeit in der Freiheit, aus den verschiedenartigsten Nationalitäten auf allgemein anerkannten Grundlagen freisinniger Institutionen entwickelt hatte, konnte sie, auch durch vorerst endlose Raumentwicklung begünstigt, sich auch endlos in den verschiedensten Experimenten versuchen und jeder Partei und jeder individuellen Entwicklung freien Spielraum lassen. In Europa hingegen (und ich meinte hier freilich besonders Deutschland, von dem ich in dieser Beziehung eine ganz andere Ansicht, als von den übrigen revolutionären Ländern Europas haben zu können mich berechtigt glaubte) mußte sich notwendig das theoretische Element zuerst aus den Fesseln der traditionellen Verhältnisse losringen und mehr oder minder konvulsivische Versuche zu seiner Verwirklichung wagen. Ungeschickte Experimentatoren mußten dabei untergehen, lange und mühsam mußte vielleicht die Schule sein, die das deutsche Volk, das bedächtig seinen Weg geht und nicht neuerungssüchtig ist, durchzumachen hätte, aber es schien mir nicht unmöglich, daß auch eine theoretische Erziehung zur Freiheit endlich zu dem gewünschten Resultat führen könnte und daß ihre Blüte dann eine um so höhere sein würde, als das durch den äußeren Druck mehr in die Tiefe als in die Breite entwickelte Geistesleben nicht sowohl in Entfaltung materieller Interessen, als in der Befriedigung der im Verborgenen genährten Ideale und Kunsttriebe hervortreten würde. Wie hoffnungslos mir die nächste Zukunft war, wie sehr der Zweifel an der Fähigkeit der revolutionären Partei sich fortwährend in mir steigerte, wie grauenvoll die Reaktion mit Nacht und Vernichtung jede schöne Blüte bedrohte, dennoch dachte ich es immer von neuem mit innerer Zuversicht: wenn es einst wirklich tagt in Deutschland, so wird die Freiheit auch schön werden. Wie durch die deutsche Geschichte der merkwürdige Zug nach dem Süden geht, wie der nordische Faust in seinem »dunklen Drange« das schönheitumflossene Idealbild des Südens sucht, so muß auch einst der deutsche Volksgeist, wenn er sein Dasein selbstgestaltend in die Hand nimmt, notwendig zu der Freiheit sich die Schönheit schaffen, und anstatt noch, wie in Amerika, das despotische Treiben der Diener versunkener, knechtender Religionen zum Schaden der Intelligenz und Moral fortdauern zu lassen, wird er neuen, idealeren Götterbildern der Freiheit neue, ideale, freie Tempel bauen.

Was diese Tempel sein könnten, davon war mir ein seliges Ahnen aufgedämmert, als ich, noch in Deutschland, nacheinander drei neu erschienene Bücher aus ein und derselben Feder gelesen hatte, nämlich: »Die Kunst und die Revolution«, »Das Kunstwerk der Zukunft« und »Oper und Drama« von Richard Wagner. Der Verfasser, seit der Dresdener Revolution im Frühjahr 49 auch ein Flüchtling, in der Schweiz lebend, war mir persönlich unbekannt, aber zu mächtig ergriffen von dem Strome der Gedanken, der mir aus diesen Büchern entgegenflutete, und in denen ich das Evangelium der Zukunft Deutschlands, wie auch ich sie träumte, erkannte, schrieb ich ihm, nachdem ich »Oper und Drama« gelesen, und erhielt auch eine freundliche Antwort. Von seinen musikalischen Werken, die eben anfingen, auf deutschen Bühnen hier und da gegeben zu werden, hatte ich leider nichts vor meiner Abreise nach England hören können; nur den Text zum »Tannhäuser« haben wir noch mit Theodor und Anna in Hamburg zusammen gelesen und waren davon hingerissen worden. Daß sich hier eine neue Bahn für eine wahrhaft erlösende Kunst auftat, hatten wir alle mit froher Rührung empfunden. Jener Text voll tiefer ethischer Bedeutung war nicht länger ein Werk, das zu frivoler Zerstreuung nach der abstumpfenden Einförmigkeit der Tagesarbeit einlud, wie die Mehrzahl der Opern, die auf unseren Bühnen aufgeführt wurden, hier wurden wir gefesselt zu ernster Sammlung, fortgerissen zum tiefsten, leidenschaftlichen Mitempfinden und Mitleiden und schmerzlich beglückt durch die tragische Versöhnung, mit der das wahre Drama, gleich einem großen Schicksal, uns in erhabener Stimmung über das Elend des Lebens erhebt. Ich dachte mit Entzücken daran, was dieser Text, durch den Ausdruck der Musik gesteigert, bei lebendiger Darstellung sein müßte, und es blieb mir ein tiefes Sehnen im Herzen, einer solchen Darstellung beiwohnen zu können. Mein Verlassen Deutschlands schnitt mir dazu jede Hoffnung ab. Auch die Korrespondenz mit dem genialen Schriftsteller und Dichter-Komponisten suchte ich nicht weiter fortzusetzen, weil ich ihm, als ihm gänzlich unbekannt, nicht beschwerlich fallen mochte, und weil überhaupt alle jene erlösenden Zukunftsgedanken doch in eine, wie es mir schien, für mich nicht mehr erreichbare, unabsehbare Ferne entrückt waren.

Noch einen nachwirkenden bedeutenden Eindruck hatte ich, ebenfalls noch in Deutschland, durch ein Buch empfangen, das freilich in ganz anderer Weise wirkte, als die eben erwähnten Bücher, und auch auf einem anderen Gebiet, nämlich kritisch, skeptisch in der Politik und der Entwicklung der Weltverhältnisse. Noch in Hamburg kam eines Tages einer der mir befreundeten Arbeiter und brachte mir ein Buch, indem er sagte: »Der das geschrieben hat, ist auch einer von den Unseren.« Dieses Buch führte den Titel: »Vom andern Ufer« und sein Verfasser war ein Russe, Alexander Herzen. Ich hatte bis dahin noch nie etwas von diesem Russen gehört, überhaupt war mir Rußland, und mit mir wohl so ziemlich dem größten Teile der westeuropäischen Gesellschaft, eine terra incognita, und nur durch Custines Buch und das viel verdienstvollere des Freiherrn von Harthausen war eine Ahnung aufgegangen von einem eigentümlichen, unseren Kulturzuständen ziemlich fremden Leben, das sich in den ungeheuren Ebenen von der Weichsel bis zum Ural und vom nördlichen Eismeer bis zum kaspischen und schwarzen Meer regte. Den russischen Hof hatte man wohl gekannt, man kannte Peter den Großen, der westeuropäisches Leben in seine Steppen überführte, man kannte das blutige Spiel, mit dem die Krone des Selbstherrschers von einem Haupt auf das andere flog, man kannte die geistreiche, frivole Katharina II., die mit den geistreichen Männern Frankreichs, über Deutschland hinweg, liebäugelte, während sie unter ihren Untertanen Auserwählte mit minder platonischen Gunstbezeugungen erfreute; man kannte persönlich den liebenswürdigen, sentimentalen Alexander I., der als Sieger über Napoleon mit in Paris einzog und als Sieger über so manche Frauenherzen unauslöschliche Erinnerungen zurückließ; man kannte endlich den strengen Nikolaus, dessen furchteinflößender Blick europäische Berühmtheit hatte und dessen eisernes Zepter nicht nur auf seinem Reiche lastete, sondern auch Europa, namentlich Deutschland, in Abhängigkeit und Schrecken erhielt. Alles das kannte man; unter dem Begriff des Autokratentums auf dem Thron faßte man Rußland zusammen. Wer aber wußte etwas von einem russischen Volk, von russischer Literatur? Kaum daß der Name Puschkins als der eines russischen Dichters erwähnt wurde, und erst seit Harthausens Buch sprach man von der russischen Gemeinde als einer primitiven Einrichtung, wie sie alle indogermanischen Völker gehabt und bei zunehmender Zivilisation aufgegeben hätten.

Mich hatte aber das Harthausensche Buch und die mir ganz neue Beschreibung der kommunistischen Einrichtung der Gemeinden sehr interessiert und mein Nachdenken auf Rußland hingelenkt. Wenn ich auf der Landkarte die ungeheure, durch keine geographische Zerrissenheit gestörte Einheit des russischen Bodens betrachtete, und dagegen die vielfach geklüfteten, wie in Fetzen zerrissenen, durch Meere, Ströme, Alpen und Bergketten scharf getrennten Länderkomplexe von Europa, so hatte sich mir mehr als einmal der Gedanke aufgedrängt, daß, während sich in Europa die Entwicklung des individuellen Lebens bis zu seinen äußersten Grenzen, sowohl beim einzelnen als bei der Nation, zu vollziehen gehabt hätte, Rußland, neben dem ebenfalls durch festere, weniger gespaltene Konturen als kompakte Einheit sich darstellenden Amerika, vielleicht dazu berufen wäre, jene sozialistischen Tendenzen zu verwirklichen, die als Idealbild der Zukunft vor unser aller Augen schwebten, um deren Erfüllung wir gerungen hatten und um deren schmerzliches Unterliegen wir nun in tiefer Herzenspein trauerten. Ich hatte einmal meinem Freunde in Amerika über diese Gedanken geschrieben, und er hatte mir erwidert, daß er sie teile und sie für so richtig ansehe, daß er meiner Auseinandersetzung gar nichts hinzuzufügen habe.

So schon in meinen Gedanken auf Rußland hingelenkt, ergriff ich mit einiger Erwartung das Buch des Russen. Da es mir einer der am weitesten in sozialistische Theorieen vertieften Arbeiter gegeben hatte, so erwartete ich darin ein neues sozialistisches System zu finden. Kaum aber hatte ich angefangen zu lesen, so fühlte ich, daß mir hier etwas ganz anderes entgegentrat, als eine bloße Theorie. Ein Feuerstrom lebendiger Empfindungen, leidenschaftliche Schmerzen, brennende Liebe, unerbittliche Logik, beißende Satire, kalte Verachtung, unter der sich ein getäuschter Glaube barg, stoische Entsagung und verzweifelnder Skeptizismus – das alles brauste mir aus diesem Buch entgegen, rief ein tausendstimmiges Echo in meiner Seele wach und beleuchtete mir mit dem erbarmungslosen Lichte der Wahrheit und der zersetzenden Kritik das kürzlich Erlebte in allen Phasen, von der Frühlingshoffnung im Februar und März Achtundvierzig an bis zu den Ereignissen in Wien in der Brigittenau und bis zu dem zweiten Dezember zweiundfünfzig und seinem Gefolge von Gemetzel, Kerker und Cayenne. Wie erstaunte ich über diese Spiegelung unserer eigenen zerstörten Ideale und Wünsche, unserer eigenen Hoffnungslosigkeit und Resignation in der Seele eines Russen, der, wie er selbst sagte, mit leuchtenden Hoffnungen und seligen Erwartungen nach Europa gekommen war und nun eben daselbst nichts anderes gefunden hatte, als was er zu Haus geflohen. Wie noch viel mehr erstaunte ich über die Kraft und Kühnheit dieses Denkers, der, anstatt in den Illusionen der Revolution nach so bitteren Enttäuschungen zu verharren, wie die Mehrzahl es tat, sich nicht scheute, mit scharfem Schnitt das Messer in die Wunde zu senken, die herben Wahrheiten der geschichtlichen Entwicklung prüfend als Maß auch an unsere fehlgeschlagenen Hoffnungen zu legen, um den Grund des Mißlingens ganz ohne Rückhalt, ohne Phrase zu erkennen. Die Form des Dialogs, in der der größte Teil des Buchs geschrieben ist, erleichterte, indem beide Seiten der Anschauung vertreten wurden, die gründliche Darlegung der Gegensätze in belebtester Weise. Stellen, wie die folgende z. B., zeigten in frappanter Klarheit die enthusiastische Borniertheit auf der einen und die erbarmungslose Kritik des philosophischen Geistes, der vor dem verwundendsten Erkennen nicht zurückbebt, auf der andern Seite:

»– – Der Wissenschaft haben sich immer sehr wenige hingegeben. Auf dies abstrakte Feld gehen nur strenge Geister, die den Beruf dazu in sich fühlen. Wenn Sie den Zusammenhang der höchsten Idee einer Zeit mit den Massen sehen wollen, so müssen Sie sich zu lebendigeren Sphären wenden, und sollten Sie dort nicht so viel Nüchternheit finden, so treffen Sie doch eine poetische Begeisterung, die die höchste Wahrheit der Zeit den Menschen in einer andern Form zugänglich macht. Was sagen Sie von der Predigt des Evangeliums? Was für ein energischer Widerhall antwortete auf den Zuruf der zwölf Apostel?

»– Schade um diese Menschen! sie haben das vollkommenste Fiasko gemacht. – –

»– – Ja, und dazu die halbe Welt getauft!

»– – Im Verlauf von vier Jahrhunderten eines hartnäckigen Kampfes und von sechs Jahrhunderten vollständiger Barbarei! Und nach diesen Anstrengungen, die tausend Jahre dauerten, hat sich die Welt so getauft, daß von der Doktrin der Apostel nichts übrig blieb, daß aus dem befreienden Evangelium ein unterjochender Katholizismus und aus einer Religion der Gleichheit und Liebe eine Kirche des Blutes und der Hierarchie wurde. Die alte Welt bereitete sich, nachdem sie alle ihre Lebenskräfte vergeudet hatte, zum Tode vor; das Christentum hat sie beerdigt und erschien am Sterbebette als Arzt und Tröster; aber indem es sich der Laune des Kranken fügte, wurde es selbst römisch, barbarisch, kurz alles was Sie wollen, nur nicht evangelisch. Da sehen Sie einmal die Macht des Gattungslebens, die Macht der Massen. Die Menschen meinen, es reiche hin, eine Wahrheit wie ein mathematisches Theorem zu beweisen, und die anderen werden sie dann gleich annehmen; es reiche hin, an etwas zu glauben, und die anderen werden es auch glauben. Daher rühren die größten Mißverständnisse. Die einen tragen etwas vor, die anderen hören ihnen zu, aber verstehen etwas ganz anderes, denn ihre geistige Entwicklung ist eine ganz andere. Was haben die ersten Christen gepredigt, und was blieb im Bewußtsein der Massen? Die Masse begriff alles Unbegreifliche, sie nahm alles Traditionelle, Mystische oder Absurde an. Das Klare, Einfache und Große in der Lehre war ihr unzugänglich. So haben die Völker alles angenommen, was das menschliche Gewissen fesselt und nichts, was es befreite. Gehen Sie zu den Zeiten der Revolution über, so werden Sie dasselbe Verhältnis finden. Der hingerissene Teil des Volks hat die Revolution als eine blutige Vergeltung, als Guillotine und Schrecken, betrachtet. Die bittere historische Notwendigkeit, zu diesem Mittel zu greifen, wurde zum feierlichen Ruf, und zum Worte »fraternité« fügte der Mensch das Wort »ou la mort!« hinzu. Nachdem wir das alles gesehen haben, müssen wir ein- für allemal annehmen, daß es nicht genug war, der römischen Welt das Evangelium anzukündigen, um aus ihr eine demokratische Republik zu machen, wie sie die Apostel sich dachten, nicht genug in zwei Kolonnen eine illustrierte Ausgabe der Menschenrechte herauszugeben, um aus einem Knechte einen freien Menschen zu machen.« – Und ferner diese Stelle, die ein Schrei des Schmerzes über die Junitage ist:

»Drei Monate lang hatten die durch das allgemeine Stimmrecht von ganz Frankreich gewählten Menschen nichts getan. Auf einmal standen sie in ihrer ganzen Größe auf, um der Welt ein Schauspiel zu geben, das man niemals gesehen hatte: das Schauspiel von achthundert Menschen, die wie ein Missetäter und Wüterich handelten. Das Blut floß in Strömen, und sie fanden kein Wort der Liebe und des Mitleids. Alles Hochherzige, alles Menschliche wurde von ihnen mit einem wilden Schrei der Rache und der Indignation überdeckt, sogar die Stimme des sterbenden Affre konnte diesen polycephalen Caligula, diesen in kupferne Scheidemünzen gewechselten Bourbon nicht rühren. Sie drückten die Nationalgardisten, die wehrlose Menschen ohne Gericht totgeschossen hatten, an ihr Herz. Sinard segnete von der Tribüne herab den blutigen Cavaignac – und Cavaignac weinte still verschämt ob dieses Segens, nachdem er die greulichsten Missetaten vollbracht hatte, um das Vertrauen dieser Advokatenseelen zu rechtfertigen. – Aber das ist ja alles die Majorität! – Und wo war denn die Minorität? – Der Berg machte sich unsichtbar, die kräftigeren Volkstribunen schwiegen still, im Innern ihrer Seele zufrieden und dankbar darüber, daß man sie nicht erschossen und in feuchte Keller geworfen hatte. Sie sahen allem zu, ohne nur den Mund zu öffnen, sahen, wie man die Bürger entwaffnete, wie man die Deportationen dekretierte, wie man Menschen ins Gefängnis schleppte für alles Mögliche, unter anderem dafür: daß sie nicht auf ihre Brüder schießen wollten (denn man muß wissen, daß der Mord an jenen Tagen zur heiligen Pflicht wurde, und daß derjenige, dessen Hände nicht vom Proletarierblut troffen, dem Bourgeois verdächtig erschien). Die Majorität hatte wenigstens den Mut, sich offen als Missetäter zu zeigen – aber diese armseligen verächtlichen Freunde des Volkes, diese Rhetoren, diese hohlen Herzen! – Nur ein männlicher Schrei des Unwillens, nur eine große Indignation hatte den Mut, sich Luft zu machen, aber das war außerhalb der Mauern der Kammer. Der schwarze Fluch des Greises Lamennais wird als Brandmal auf der Stirn jener entsetzlichen Kannibalen haften bleiben, und noch schwerer auf jenen Schwächlingen, die so frech waren, das Wort Republik auszusprechen, während sie doch vor dessen Sinn kleinlich erbebten.

»Paris! O wie lange glänzte dieser Name als ein leuchtender Stern für die Völker! Wer liebte es nicht, wer huldigte ihm nicht? Aber seine Zeit ist vorbei, man lasse es von der Bühne abtreten. In den Junitagen hat es einen Kampf angefangen, den es selbst nie lösen wird. Paris ist alt geworden und die jungen Phantasieen stehen ihm schlecht; entkräftet wie es ist, braucht es starke Erschütterungen, um wieder aufzuleben; es ist an die Bartholomäusnächte und die Septembertage gewöhnt. Leider aber haben selbst die Greuel des Juni es nicht wieder belebt. Wie wird denn der alte Vampyr noch das Blut der Gerechtigkeit finden, das bei der Illumination am 27. Juni die Lämpchen der siegestrunkenen Bourgeoisie widerstrahlten? Armes Paris! Alles, was dir teuer war, wendet sich gegen dich: du liebtest es, mit Soldaten zu spielen, du hattest dir einen glücklichen Soldaten zum Kaiser ernannt, du hast diesen Missetaten, die man Siege nennt, Beifall zugejauchzt, du hast Triumphbogen und Statuen errichtet, du hast die spießbürgerliche Figur des kleinen Korporals auf eine Säule gestellt, damit sie die ganze Welt bewundere, du hast fünfundzwanzig Jahre nach seinem Kasernendespotismus die Reliquien des Soldaten zu den Invaliden getragen, und jetzt hofftest du wieder den Anker des Heiles der Freiheit und Gleichheit in dem Soldaten zu finden; du riefst die Horden der verwilderten Afrikaner gegen deine Brüder, um nicht dein Gut mit ihnen zu teilen, und ließest sie von der kalten Hand der Mörder par métier niedermetzeln. – Man lasse also Paris die Folgen seiner Taten büßen. Es füsiliert ohne Gericht. Das kann nicht ungerächt hingehn; Blut schreit nach Blut, und was wird aus diesem Blut? Wer kann es wissen? Aber möge kommen was da wolle, es ist genug, daß in diesem Brande des Wahnsinns, des Hasses, der Rache, der Wiedervergeltung und des Haders die Welt untergehn wird, die den neuen Menschen niederdrückt, die ihn am Leben hindert, die die Verwirklichung der Zukunft nicht erlaubt. Ist denn das nicht genug?

»Und deswegen lebe das Chaos und die Extermination! Vive la mort! Platz der Zukunft!«

Dies war geschrieben am 24. Juli 1848, nachdem der Verfasser die blutigen Greuel der Junitage mit eignen Augen gesehen und mit seinem scharfen Blick erkannt hatte, was von der französischen Republik zu hoffen war, noch ehe diese durch Besiegung der römischen Schwester sich das unauslöschliche Brandmal aufgedrückt und es bewiesen hatte, daß sie eben nichts anderes war, als die alte despotische Ordnung der Dinge unter anderem Namen. Aber neben diesen mit dem eignen Herzblut geschriebenen Lava-Ausbrüchen einer feurigen Seele kamen auch Mitteilungen über jenes ferne Volk im Osten, das unter seinem, allen anderen Despotismen ähnlichen Despotismus ein eigentümliches, der europäischen Zivilisation fernabliegendes Dasein bewahrt hatte und in seiner »festen Burg«, der Kommune, stumm und unausgebildet, der Möglichkeit einer zukünftigen Entwicklung entgegenharrte. Es kamen Hindeutungen auf eine Literatur der Opposition gegen das düstertyrannische Regiment von Petersburg, die nicht unbedeutend sein konnte und deren Charakter folgendermaßen gezeichnet wurde: »Eine bittere Hoffnungslosigkeit und eine bittere Ironie des eignen Geschicks bricht überall durch, sowohl in den Versen Lermontoffs als in Gogols Hohngelächter, das, wie er sagt, die Tränen verdeckt.«

Als ich Hamburg verließ, hatte mir eine der mir liebsten Schülerinnen der Hochschule das Buch geschenkt, indem sie hineinschrieb: »Ich schenke Ihnen in diesem Buche mein liebstes Eigentum, weil ich gerne recht lebhaft in Ihrem Andenken leben möchte.« – Ich hatte es also mit mir nach England genommen und oft schon beim Wiederlesen dieser feurigen Ergüsse Trost gefunden. Wie freudig mußte es mich also berühren, als ich eines Tages bei Kinkels hörte: »Der Russe Alexander Herzen ist in London angekommen!« Ich äußerte meinen lebhaften Wunsch, ihn kennen zu lernen, worauf Kinkel mir sagte, daß nichts leichter sei, da er einen der nächsten Abende zu ihnen kommen werde. Wirklich erhielt ich auch einige Tage darauf die Aufforderung, abends hinzukommen, um Herzen zu begegnen. Ich ging mit großer Erwartung hin und fand bereits den mit Herzen befreundeten und mit ihm zusammenlebenden General Haug mit Herzens jungem, damals bildschönem Sohne vor. Haugs Namen hatte ich auch schon nennen hören; es war mir lieb, den klugen, vielgereisten Mann kennen zu lernen, dessen energisches Handeln ihm bereits meine Achtung erworben hatte, und ich freute mich an der großen Schönheit des Knaben. Endlich trat Herzen selbst ein, eine gedrungene, kräftige Gestalt mit schwarzem Haar und Bart, etwas breiten, slavischen Zügen und wunderbar leuchtenden Augen, die mehr als alle anderen Augen, die ich je gesehen, im lebendigen Wechsel der Empfindungen das Innere wiederstrahlten. Er wurde mir vorgestellt, und bald war die lebendigste Unterhaltung im Gange, bei der sich der mir aus dem Buche schon kenntlich gewordene, scharfe, blitzende Geist, durch eine glänzende Dialektik noch hervorgehoben, in bedeutendster Art zeigte. Sonderbarerweise fand sich fast bei allen Punkten, die das Gespräch berührte, mehr Übereinstimmung meiner mit seinen Ansichten, als mit denen der übrigen Mitglieder der Gesellschaft, und als uns nach dem Tee nach englischer Sitte Wein und die unter dem Namen »sandwich« bekannten Butterbrötchen serviert wurden und man verschiedene Toaste ausbrachte, erhob ich mein Glas gegen Herzen und sagte scherzend: »Die Anarchie!« worauf er lächelnd anstieß und erwiderte: »ce n'est pas moi qui l'ait dit.« – Er, sein Sohn und Haug begleiteten mich bis zur Tür meines Hauses, und ich hatte nach diesem Abend das wohltuende Gefühl, daß eine bedeutende Persönlichkeit in mein Leben eingetreten war, zu der ich mich durchaus harmonisch fühlte.

Eines Flüchtlingshauses habe ich noch zu gedenken, in dem ich zu jener Zeit viel verkehrte. Es war das Haus des Grafen Oskar Reichenbach, der mit seiner Familie in einem weit abgelegenen, ganz andern Stadtviertel als dem unsern wohnte und daher nur selten in dem Brüningschen Kreis erschien. Ich war durch Kinkels dort eingeführt, und da ich freundlichst aufgenommen und zu öfterem Kommen eingeladen worden war, mich auch sehr angezogen fühlte, so ging ich so oft hin, als es meine Zeit erlaubte; denn wenn ich nicht wenigstens einen halben Tag dort zuzubringen hatte, so lohnte es nicht der Mühe, die weite Reise im Omnibus, dessen ich mich bediente, da Droschken zu teuer waren, zu machen. Hier war es nun vor allem der Hausherr, der den anziehenden Mittelpunkt der Häuslichkeit bildete. Graf Reichenbach war der Typus eines nordischen Aristokraten: hoch, schlank, blond, vornehm in Zügen und Haltung, äußerlich kalt und zurückhaltend, sparsam mit Worten, anscheinend öfters hart und gebieterisch. Bei unserer ersten Bekanntschaft machte mich dies zwar imponierende aber etwas starre Wesen fast ungeduldig und stieß mich ab. Man war so gewohnt, mit den Gesinnungsgenossen sich von vornherein auf einem gemeinschaftlichen Boden und durch gemeinschaftliche Interessen verbunden zu fühlen, daß man diese adeligen Barrièren mit einer Art von Unmut empfand. Aber wie das nordische Eis, wenn es schmilzt, uns den Frühling doppelt schön finden läßt, so brauchte es für den guten Beobachter nicht lange Zeit, um hinter der kalten Außenseite eine Fülle der edelsten Eigenschaften zu entdecken, die diesen Mann im wahren Sinn des Worts zum Aristokraten stempelten. Eine ritterlich hochherzige Gesinnung bestimmte sein Urteil und sein Handeln, wie es denn seine bis zur letzten Konsequenz getriebene Überzeugungstreue, die ihn in das Exil führte, bewiesen hatte. Er war im praktischen Leben nur als Edelmann zu handeln gewohnt gewesen und hatte für den Betrieb irgend einer Erwerbstätigkeit, selbst wenn sie nicht in die gemeine Sphäre des Schacherlebens hinunterstieg, wenig Fähigkeit. Aber in den Höhen mathematischer Probleme, großer kosmischer Gedanken, wissenschaftlicher Naturbetrachtung war er ein Denker, dem an Schärfe und Klarheit wenige gleichkamen. Dabei milderte sich für die, denen er wohlwollte, sein starres Wesen zu einer Herzlichkeit, die doppelt angenehm überraschte, je weniger man sie erwartet hatte. Gegen mich war er immer freundlich, und trotzdem er mich ein wenig einschüchterte, fand ich doch große Freude an seiner Unterhaltung. Seine Frau, eine Bürgerliche, erweckte meine innigste Teilnahme durch ihre Güte und die Resignation, mit der sie vielfache Leiden trug, und ich ging gern zu ihr, um sie zu trösten, aufzuheitern und ihren Erzählungen aus der Vergangenheit zuzuhören, in denen sie mir unzählige Züge von dem Edelmut ihres Gatten berichtete und von der Art, wie er, noch vor Beginn seiner politischen Laufbahn, als großer schlesischer Gutsbesitzer seine adelige Stellung zum Besten der ärmeren Klassen benutzt hatte. Drei noch kleine Kinder vollendeten die Familie, in der häufig auch ein Bruder der Gräfin erschien, einer der seltensten menschlichen Typen, die mir je vorgekommen sind. Wäre er mir in der Kleidung eines indischen Büßers oder eines buddhistischen Priesters erschienen, so würde ich seine Erscheinung ganz natürlich gefunden haben, aber in der modernen Welt der Industrie, der Habsucht und Gewinnsucht einer solchen Selbstlosigkeit und inkarnierten Menschenliebe zu begegnen – das war überraschend und fremdartig. Man hatte auch das Seltene einer solchen Gemütsart nicht anders als durch Wahnsinn zu erklären gewußt und hatte, vor vielen Jahren, den Armen in eine Irrenanstalt gesteckt; aber auch da hatte die Überzeugung, daß er wirklich war, was er schien, nämlich: ein ungewöhnlich selbstloser, aufopfernd edler Mensch, den Sieg davongetragen. Er lebte seitdem als Hauslehrer in England, hatte immer hervorragende Stellungen in den Familien der englischen Aristokratie, wurde seiner vielfachen gründlichen Kenntnisse und seines tadellosen Charakters wegen hoch geachtet und mit mehr Auszeichnung behandelt als die meisten Lehrer und hätte auch wahrscheinlich materiell sehr gut für sich sorgen können, wenn er nicht das Gebot des Evangeliums wörtlich genommen und wirklich alles, was er hatte, mit denen, die ärmer waren als er, geteilt hätte. Er erschien öfter im Kreis der Frau von Brüning, so daß ich ihm vielfach begegnete. Er war ein Optimist, wie ich selten einen gesehen, und in allen den ungünstigen Umständen, in denen die meisten Freiheitskämpfer ein Unglück erblickten, ja selbst in dem Wüten der eingetretenen Reaktion, sah er nur die notwendigen Entwicklungsphasen der Geschichte der Freiheit, deren glorreiche Erfüllung er fortwährend in nächster Nähe glaubte und zu deren Vollziehung er eine neue Inkarnation der Zukunftsideen in einer großen Persönlichkeit erwartete. Er hatte eine ungemein große Kenntnis des englischen Lebens und der wahrhaft typisch englischen Verhältnisse, und durch seine Vermittlung verkehrten mehrere der bedeutendsten englischen Persönlichkeiten im Reichenbachschen Hause. Ich sah dort unter andern den Schriftsteller Thomas Carlyle und seine Frau, mit welcher letztern besonders ich nachher näher bekannt wurde.

Meine eigentliche Heimat in der Flüchtlingswelt war und blieb aber im Hause von Kinkels. Sie, obgleich sie das Vaterland und die Republik immer im Grund des Herzens trugen und jeden Augenblick bereit waren, wieder alles dafür aufzuopfern, hatten sich entschlossen und rückhaltlos an die unausgesetzte, oft harte Arbeit um das tägliche Brot begeben, und ihr einfaches, ernstes Leben glich fast in allem dem, das sie vor der Revolution an den Ufern des Rheins geführt hatten, nur daß die heitere Poesie ihrer rebenbekränzten Heimat in den Nebeln von London fehlte. Bei ihnen fühlte ich mich in einer sittlich reinen Luft und fand Teilnahme und Rat für alle meine großen und kleinen Sorgen.


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