Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Das Exil

So schwamm ich denn auf den Meereswogen, allein, flüchtig und tiefbetrübt. Ich dachte daran, wie oft der Mensch in seinem Wahn das Schicksal aufhält, um es nachher sich in bitterer, beleidigenderer Weise erfüllen zu sehen. Hätte mich damals nicht die Rücksicht auf meine Mutter zurückgehalten, nach Amerika zu gehen, auf jene freie Erde, wo ich meinen Überzeugungen gemäß hätte leben können, ohne mit der Gesellschaft, in der ich geboren war, in Widerspruch zu geraten, ohne die Sympathien meiner Familie zu verletzen, so hätte ich mir wahrscheinlich zu der Zeit schon irgendeine friedliche Existenz jenseits des Ozeans zu gründen vermocht, und die Meinigen hätten meiner mit Bedauern, ja mit Schmerz gedacht, aber ohne jede Bitterkeit, die ihnen die Art meiner Abreise notwendig zurücklassen mußte. Und doch war ich dabei schuldlos, es war ja alles nur die Folge des Zusammenstoßes des Charakters mit den äußeren Verhältnissen, der mit unerbittlicher Logik niemals weder in der einen noch der anderen Richtung führt, sondern zwischen beiden in einer Diagonale, zu einem Punkt, an den wir selbst niemals gedacht hatten. Eines Tages hatte ich freiwillig das Vaterland verlassen wollen, in dem das Ideal, das ich geträumt hatte, sich nicht verwirklichte; aber jetzt, als ich die deutsche Küste hinter mir versinken sah, und nur die grüne Welle und der bleigraue Himmel sich noch meinen Blicken darboten, da fühlte ich, daß es hart ist, aus der Heimat in das Exil fliehen zu müssen.

Am Morgen der Abreise hielt ich mich in der Kajüte, wie mir meine Freunde geraten hatten, bis der Inspektionsbesuch der Behörde, der auf jedem abfahrenden Schiffe stattfindet, vorüber war. Als wir abfuhren, ging ich auf das Deck und glaubte daselbst bleiben zu können, wurde aber bald inne, daß dem nicht so sei und daß ich dem Meere meinen Tribut zu zahlen haben würde. Ich verließ die Kajüte während der Überfahrt, die zwei Tage und zwei Nächte dauerte, nicht mehr und machte keinerlei Bekanntschaft, woran mir auch nichts gelegen war. Als ich hörte, daß wir die Mündung der Themse erreicht hätten, stand ich auf und begab mich auf das Deck. Hier sah ich nun, unter einem nebligen Himmel, eine neue, reiche, mächtige Welt sich vor mir auftun. Große Schiffe lagen vor Anker, Dampfer und Boote von allen Größen schossen auf dem breiten Strome hin und her, Städte und Dörfer winkten von den Ufern, an denen buntes Gewimmel Zeugnis gab von der Lebendigkeit des Verkehrs, und alles das steigerte und mehrte sich, je näher wir der großen Welthauptstadt kamen. Ich war angezogen, interessiert und zu gleicher Zeit bedrückt, denn ich kam allein an, von niemand erwartet, kaum wissend, wohin ich meine Schritte richten sollte und, obgleich ich die Sprache vollkommen kannte, doch kaum verstehend, was die Kehllaute meinten, als ich sie zum erstenmal aus dem Munde des Volkes hörte. Endlich hielt unser Schiff in den großen Sankt-Katharinen-Docks, und ich verließ es gleich den anderen Passagieren, um mich auf das daselbst befindliche Zollamt zu begeben. Die Durchsicht des einzigen Reisesacks, den ich bei mir hatte, war bald gemacht. Es überkam mich aber ein angenehmes Gefühl der Freiheit, als man mir keinen Paß abforderte. Sich auf einer gastfreien Erde zu fühlen, ohne das beleidigende Verhör von »wer? woher? wohin?« durchmachen zu müssen, das war wohltuend und ein Sachverhältnis, würdig eines großen Volkes, das sich sicher fühlt unter dem Schutz seiner Gesetze und den Fremdling daher von vornherein mit Vertrauen aufnimmt. Zeigt er sich dessen unwert – nun, so wird er die Folgen derselben Gesetze fühlen, die da sind, um die Gesellschaft zu beschützen, nicht um sie zu bedrücken. Ich konnte also gehen, wohin ich wollte, und bat einen der Beamten, mir die Weise anzuzeigen, wie ich Sankt-Johns-Wood, einen Teil Londons, wo die Flüchtlingsfreunde wohnten, an die ich mich zu wenden dachte, erreichen könne. Er zeigte mir ziemlich bereitwillig einen großen Omnibus, der mich dorthin bringen würde. Ich vertraute dem Führer meinen Reisesack, nannte ihm die Adresse, die ich suchte, und übergab mich meinem Schicksal. Ich hatte geglaubt, glücklich eine Reise vollendet zu haben, merkte aber bald, daß ich eine neue angetreten hatte, denn wir fuhren durch Straßen und über Plätze, über Plätze und durch Straßen ohne Zahl und ohne Ende. Die dunklen, hohen Häuser, der graue Himmel, der Lärm der sich unaufhörlich folgenden Wagen, die Massen der Fußgänger, die sich auf den Trottoirs in fieberhafter Hast drängten, als ob das Leben davon abhinge, einer dem andern zuvorzukommen – alles das verwirrte und betäubte mich. Mein Nachbar im Omnibus erklärte mir, daß dies die »City« sei, der Mittelpunkt des Handels- und Arbeitslebens von London.

Danach kamen wir in schönere, breitere Straßen mit palastähnlichen Häusern, mit dem unverkennbaren Charakter eines Daseins voll Pracht und Macht, aber immer ebenso von dem Schleier des grauen, bleifarbenen Himmels umzogen; das war das »Westend«, der Aufenthalt der Aristokratie.

Endlich, nach einer Fahrt, die mir eine Ewigkeit schien, erreichten wir einen Teil der Riesenstadt, wo alles einen freundlicheren, vertrauteren Anstrich annahm. Hübsche, kleine, neue Häuser, in buntestem Baustil durcheinander gebaut, von zierlichen Gärten umgeben, machten einen versöhnenden Eindruck nach den dunklen Steinmassen, die wir bis jetzt durchfahren; ebenso die breiten, ungepflasterten Straßen, auf denen das Wagengerassel weniger empfindlich war, und die Fußgänger, die still auf den Trottoirs einherschritten, statt sich in ängstlicher Hast zu jagen. Man fühlte hier, daß man auch irgendwo in diesem Ungeheuer von Stadt ruhig leben und atmen könne, und ich ward angenehm überrascht, als unser Omnibus anhielt und der Kondukteur mir erklärte, daß wir am Ziel seien und ich nun bloß zu Fuß die Straße, an deren Ecke wir hielten, weiter zu verfolgen habe, um an das bezeichnete Haus zu gelangen. Er reichte mir meinen Reisesack, ich hielt ihm eine Hand voll kleiner, englischer Münze hin und ließ ihn, was er wollte, nehmen, da ich sie noch nicht gut kannte. Dann verfolgte er seinen Weg nach einer anderen Seite und ließ mich an der Straßenecke allein. Ich faßte meinen Sack und schritt, nicht ohne eine tiefe innere Erregung, dem Hause zu, in dem ich die bekannten und doch unbekannten Freunde finden sollte, die mein einziger Anhaltspunkt waren.

Um dies zu erklären, muß ich ein wenig zurückgreifen und berichten, was ich, um den einheitlichen Gang der Erzählung nicht zu stören, im Anfange ausgelassen habe. Schon ehe ich nach Hamburg ging, hatte ich, aus meiner Einsamkeit heraus, eine Korrespondenz mit einer Frau angefangen, deren Genie und deren Unglück mich gleich anzogen. Diese Frau war keine andere als Johanna Kinkel. Ich hatte zuerst von ihr reden hören durch Theodor, der ein Schüler ihres Mannes auf der Bonner Universität gewesen war und mir oft mit Begeisterung von dem von der akademischen Jugend vergötterten Lehrer erzählt hatte, sowie von dessen hochbegabter, sehr eigentümlicher Frau und ihrem reizenden häuslichen Leben.

Im Frühjahr des Jahres 1849, als Kinkel, der einzige unter seinen akademischen Kollegen, die Waffen ergriff, um als gemeiner Soldat im badischen Revolutionsheere seine Überzeugungen mit seinem Leben zu vertreten, hatte sich mein Interesse für ihn bis zur Begeisterung gesteigert, und mit tiefem Anteil hatte ich den Verlauf seines Prozesses, seiner Verurteilung zum Tode, seiner Begnadigung zu lebenslänglichem Zellengefängnis verfolgt. Als ich später den Bericht über sein Kölner Verhör und die von ihm bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede las, lief ich in leidenschaftlichem Schmerz im Zimmer auf und ab, zerknitterte die Zeitung in meinen Händen und verwünschte meine Ohnmacht. Das Bild des Gefangenen, dessen schönheitsdurstige Augen jetzt auf nackten Zellenwänden ruhten, der, anstatt daß er in jungen Seelen durch seinen Vortrag Begeisterung weckte oder seiner Seele Träume in Liedern ausströmte, Wolle spinnen mußte, aus der ihm von nun an seine grobe Kleidung gefertigt werden sollte – dieses schmerzensvolle Bild kam mir Tag und Nacht nicht aus dem Sinn. Auch war bei allen Redlichen in Deutschland nur ein Schrei des Schmerzes und der Empörung über dieses Schicksal. Nur die Pietisten frohlockten, denn ihnen schien jetzt diese Seele, die ihnen vordem aus der Theologie in die Freiheit entflohen war, eine sichere Beute, auf die sie sich in der grauenvollen Einsamkeit der Zelle mit Traktätchen und Bibeln niederlassen konnten, um sie in ihren Krallen in den pietistischen Himmel zu entführen. Mit ebensoviel Sympathie als an ihn dachte ich aber auch an seine hochherzige Frau, die, nachdem sie alles vergebens zu seiner Rettung versucht hatte, nun, wie ich wußte, außer dem ungeheuren Schmerz auch noch die Sorge um den Unterhalt ihrer Familie zu tragen hatte, den sie als treffliche Musikerin durch Stundengeben zu bestreiten suchte. Zu ihr mit liebevoller Teilnahme zu dringen war nicht so unmöglich wie zu ihrem Gatten. Ich entschloß mich ihr zu schreiben, und wohl mußte mein Brief das Gepräge der tiefen Mitleidenschaft getragen haben, denn ich erhielt die allerherzlichste Antwort und die Aufforderung, mehr von mir selbst zu sagen, damit wir uns nicht fremd blieben, uns persönlich vertraut würden. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, und es kam damit ein neues, hohes, erwärmendes Interesse in mein damals so armes Leben. Bald kannte ich ihre Geschichte, ihr vergangenes Glück, ihr jetziges Leiden, die Charaktere und Anlagen ihrer Kinder; sie dagegen wußte in kurzem mein ganzes Leben, den Dualismus, in dem ich mich befand, die Leiden, die ich für meine Überzeugungen duldete. Sie billigte ganz und gar meinen Entschluß, nach Amerika zu gehen; sie schrieb mir darüber: »Was ist Ihr Leben hier? Eine Quelle ewigen Schmerzes für Sie und die Ihren. Was kann Ihr Leben dort sein? Eine belebende Sonne für Ihre dortigen Freunde.« Als ich in Hamburg war, schrieb sie mir, um mich zu fragen, ob ich ihr nicht Briefpapier mit Vignetten schicken könne. Sie durfte ihrem Manne nur einmal im Monat schreiben; ihre Briefe wurden vom Direktor des Gefängnisses gelesen und mußten sich auf Familiennachrichten beschränken. So hatte sie sich ausgedacht, auf Bogen mit Vignette zu schreiben, um die Öde des Gefängnisses dadurch etwas zu erheitern. In Bonn und Köln hatte sie alles erschöpft, was sich von illustrierten Briefbogen finden ließ, und sie wandte sich nun an mich, um zu sehn, ob ich ihr etwas Neues schicken könne. Ich kam auf den Einfall, selbst kleine Zeichnungen, Kopien von schönen Architekturen oder von Landschaften auf Briefbogen zu verfertigen und ihr diese zu schicken, und so suchte ich noch einmal mein altes Talent hervor, um einem edlen Unglück zu dienen. Einmal, auf die Aufforderung seiner Frau, schrieb ich dem Gefangenen, natürlich einen offenen Brief, der nur literarische Fragen enthielt. Ich bekam auch eine sehr schöne, Leben, ja Heiterkeit atmende Antwort. Später wurden mir Mitteilungen gemacht über einen Plan, der entworfen war, um Kinkel zur Flucht zu verhelfen, und wie groß war mein Glück, als eines Abends in der Hochschule, als Theodor den Prometheus von Äschylus vorgelesen hatte, nach dem letzten Wort Jakob Venedey in den Saal trat und mit lauter, freudig bewegter Stimme ausrief: »Meine Herren und Damen, ich bringe eine frohe Nachricht: Kinkel ist aus Spandau entflohen!«

Seitdem bewohnte die glücklich wieder vereinigte Familie London, und schon mehr als einmal war von dort aus die Aufforderung an mich ergangen, auch nach London zu kommen, und mir dort gleich ihnen eine neue Heimat der Arbeit zu gründen. Nun trieb mich das Schicksal selbst, der Aufforderung Genüge zu leisten, und zu ihnen, zu Kinkels war es, daß ich jetzt, ein einsamer Flüchtling, meine Schritte lenkte. An dem kleinen »cottage«, das, wie fast alle Häuser jenes Teils von London, an der Tür des sie umgebenden, mehr oder minder großen Gartens einen besondern Namen, außer der Hausnummer, angeschrieben hatte, stand ich einen Augenblick still, um das gewaltige Pochen meines Herzens zu beschwichtigen. Über dieser Tür stand sicher nicht geschrieben: »Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!« Im Gegenteil: wenn es auf Erden noch etwas zu hoffen für mich gab, so lag der Anfang davon hinter dieser Tür; gab es aber überhaupt noch etwas für mich zu hoffen auf dieser Welt? War der Kampf um das nackte Dasein es noch wert, ihn aufs neue zu beginnen? – Da indes in solchen Augenblicken das Schicksal uns gewöhnlich keine Antwort gibt, sondern uns stumm den Versuch wagen läßt, so entschloß ich mich endlich, die Klingel zu ziehen und das darauf erscheinende Mädchen zu fragen, ob Frau Kinkel zu Hause sei. Sie ließ mich in ein Zimmer ebener Erde eintreten und verließ mich, kehrte aber bald darauf mit einem Blättchen Papier und einem Bleistift in der Hand zurück und bat mich, meinen Namen aufzuschreiben. Ich schrieb bloß meinen Vornamen, und sie verließ mich abermals, um den Zettel in die obere Etage zu bringen. Gleich darauf hörte ich ein freudiges Aufschreien mehrerer Stimmen, eilige Schritte flogen die Treppe herunter, die Tür ward aufgestoßen, und ehe ich irgend etwas unterscheiden konnte, fand ich mich von großen und kleinen Armen umfangen und mit Jubel begrüßt. Mit Rührung empfand ich es, was die Vergütung sei für den bittern Kelch des Exils, nämlich: daß die, die sich vordem nie gesehen, sich augenblicklich als Kinder derselben idealen Heimat erkannten und sich als einander angehörig fühlten, ohne alle die Zeremonien durchmachen zu müssen, die die alte Gesellschaft, deren Hauptzweck es war, den Menschen vor dem Menschen zu verstecken, für erforderlich hielt.

Nachdem der erste Sturm des Fragens und Antwortens sich gelegt, nachdem sich ihr Erstaunen und ihre Entrüstung über das mir Widerfahrene, das die Ursache meiner Flucht geworden war, ausgesprochen hatte, kam ich dazu, mir den ersten Eindruck klar zu machen, den ich von meinen neuen Freunden empfing. Johanna Kinkel hatte nichts in ihrem Äußern von dem, was man gewöhnlich bei Frauen schön oder anmutig nennt; ihre Züge waren stark, fast männlich, ihr Teint auffallend dunkel, ihre Gestalt massiv, aber über dem allem thronten ein paar wunderbare dunkle Augen, die von einer Welt von Geist und Empfindung zeugten, und in den reichen Modulationen ihrer tiefen, vollen Stimme tönte eine Fülle des Gefühls, so daß man unmöglich beim ersten Eindruck sagen konnte: »Wie häßlich ist diese Frau!« sondern sagen mußte: »Welch eine bedeutende Frau! und welches Glück wird es sein, sie näher kennen zu lernen!« – Kinkel dagegen war, trotz aller überstandenen Leiden, in der vollen Kraft seiner männlichen Schönheit; sein Benehmen hatte etwas Sanftes, Feines, ja Zierliches, das man Johannens schrofferem Wesen gegenüber weiblich nennen konnte; er war höflich bis zur Galanterie, äußerst angeregt in der Unterhaltung und voller Witz, dem er zuweilen absichtlich den Anschein der Frivolität geben wollte, weshalb ich ihm später, als wir herzlich gute Freunde waren, einmal lachend sagte: »Ach geben Sie sich doch nicht so viel Mühe, frivol zu scheinen, es gelingt Ihnen ja doch nicht.« Er kam mir mit der freundlichsten Offenheit entgegen, dennoch fühlte ich bestimmt vom ersten Eindruck an, daß er, trotz so vieler glänzender Vorzüge, mir nie so viel werden würde wie Johanna, wohl aber, daß ein festes Vertrauen in seinen Charakter, der durch die mannigfach schillernden Äußerlichkeiten und einen Anflug von selbstgefälligem Wesen, in echt deutscher Treue, Redlichkeit und Männlichkeit durchschaute, in mir die Grundlage zu einer dauernden Freundschaft werden könnte, die sich denn auch durch die Jahre und den Wechsel der Geschicke hindurch bewährt hat. Die vier Kinder waren noch zu klein, um etwas anderes von ihnen zu sagen, als daß ihr munteres, zutrauliches Wesen und ihre geistige Lebendigkeit den wohltuendsten Eindruck machte.

Beide Gatten gingen sogleich mit wahrhaft rührender Sorglichkeit zur Beratung der praktischen Lebensfragen für mich über. Ihre angebotene Gastfreundschaft wollte ich unter keiner Bedingung länger als für den ersten Tag in Anspruch nehmen. Ich wußte, wie beschränkt ihre Mittel waren und wie hart sie kämpfen mußten, um sich in diesem Land, wo die Arbeit besser bezahlt wird als irgendwo, wo aber auch das Leben im Verhältnis teurer ist, mit der Familie eine Existenz zu gründen. Johanna, die zum Glück an diesem Tage keine dringende Arbeit hatte, ging mit mir, und der Zufall fügte es so gut, daß wir ganz nahe bei ihnen eine kleine Wohnung fanden. Nachdem ich bei ihnen gegessen und den Abend traulich wie unter den Meinigen verbracht hatte, geleitete Kinkel mich in dieses neue Asyl und verließ mich mit ermunternden Worten und Wünschen.

Kaum fand ich mich aber in meinem engen unschönen Zimmerchen, in dem ein kolossales Bett, wie sie in England üblich, fast den ganzen Raum einnahm, allein, als das volle Gefühl meiner Lage mit Allgewalt über mich kam. Zum erstenmal im Leben war ich ganz allein, fern von allen, die ich bis dahin geliebt hatte, auf einer fremden Erde, mit dürftigen Mitteln, vor einer Zukunft, die stumm, düster und verheißungslos vor mir aufstieg. Die Aufnahme, die ich bei Kinkels gefunden hatte, war so liebevoll als möglich gewesen und hatte mir innig wohlgetan, aber rechnen durfte ich doch nicht auf sie, denn sie mußten, wie gesagt, selbst den schweren Kampf um das Dasein in diesem stürmischen Ozean von Leben, der London heißt, kämpfen, und sie hatten bei aller Freundschaft nicht einmal Zeit für mich, da die Zeit in London alles ist, das große Kapital, das ein jeder so hoch als möglich zu verzinsen strebt. Die Aussicht, die sich vor mir auftat, war, Stunden zu geben und so auch in die peinliche Lage zu kommen, den Freunden, den Bekannten Konkurrenz machen zu müssen. Noch stärker als die Sorge um die Zukunft quälten mich aber die Gedanken an die Vergangenheit; die Furcht, wie meine Mutter die Nachricht meiner Flucht aufgenommen haben würde, was meine Freunde in Berlin vielleicht noch zu leiden gehabt haben würden nach meiner Abreise, das Weh über das, was auf ewig versunken und verloren war – alle diese Sorgen und Schmerzen umstanden wie bleiche Gespenster mein Lager, als ich mich endlich, bis zum Tode erschöpft, niederlegte, und verscheuchten für lange Zeit die Ruhe, deren ich so dringend bedurfte.

Als ich am Morgen erwachte, kehrte mit dem Tageslicht auch mir etwas Mut zum Leben zurück, und ich begann damit, mich in meiner neuen Häuslichkeit umzusehen. Ich wohnte zu ebener Erde in einem Hause, das zwei Fenster in der Front und drei obere Stockwerke hatte, während die Küche und das Schlafzimmer der Hauswirtin sich im Souterrain befanden. Jedes Stockwerk hatte zwei Zimmer, eins nach vorn und ein Schlafzimmer dahinter; die zu ebner Erde waren kleiner, weil die Haustüre und der Gang davon abgeschnitten waren. Das vordere Zimmer ebner Erde heißt in England immer »the parlour« (das Sprechzimmer) und dient meist, wenn nur eine Familie das Haus bewohnt, als Eßzimmer. Wenn mehrere Mietsleute im Hause sind, so ist es öfter die Hauswirtin, die sich dieses Zimmer vorbehält und den Nießbrauch davon dem Mieter, der das hintere Schlafzimmer bewohnt, überläßt. Diese Einrichtung hatte auch ich getroffen: ich hatte nur die kleine hintere Schlafstube gemietet, durfte mich aber am Tage mit meiner Arbeit in dem parlour aufhalten, indem ich dabei freilich jeden Augenblick einer Unterbrechung durch die Hauswirtin, die auch ihre Besuche hierher führen konnte, gewärtig sein mußte. Aber es blieb mir keine Wahl, denn das Schlafzimmer enthielt außer einem, wie schon gesagt, enorm großen Bett, einer Kommode, dem Waschtisch und zwei Stühlen nur gerade noch so viel Raum, um meinen zu erwartenden Koffer hinzustellen; zudem ging es in einen düstern kleinen Hof und hatte also weder Raum noch Licht zur Arbeit; eines der oberen Stockwerke zu mieten, hatte ich aber keine Mittel. Vor dem Hause befand sich ein kleiner viereckiger Raum mit ein paar dürftigen, von Straßenstaub bedeckten Sträuchern und einem winzig kleinen Rasenplätzchen, das gegen die Straße mit einem Gitter und einer Tür abgeschlossen war, durch die man zu dem Hause einging. Diese Beschreibung paßte auf sämtliche Häuser der Straße, die sich so durchaus ähnlich sahen, daß man sein Haus nur an der Nummer erkennen konnte, und sie paßte nicht allein auf die Häuser dieser Straße, sondern auf die meisten Londoner Häuser, nur daß in den reicheren, vornehmeren die Dimensionen andere waren und ein Haus alsdann nur von einer Familie bewohnt wurde. Meine Hauswirtin war nicht die Eigentümerin des Hauses, sie hatte es nur auf eine Reihe von Jahren gemietet, es möbliert, und vermietete es nun wieder. Es ist auch dieses etwas sehr Allgemeines in England und bildet die Erwerbsquelle einer ganzen Klasse von Menschen, freilich auch zuweilen ihren Ruin.

Ich suchte mich zunächst mit meiner Hauswirtin bekannt zu machen. Sie war Witwe und hatte kürzlich ihren einzigen Sohn verloren. Bei unserer ersten Unterredung erzählte sie mir gleich alle diese Umstände und schilderte ihren sehr natürlichen Schmerz mit einem so komischen, prahlerischen Pathos, daß mein Mitgefühl dadurch etwas beeinträchtigt wurde. Auch hatte der Kummer offenbar ihrer Gesundheit nicht geschadet, denn sie war rund und fett und kupferrot im Gesicht, welche blühende Farbe, wie ich bald merkte, die Folge des häufigen Genusses von »gin« und »brandy« war, denen sie, wie viele Engländerinnen ihres Standes, einen allzu eifrigen Kultus widmete. Diese anderen Götter, die sie neben dem Gotte ihrer anglikanischen Kirche verehrte, hätten sie mir sicher sehr antipathisch gemacht, wenn sie nicht dabei eine sehr komische Seite gehabt hätte und ein so volkstümlicher Typus gewesen wäre, daß es mich unterhielt, sie zu studieren. Sie war die leibhaftige Mrs. Quickly aus Shakespeares Heinrich V., es fehlte nur Falstaff, um die Szene zu vervollständigen. Dabei trug sie sich auch ganz abenteuerlich; ich sah sie nie anders, als im Haus, als mit einem kurzen, schäbigen, alten Sammetmäntelchen und auf dem Kopf einen ebenfalls alten, verbogenen, schwarzen Hut mit vergilbten Trauerblumen. Ich merkte bald, daß dies ihr gewöhnlicher Anzug sei, und als ich mehr von London gesehen hatte, begriff ich den Grund. In London macht nämlich keine Frau aus dem Volke, keine Magd einen Schritt aus dem Hause, ohne einen Hut auf dem Kopf, und es ist das eines der häßlichsten englischen Vorurteile. Während das reinliche weiße Häubchen der französischen Dienstmagd hübsch und anständig aussieht, ist dieser meist schmutzige, verbogene, mit verblichenen Blumen oder Bändern geschmückte Hut der Engländerin, der sie »respectable« macht, abscheulich. Zur Aufwartung im Hause hatte Mrs. Quickly nur ein einziges vierzehnjähriges Mädchen, ein kleines, mageres, schwärzliches, schmutziges Geschöpf, dessen Glück sie zu machen behauptete, indem sie ihm eine tüchtige praktische Erziehung gäbe. Diese Erziehung bestand darin, daß ihr alle grobe Arbeit des Hauses aufgebürdet wurde, daß sie laufen und arbeiten mußte, vom Morgen bis zum Abend, so daß sie oft vor Müdigkeit umfiel, und daß sie tüchtige Ohrfeigen und Püffe bekam, wenn sie nach Mrs. Quicklys Ansicht nicht genug gearbeitet hatte oder wenn der Gin Mrs. Quicklys Sinne derart umnebelt hatte, daß ihr kein Schatten von Vernunft mehr blieb. Oft hielt sie aber auch noch in solchen Momenten dem Mädchen lange Reden voll hochtönender Phrasen, die aber nie über einen gewissen Anfang hinauskamen. Ich mußte ihrer in späteren Jahren öfter gedenken, als ich den trefflichen Komiker Robson in einer seiner beliebtesten Rollen sah, wo er sich im betrunkenen Zustande bemühte, die Definition eines vollkommenen Menschen zustande zu bringen, aber nie über die drei ersten Worte hinauskam. Kurz, Mrs. Quickly war mir eine der ersten typischen Erscheinungen des englischen Lebens, wie sie in Charles Dickens Romanen mit photographischer Treue geschildert sind. Ich wollte jedoch durchaus mit ihr in gutem Einvernehmen bleiben und hörte im Anfang mit unerschütterlicher Geduld den Erzählungen zu, die sich alle um das einzige Thema, ihren verstorbenen Sohn, drehten und mit bombastischen Reden seine unvergleichlichen Tugenden priesen. Doch wollte ich auch dem armen, dienenden Wesen nicht so viel Mühe machen und, schon seit lange gewöhnt, jeder Dienstleistung anderer für meine Person zu entbehren, nahm ich die Kleine in dieser Beziehung gar nicht in Anspruch. Einen der ersten Tage stieg ich, ein Musselinkleid auf dem Arm, zur Küche hinab, um mir ein Eisen zu erbitten und das Kleid dort zu bügeln. Die Küche war das wahre Königreich von Mrs. Quickly; hier herrschte sie allein am Herd, und das Mädchen durfte den Kasserollen auch nicht von ferne nahen. Mrs. Quickly sah mich mit unverhohlenem Erstaunen an, als ich eintrat, aber als ich meine Bitte vortrug, verwandelte sich ihr Erstaunen in Zorn: »Wie?« schrie sie, »Eine ›lady‹ will in der Küche bügeln? Das ist unmöglich!« Und mit der Miene beleidigter Majestät entriß sie mir das Kleid, befahl der Kleinen, einen Stahl ins Feuer zu legen und das Kleid zu besorgen; dann wandte sie sich wieder zu mir und sagte mit tragischem Ausdruck: »Sie sind eine Fremde, Sie kennen unsere englischen Gewohnheiten nicht; wir halten es aber für sehr unladylike, wenn eine Dame in die Küche kommt, und nun gar, wenn sie ihr Kleid selbst ausbügeln will. No Ma'am, please to ring the bell, wenn Sie etwas nötig haben, Sie verderben mir sonst meine Diener!« Sehr beschämt über meine Unwissenheit in Beziehung auf diese hohe Moral englischer Sitten, schlich ich mich in mein »parlour« zurück und mußte herzlich lachen, indem ich dies ziemlich schmutzige, erbärmlich möblierte Zimmerchen ansah und dachte, welchen Abgrund die Beschränktheit des Vorurteils zwischen dieser Stube zu ebener Erde und der Küche im Souterrain gegraben hat. Dann aber wurde ich traurig, denn ich sah, daß ich, die ich durch so viele schmerzensvolle Kämpfe gegangen war, um mich von Vorurteilen unabhängig zu machen, in diesem Lande noch dümmeren Vorurteilen zu begegnen haben würde, ohne die Möglichkeit, ihnen entgegen zu treten, weil ich, um mir eine Existenz zu gründen, von einer Gesellschaft abhängig werden mußte, die so eifersüchtig auf ihr »savoir vivre« ist, daß sie jede Abweichung davon wie eine Todsünde ansieht. Ich fand mich angesichts eines der greulichsten sozialen Probleme, die es gibt, nämlich: Heuchler sein und sich erniedrigen zu müssen, um des täglichen Brotes willen. Bittere Betrachtungen belagerten meine Seele und erhöhten die Melancholie, die ohnehin von mir Besitz genommen hatte. Ich hatte die Elastizität der ersten Jugend nicht mehr, nicht mehr den ungemessenen Glauben an die Zukunft, der über die Abgründe hinwegträgt; meine Wunden waren noch zu frisch und öffneten sich alle wieder vor einer Gegenwart, die auch nicht einen heilenden Balsam hatte. In den ersten Tagen ging ich nicht aus; ich erwartete Briefe von Anna, von meiner Familie; ich fühlte mich unfähig, die neue Welt, die mich umgab, in Augenschein zu nehmen. Meine neuen Freunde kamen ein paar flüchtige Augenblicke, mich zu sehen, aber sie hatten nicht lange Zeit. So kam der Pfingstsonntag heran. Früh am Morgen erschienen die lieblichen kleinen Kinkelschen Mädchen und brachten mir ein Billet vom Vater, welcher schrieb:

»Werte Freundin! Wollen Sie heute mit uns nach Hampton-Court, um Woolsey-Palast, den von Wild belebten Park, Raffaels Kartons, Holbeins Bilder, Mantegnas Triumph Cäsars und den baumgrünsten Fluß Europas, die obere Themse, zu sehen? Schütteln Sie Krankheit und Heimweh von sich, auch jeden tieferen Schmerz, und rasten Sie in großer verschönter Waldnatur einmal aus.

Um neun Uhr müssen wir in den Omnibus, sonst haben wir längst nicht Zeit genug, da man dort ohnehin nicht fertig wird. Ich hole Sie zu dieser Stunde ab. Wir gehen entweder per Eisenbahn oder Dampfboot.

Geben Sie den Kleinen zwei Zeilen Antwort. Herzlich

Ihr Freund

Kinkel

Ich nahm die freundliche Einladung an, und nachdem uns ein Omnibus an das Ufer der Themse gebracht hatte, bestiegen wir eines der unzähligen Dampfboote, die besonders an Festtagen den Fluß hinauffahren, um Richmond, dem reizenden, stromaufwärts an der Themse gelegenen Städtchen, dem Sommeraufenthalt der Geld- und Ahnen-Aristokratie zuzueilen. Kinkel hatte recht: die Themse ist der grünufrigste Fluß in Europa. Bäume von einer Schönheit und Fülle, wie man sie selten trifft, neigen ihre gewaltigen Äste bis zur Erde und oft bis ins Wasser hinab und bilden undurchdringliche Laubdächer, deren frisches Grün sich im Flusse spiegelt; Landhäuser, halb von hinüberrankendem Efeu versteckt, schauen freundlich von herrlichen Rasenplätzen herab, die den Fremden überraschen, der noch nicht weiß, daß der Rasen in England durch besondere Pflege eine frische und sammetartige Schönheit erhält, wie nirgends anderswo. Der ungewöhnlich helle, sonnige Tag, das fröhliche Leben der großen und kleinen Schiffe auf dem Strom, die Scharen festlich geputzter Menschen am Ufer, die liebenswürdige Unterhaltung meiner Freunde endlich, die mir mit begeisterten Worten das Land der Freiheit, das ihre neue Heimat geworden war, priesen, – alles das zog mich von meinen trüben Gedanken ab, und ich überließ mich den Eindrücken der neuen Welt, die sich um mich ausbreitete. Nach eingenommenem Mittagsmahl in Richmond bestiegen wir eine jener »hackney-coaches« (Art von Postwagen), wie sie früher in England üblich waren, ehe Eisenbahnen das Land in allen Richtungen durchzogen und die in den englischen Romanen oft eine Rolle spielen. Ich sah mit Vergnügen, daß meine Freunde sich unabhängig von englischen Vorurteilen erhielten, sobald es außerhalb der Verpflichtungen, die ihnen ihr Beruf auferlegte, möglich war, denn sie luden mich ein, mit ihnen die »Impériale« des Postwagens zu besteigen, um das schöne Land besser zu sehen. So fuhren wir fröhlich nach Hamptoncourt, einem königlichen Schlosse, einstens Residenz des Kardinals Woolsey. Man kommt dahin durch eine lange Kastanienallee, die in voller Blüte war und einen prächtigen Anblick bot. In dem großen Park zu beiden Seiten weideten friedlich Rudel von Rehen und Hirschen. Ich war ganz überrascht von der Pracht, mit der die Kunst hier die Natur unterstützt und eine Landschaft herstellt, die zugleich zivilisiert und wild ist und ihresgleichen in andern Ländern sucht. Wir besuchten das Schloß, seiner Bildergalerie und besonders den Kartons von Raffael zu Liebe. Hier sah ich zum erstenmal Originalwerke dieses Meisters, dessen Name schon in meine Kindheit herüber getönt hatte und der in meiner Vorstellung mit einer wahren Verklärung der Erscheinung umgeben war. Als wir am Abend heimkehrten, war der Zweck meiner Freunde erfüllt worden. Ich hatte für einen Tag mein tiefes Weh vergessen und mich beinah zu Hause gefühlt in dieser neuen Welt, in der die Freundschaft mir von vornherein ihren Trost entgegenbrachte. Freilich, als ich mich wieder allein fand in meinem häßlichen kleinen Schlafzimmer, da fiel die alte Zentnerlast mir wieder auf die Brust; aber eins war doch gewonnen: ich hatte beschlossen, in England zu bleiben, daselbst zu arbeiten wie die anderen, um mir eine Existenz zu gründen, und nicht noch weiter auf das Ungewisse hin nach Amerika zu gehen. Dies war das Resultat dieses Tages und der verständigen Vorstellung meiner Freunde, und die Gewißheit, gefunden zu haben, wie man handeln soll, gibt immer eine gewisse Ruhe im tiefsten Schmerz.


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