Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Drittes Kapitel

Unser Familienleben

Ich muß glauben, daß das Gefühl der Ehrfurcht mir eingeboren war, denn man hatte mich nie gezwungen, irgend eine Art von Kultus zu beobachten, und doch hatte ich einen solchen für meine Eltern und meine älteste Schwester. Sie war schon erwachsen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie erscheint mir in der Erinnerung wie eine der Madonnen der altdeutschen Maler, die die Typen der ausschließlich weiblichen Schönheit sind – jener Schönheit, die mehr im Ausdruck himmlischer Reinheit und Sanftmut besteht, als in der Regelmäßigkeit der Züge. Meine Verehrung für diese Schwester ging so weit, daß meine Mutter ein wenig eifersüchtig darauf wurde. Das war der erste Konflikt in meinem kindlichen Leben; er endete mit der Verheiratung meiner Schwester, die ihrem Gatten in seine Heimat folgte. Diese erste Trennung kostete mich viel Tränen.

Die Liebe zu meiner Mutter erwachte danach aber in ihrer ganzen Stärke. Ich erinnere mich noch des Entzückens, mit dem ich sie betrachtete, wenn sie, die noch immer schön war, sich zu einem Feste schmückte, besonders zu einem Ball bei Hof. Ich setzte mich dann an das Fenster einer dunkeln Stube, von wo aus ich die von Licht strahlenden Fenster des fürstlichen Schlosses sehen konnte. Da wartete ich, bis sie in die erleuchteten Prachtgemächer trat und an einem der Fenster die Vorhänge etwas auseinanderschob, damit ich hineinsehen könne. Ich sah die Damen in prächtigen Anzügen, die Herren in goldgestickten Uniformen zu beiden Seiten des Saales aufgestellt. Ich sah den Fürsten und seine Familie eintreten und an den Reihen der aufgestellten Personen entlanggehen, um einer jeden derselben ein paar Worte zu sagen. Man schien diesen Worten eine große Wichtigkeit beizulegen, weil es wie der Gipfel der Demütigung angesehen wurde, wenn eine Person übergangen und nicht angeredet worden war. Wie stolz war ich, wenn ich sah, daß man sich mit meiner Mutter länger unterhielt als mit andern! Ich glaubte fest, daß dies eine große Auszeichnung sein müsse. War denn ein Fürst nicht ein über die andern erhabenes Wesen? Warum war er denn sonst ein Fürst? Ich hatte ja in den Märchen der Tausend und Einen Nacht so viel von dem edeln, großmütigen Charakter Harun al Raschids gehört, war so durchdrungen von der ritterlichen Tugend des Kaisers Friedrich des Rotbarts, der im Kyffhäuser sitzt und auf den Augenblick wartet, um das herrliche deutsche Reich wieder herzustellen, daß ich nicht an der Erhabenheit der Fürsten zweifelte.

Mein Vater, der mit Geschäften überhäuft war, hatte nicht viel freie Zeit für seine Kinder; wenn er sich aber einmal mit uns abgeben konnte, so war es ein wahres Fest, denn es wäre unmöglich gewesen, eine redlichere, liebevollere, zärtlichere Natur zu finden, als die seine war.

Unsere Mutter war es, die sich damit beschäftigte, die künstlerischen Neigungen in uns zu wecken. Ihre Geistesrichtung gehörte jener geistigen Mitte der Zeit an, zu welcher die Humboldts, Rahel, Schleiermacher, die Schlegels und andere berühmte Zeitgenossen zählten. Diese Richtung, zugleich liberal, patriotisch und philosophisch, hatte auch eine eigentümliche Beimischung von dem Mystizismus, den die damals in höchster Blüte stehende romantische Schule hinzubrachte. Verbunden mit der unabhängigen Natur meiner Mutter, führte diese Richtung sie sehr häufig zur Opposition gegen die Konvention der Gesellschaft, an der die Stellung meines Vaters sie teilzunehmen zwang. Ganz besonders war dies der Fall bei der Wahl der Personen, aus denen sie ihren engeren Kreis bildete. Anstatt sie ausschließlich aus den Reihen der Aristokratie zu nehmen, wählte sie sie vielmehr nach den Eigenschaften des Geistes und Herzens, unbekümmert darum, welcher Schicht der Gesellschaft sie angehörten. Besonders gern zog sie die ausgezeichnetsten Mitglieder des Theaters herbei, deren Leistungen ihr Entzücken und Genuß gewährten, und die sie ihren übrigen Gästen vollkommen gleichstellte. Das war damals noch eine große Kühnheit, denn man sah die Theatermitglieder noch wie eine ausgeschlossene Kaste, eine Art Parias an, höchstens gut genug, den anderen Sterblichen die Langweile zu vertreiben, aber durchaus nicht berechtigt, sich ihresgleichen zu wähnen. Auch wurde meine Mutter sehr deshalb getadelt, und selbst mein Vater teilte ihre Ansicht in dieser Beziehung nicht ganz. Er kam selten zu den kleineren Vereinigungen bei ihr. Meine älteren Schwestern und Brüder aber, die selbst alle sich der einen oder anderen Kunst gewidmet hatten, nahmen daran teil, und ganz besonders waren es treffliche musikalische Aufführungen, die häufig im Hause vorkamen. Meine Kindheit verging in dieser geistigen und künstlerischen Mitte. In unserem Familienleben waren die Kinder nicht so von dem Leben der Erwachsenen ausgeschlossen, wie dies z. B. in England der Fall ist. Meine Mutter war der Ansicht, daß die Berührung mit ausgezeichneten Menschen nur einen guten Einfluß auf die geistige Entwicklung der Kinder haben könne und allmählich ihr Urteil und ihren Geschmack entwickeln müsse. Ich glaube, daß sie ganz recht hatte und daß diese Bemühungen, so weit sie möglich sind, eins der wichtigsten Elemente der Erziehung sein müßten. Die Griechen wußten es wohl, und die Lyzeen, wo ihre Philosophen und Weisen sich mit den Kindern unterhielten, trugen wahrscheinlich nicht wenig dazu bei, aus ihnen ein Volk zu machen, wie bis jetzt noch kein ähnliches dagewesen ist.

Wir erhielten keine sogenannte religiöse Erziehung. Ich erinnere mich nicht, wer mir zuerst von Gott sprach und mich ein kleines Gebet lehrte. Wir wurden niemals genötigt, unsere Frömmigkeit in Gegenwart der Diener oder fremder Personen zur Schau zu tragen, wie es in England geschieht. Ich für mein Teil befolgte, ohne es zu wissen, das Gebot Christi, das sagt, daß man allein sein muß, wenn man recht beten will. Jeden Abend, wenn ich in meinem Bett lag und keinen anderen Vertrauten hatte als mein Kopfkissen, wiederholte ich leise für mich mein kleines Gebet, mit der Andacht des wahren Glaubens. Niemand wußte etwas davon. Mein Gebet lautete: »Lieber Gott, ich bin klein, mach du mein Herz rein, daß niemand drin wohne wie der liebe Gott allein.«

Doch konnte ich es nicht verhindern, daß mein Herz noch andere geliebte Einwohner hatte. Ich erfand mir also selbst ein zweites Gebet, das ich jeden Abend im geheimen nach dem ersten betete, und in dem ich den Segen Gottes auf meine Eltern und Geschwister, auf meinen Lehrer und dessen Familie und schließlich auf alle guten Menschen herabrief. Wenn ich diese mir von mir selbst auferlegte Pflicht des Herzens erfüllt hatte, war mein Gewissen beruhigt und ich schlief den Schlaf des Gerechten.

Eines Morgens erwachte ich vor Tagesanbruch durch ein ungewohntes Geräusch im Schlafzimmer meiner Mutter, in dem auch meine jüngste Schwester und ich schliefen. Es war im Winter, das Feuer im Ofen wurde bereits angesteckt. Ich hörte meine Mutter weinen und die alte Tante, die an ihrem Bett stand, sagen: »Tröste dich, dein Kind ist jetzt bei Gott.« – Ich begriff, daß man von dem kleinen Bruder redete, der, erst einige Monate alt, seit mehreren Tagen krank gewesen war. Ich weinte auch still in mein Kopfkissen, ohne merken zu lassen, daß ich erwacht sei und die Worte gehört habe, die mir ein erhabenes Geheimnis zu enthalten schienen, das über meine Fassungskraft ging. Als die Zeit des Aufstehens für mich gekommen war, sagte man mir, mein kleiner Bruder sei gestorben. Ich hätte gern mehr über dies Geheimnis des Sterbens und der Vereinigung mit Gott gewußt, aber ich wagte nicht zu fragen, aus Furcht, die Betrübnis der andern zu vermehren.

Am Nachmittag kam eine kleine Freundin uns zu besuchen. Man führte sie in das Zimmer, wo der tote Bruder lag, aber mich und meine jüngere Schwester ließ man nicht eintreten. Das verwundete mich tief. Man hielt mich also für zu schwach, um den schmerzlichen Anblick zu ertragen, oder für unfähig, das Unglück zu begreifen! Ich sprach niemals davon, aber der Stachel war so tief in das Herz gedrungen, daß selbst jetzt noch, nach so viel größeren Täuschungen, ich seine Spitze fühle.


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