Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Erster Teil

Erstes Kapitel

Früheste Erinnerungen

Es würde schwer sein, inmitten einer größeren Stadt ein besser gelegenes Haus zu finden, als das war, in dem ich geboren wurde und die ersten Tage der Kindheit verlebte. Das Haus lag in der Stadt Cassel und gehörte zu einer Reihe von Häusern, die eine Straße begrenzten, der man mit Recht den Namen Bellevue gegeben hatte, denn an der gegenüberliegenden Seite waren keine Häuser, sondern man genoß der herrlichen Aussicht auf schöne Garten- und Parkanlagen, die terrassenförmig in eine fruchtbare Ebene, durch die einer der größeren Flüsse Deutschlands, die Fulda, hinzieht, hinabsteigen. Ich war die Vorjüngste von zehn Kindern, die alle gesund und geistig begabt waren. Meine Eltern waren noch jung, als ich auf die Welt kam. Sie lebten in jener glücklichen Mitte zwischen dem Überflüssigen und dem Notwendigen, in der sich die meisten Bedingungen für häusliches Glück finden. Ich habe aus den ersten Kindheitstagen wie einen lichten Schein unendlicher Heiterkeit zurückbehalten. Nur drei bestimmtere Erinnerungen lösen sich von diesem hellen Hintergrunde ab.

Die erste dieser Erinnerungen ist das Wohnzimmer meiner Mutter, mit gemalten Tapeten, die Landschaften mit Palmen, hohem Schilfrohr und Gebäuden von fremdartiger Architektur enthielten. Meine kindliche Phantasie hatte Freude an dieser phantastischen Welt. Dazu kam, daß ein Freund des Hauses mir Märchen dabei erzählte; z. B. daß eines dieser wunderbaren Häuschen die Wohnung eines Zauberers sei, der Blumenbach heiße und dem die ganze Natur gehorsam sei. Bei dem Häuschen stand ein großer Storch auf seinen langen, steifen Beinen, den Kopf mit dem langen Schnabel auf die Brust gesenkt. Das sei Blumenbachs Diener, sagte mein Freund; er stehe da immer und warte der Befehle seines Herrn.

Die zweite der Erinnerungen ist die an einen Abend, wo meine Wärterin mir erzählte, daß meine kleine Schwester, die vor nicht langer Zeit geboren war, wieder gestorben sei. Gegen das Verbot meiner Mutter ließ sie mich durch eine Glastür in ein Zimmer sehen, in dem ein schwarzer Kasten stand; in diesem Kasten lag meine kleine Schwester schlafend, weiß wie Schnee und mit Blumen bedeckt.

Die dritte Erinnerung endlich knüpft sich an die Person des alten Fürsten, der das Kurfürstentum Hessen, den kleinen deutschen Staat, der meine Heimat ist, beherrschte. Sein Wagen fuhr jeden Tag an unserem Hause vorüber; zwei Läufer in Livree liefen vor dem Wagen her. Im Wagen saß ein Greis, in einer Uniform mit dem Schnitt aus der Zeit Friedrichs des Großen, und einem dreieckigen Hut auf dem Kopf. Seine weißen Haare waren hinten in einen Zopf geflochten und eine schreckliche Geschwulst bedeckte ihm die eine Backe. Das war die Krankheit, an der er starb. Ich sah sein Begräbnis nicht, aber meine alte Wärterin wiederholte mir unzähligemal die Beschreibung desselben. Man bestattete ihn nicht in der Gruft seiner Ahnen in der großen Kirche. Zufolge seines Wunsches setzte man ihn in der Kapelle eines Lustschlosses (auf der Wilhelmshöhe) bei, das er hatte bauen lassen und das sein Lieblingsaufenthalt gewesen war. Das Leichenbegängnis ging die Nacht vor sich, beim Scheine der Fackeln, nach alter Sitte. Ein Ritter in schwarzer Rüstung, auf einem schwarzen Pferd, mußte dicht hinter dem Trauerwagen herreiten. Dieser Ritter wurde immer aus der hohen Aristokratie gewählt, aber er mußte stets, wie die Sage erzählte, diese Ehre mit dem Leben büßen. Auch in diesem Fall wurde der Volksglaube nicht getäuscht. Der diesmalige Schauspieler in dem nächtlichen Drama, ein junger Edelmann voll Kraft und Gesundheit, wurde drei Wochen nach dem Begräbnis von einem Fieber hinweggerafft. War dieses Fieber einfach die Folge einer Erkältung in der kalten Eisenrüstung während des langen nächtlichen Zuges? Das Volk dachte nicht an eine solche Möglichkeit, und meine kindliche Einbildungskraft stimmte dem Volksglauben bei. Auch ergriff mich jedesmal ein geheimer Schauer, wenn ich mit meinen Eltern das Lustschloß besuchte und in der Rüstkammer auf einem schwarzen hölzernen Pferd die schwarze Rüstung sitzen sah, die der unglückliche Cavalier in jener Nacht getragen hatte.


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