Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Fünfzehntes Kapitel

Rückkehr

Unser Rückweg führte uns durch die Dauphiné, Savoyen und die Schweiz. Gerade acht Tage nach dem schönen Tag, den ich in der rosenbekränzten Villa der liebenswürdigen Französin verbracht hatte, befanden wir uns inmitten der Alpen der Dauphiné, und der Wagen fuhr langsam eine Serpentine hinauf, die über beträchtliche Höhen führt. Die Knaben, der Erzieher und ich wanderten zu Fuß, um es den Pferden zu erleichtern. Rings um uns stiegen hohe, schneebedeckte Alpenspitzen auf; die Straße war zu beiden Seiten mit Eisstücken eingefaßt. Hier und da zeigte sich eine arme Hütte mit einigen kahlen Bäumen, die noch nicht einmal eine Knospe hatten. Eine schneidende, eiskalte Luft zwang uns, uns in Mäntel einzuhüllen und rasch zu gehen. Die Knaben liefen und sprangen über Felsblöcke und Eisklumpen; der Erzieher hielt sich fern; denn er war mir schon lange böse, weil ich in Kreisen verkehrt hatte, in die er, seiner Unkenntnis der französischen Sprache wegen, nicht kommen konnte. Ich ging also allein, in Betrachtungen und Erinnerungen verloren. Ich dachte mit Sehnsucht an alles, was ich jüngst verlassen. Ich verglich die poesieerfüllten Stunden von acht Tagen zuvor mit dieser Wanderung durch die eisigen Einöden der erstarrten Natur. Ich sah hinauf zu den weißen Spitzen, die in den Strahlen einer kalten Sonne erglänzten, und es schien mir, als sähe ich mit diamantner Schrift mein Schicksal auf dem Eis verzeichnet. »Die Stunden der Jugend, der Schönheit und Poesie sind denen, die für das Ideal leben, nur gegeben, um ihren Mut aufrecht zu erhalten und ihr Herz zu erfrischen. Aber zum größten Teil ist ihr Leben ein Kampf ohne Aufhören, ein Weg, der durch einsame, unfruchtbare Wüsten führt, wie die Straße, die du wandelst. Willst du die Aufgabe annehmen und nicht zurückschrecken vor den Opfern, die sie dir auferlegt? Willst du bereit sein, dein Herz, das den ewig brennenden Durst nach Schönheit hat, unaufhörlich kreuzigen zu sehen?«

In dem Augenblick, als ich diese Schrift in klaren Zügen zu lesen meinte, kamen die Knaben angesprungen und brachten mir einen Strauß Veilchen, den sie neben dem Eis, auf spärlichem Grün, gepflückt hatten. Dann sprangen sie davon, um anderes zu suchen. Der Anblick dieser Blumen, die meine Gedanken so gut symbolisierten, rührte mich tief, und unwillkürlich kniete ich auf den Steinen nieder und rief: »Ja, ich nehme die Aufgabe an; ohne zu wanken will ich den einsamen Pfad gehen, den die verfolgen, die die Wahrheit suchen, und ich will dankbar sein für die wenigen Blumen, die ich auf dem Wege finde.«

Wir blieben ein paar Tage in Grenoble. Die Knaben, der Erzieher und ich hatten den Wunsch, das große Karthäuserkloster zu sehen. Meine Schwägerin konnte, da es eine ermüdende Unternehmung war, nicht mit. Wir zogen also ohne sie aus. In einem kleinen Dorf, einige Stunden von Grenoble, nahmen wir Maultiere und einen Führer und begaben uns auf den Weg bergauf. Der Weg steigt zuerst zwischen steilen Bergwänden, die mit Grün bedeckt sind, empor; in der Tiefe rauscht ein tosender Bergstrom und die Wipfel riesiger Berge ragen aus ihr herauf. Nach und nach aber wird das Grün spärlicher, die Felsen drohender, der Abgrund schauerlicher und die Straße mühseliger und gefährlicher. Endlich kommt man an einen Punkt, wo alle Vegetation aufhört und wo wirklich Tod und Erstarrung herrschen. Ein riesiges Felsentor, Todestor benannt, führt in diese schauerliche Einöde hinein; so ungefähr mußte Dante sich sein Höllentor vorstellen, an dem jede Hoffnung zurückblieb. Einige Zeit nachher erscheint jedoch grünendes Leben wieder, und plötzlich findet man sich ganz erstaunt auf einem Bergplateau, in einer Höhe von 8000 Fuß über dem Meer, das ein Paradies nach der Hölle scheint. Es ist eine von noch höheren Zacken eingeschlossene Ebene, bedeckt mit dem köstlichsten Grün, mit prächtigem Laubholz und vielfarbigen Blumen. Inmitten dieser schönen Berg-Oasis erhebt sich nun das große Karthäuserkloster, das erste, vom heiligen Bruno selbst gebaute Kloster dieses Ordens. Es sieht von außen fast aus wie eine Festung mit seinen mächtigen Mauern und Türmen. Ein kleines hölzernes Haus, außerhalb der Ringmauern des Klosters mit einem großen Eßsaal unten und einer Menge kleiner Zellen darüber, ist zu der Aufnahme von Frauen und Kindern bestimmt, da solche das Kloster selbst nicht betreten dürfen. Männer werden im Kloster aufgenommen und übernachten daselbst. Nachdem ein Laienbruder uns in dem Eßzimmer ein gutes Abendessen serviert hatte, begab sich der Erzieher in das Kloster, um die Nacht daselbst zu verbringen. Ich beneidete ihn sehr um dieses Vorrecht; ich hätte so gern das Innere dieses Klosters gesehen, wo seit den Zeiten des heiligen Bruno die Jahrhunderte sich versteinert haben. Die Knaben und ich nahmen ein jeder von einer Zelle Besitz, die alle mit einem sehr reinlichen Bett, mit Waschtisch, Stuhl, Betpult, Kruzifix und Weihwasserkessel versehen waren. Ich blieb bis spät in die Nacht an meinem Fenster; hinaus konnte ich nicht mehr, da man das Haus von außen verschlossen hatte. Zunächst sah ich den Laienbrüdern zu, die in einer großen Kastanienallee Ball spielten, dann folgten sie dem Ruf der Klosterglocke, und nun trat ringsum eine großartige Stille, ein erhabenes Schweigen ein. Der Mond erhellte die Einsamkeit der Berge und die ansehnlichen Gebäude des Klosters. Nach und nach versanken die flüchtigen Erscheinungen der Welt, die Phantasmagorien der Einbildungskraft, die ungestümen Wünsche wie in einen fernen Traum. Das Dasein schien nur noch in der reinen Idee, in der Abstraktion der Dinge zu bestehen, und schwamm, wie ein elementares Fluidum, auf den silbernen Strahlen des nächtlichen Gestirns. Lange, lange schaute ich hinaus und hatte das Gefühl meiner Individualität verloren. Da schallte plötzlich ein Glockenton durch das elementare Leben der Nacht und zitterte in den Mondeswellen wie ein Schöpfungsgebet, das das Universelle wieder zu individuellen Formen rief. Es war Mitternacht. Die Kirchenglocke lud die Mönche zu der Messe ein, die jede Nacht um die zwölfte Stunde gefeiert wird, und in der die Brüder für das Seelenheil derer beten, die sie unten in der Welt des Elends und der Sünde zurückgelassen haben. Gewiß war es ein großes Gefühl, das diese Regel eingab – das Mitleid, das welterlösende Erbarmen mit denen, die moralisch noch mehr leiden, als physisch; die Stärke der Liebe, die alles retten möchte, was sich in Finsternis und Verbrechen bewegt. Vielleicht waren unter diesen armen Mönchen einfache Herzen, die noch mit vollem Glauben beteten; aber ach! in der Welt, wie sie nun einmal ist, ist es nicht genug, zu fühlen und zu lieben, man muß vor allem denken und handeln, und jede Kraft, die für die große Arbeit des Lebens verloren ist, wird eine Sünde gegen das Gesetz des Fortschritts.

Am Morgen früh, vor fünf Uhr, hörte ich die Stimme des Laienbruders, der vor meiner Tür stand und mir zurief, es sei ein wahres Unwetter und unmöglich, fortzugehen. Ich stand auf und sah wirklich, daß es schrecklich war. Die ganze schöne Oasis, so grün, frisch und blühend am Abend, war mit einem dichten, grauen Schleier bedeckt; dunkle Wolken hingen in sonderbaren Fetzen beinahe bis auf die Erde und verdeckten die umgebenden Berge ganz. Der Regen, mit Schneeflocken vermischt, strömte zur Erde. Der Führer versicherte, der Weg sei bei solchem Wetter gefährlich. Ich war verantwortlich für das Leben der Knaben, und doch wußte ich auf der anderen Seite, daß meine Schwägerin in großer Herzensangst sein würde, wenn wir nicht zurückkehrten, da in Grenoble das Wetter vielleicht sehr schön war. Der Erzieher kam aus dem Kloster und war auch der Meinung, daß wir warten müßten. Inzwischen erzählte er uns, was er im Kloster gesehen und gehört hatte, unter anderem von einem Mönch deutscher Abkunft, der da oben seit fünfzig Jahren weilte, ohne je in die Welt zurückgekehrt zu sein, und seine Muttersprache beinahe vergessen hatte. Doch hauptsächlich war er ergriffen von der Mitternachtsmesse, die allerdings einen mächtigen Eindruck auf die Phantasie machen mußte.

Nach einigen Stunden ließ der Regen nach, und ich beschloß sogleich zu gehen. Ich befahl dem Führer, bei den Kindern zu bleiben und sie nicht einen Augenblick zu verlassen. Ich selbst verließ mich auf den Instinkt meines Maultiers, den ich auch Gelegenheit hatte zu bewundern. Die Steine waren vom Regen so schlüpfrig geworden, daß man Mühe hatte, einen Schritt zu machen; aber das vorsichtige Tier prüfte immer zuerst mit dem Fuß, ob die zu betretende Stelle sicher sei, und die Freude, die ich an seiner Klugheit empfand, ließ mich die Gefahr vergessen. Denn Gefahr war da; neben uns heulte es im Abgrund, und die Straße dreht sich zuweilen so schroff um Felsenecken, so hart an der schauerlichen Tiefe hin, daß es nur eines einzigen falschen Schritts bedarf, um unrettbar verloren zu sein. Endlich kamen wir doch ohne Unfall unten im Dorf an, wo wir aber einige Stunden verweilen mußten, um unsere Kleider zu trocknen, denn wir waren bis auf die Haut durchnäßt. Dann kehrten wir nach Grenoble zurück, wo wir mit Angst erwartet wurden.

Einige Tage nachher passierten wir die französische Grenze, und ich empfand ein wahres Herzweh, als ich zum letztenmal Französisch um mich sprechen hörte. Ich hatte das Französische in der provenzalischen Mundart lieb gewonnen. Die sanften musikalischen LauteIch nehme hiervon das moderne Pariser Französisch aus. der romanischen Sprachen passen zu der südlichen Natur, und wen diese mit ihren Reizen bestrickt hat, der liebt jene Sprachen, wie man das Wort liebt, das aus dem Munde eines geliebten Wesens kommt.

Mein Vaterland erschien mir nicht mehr so schön wie früher; die Erde war ohne Blumen, die Landschaft ohne Farben, der Himmel trüb. Aber ich gedachte des Gelübdes, das ich in den Alpen der Dauphiné dem Weltgeist geleistet, und ich war entschlossen, mit festem Schritt vorwärts zu gehen.

Endlich kam ich heim in das elterliche Haus, denn auch mein Vater war zu längerem Besuch eingetroffen. Der Familienkreis war groß, und ich wurde mit solcher Freude und Liebe empfangen, daß mein Herz warm wurde. Dennoch fühlte ich, daß ich ein wenig fremd geworden war und daß sich ein noch unbestimmter, aber mit Sicherheit empfundener Bruch im Grunde meines Wesens vorbereitete. Ich sah deutlich, daß dem Leben, das ich vor mir hatte, ein großes leitendes Prinzip, ein allgemeines Ziel, das alles beherrscht, fehlte. Das gerade war aber für mich die Hauptsache geworden, der Durst meiner Seele, die Flamme, die alle kleinen Rücksichten verzehrte, und die, das fühlte ich, mich selbst verzehren würde, könnte sie sich nicht verwirklichen. Ich liebte meinen Vater mit einer Liebe, die selbst jetzt, so lange Zeit nach seinem Tode, nichts von ihrer Stärke verloren hat. Ich sah mit Schmerz, wie die Einsamkeit, zu der ihn die Liebe für die Seinen verdammte, da er noch in der Nähe des immer wandernden Fürsten bleiben mußte, ihn drückte, und wie schmerzlich sie ihm war. Eines Tages, als ich mit ihm allein war, sprach er davon und rief voll Bitterkeit: »Ich bin so allein, so allein!« – Ich warf mich in seine Arme und sagte ihm: »Nimm mich mit dir, wenn du wieder gehst; laß mich immer bei dir bleiben, ich widme dir mein Leben, du wirst nicht mehr allein sein.«

Er umarmte mich, aber er antwortete nicht und nahm meine Hingebung nicht an. Wenn er sie angenommen hätte, so wäre der ganze Lauf meines Lebens ein anderer geworden. Für ihn zu leben wäre dann das Ziel gewesen, auf das ich alle meine Bestrebungen konzentriert hätte. Ich hätte darin die Befriedigung gefunden, die das Bewußtsein einer großen Anstrengung, einer ganz erfüllten Pflicht gibt. Danach hatte ich niemals mehr Gelegenheit, ihm die ganze Tiefe meiner Liebe zu zeigen, und mein Leben nahm eine solche Richtung, daß die Kindesliebe darin nicht mehr das höchste Ziel, nicht der Kompaß sein konnte, nach dem es steuerte.

Ich wendete mich mit neuem Entzücken zur Malerei und führte mehrere Bilder nach den Skizzen, die ich aus dem Süden mitgebracht hatte, aus. Aber in die reine Freude an dieser Beschäftigung trat wieder ein schwarzer Schatten, und ein eherner Schicksalsspruch wurde mir endlich ganz klar: ich mußte der liebsten Beschäftigung entsagen wegen der Schwäche meiner Augen. Sie waren von Kindheit auf schwach gewesen, und ich hatte sie immer zu sehr angestrengt. Der Arzt erklärte mir, daß ich das Malen aufgeben müsse, um meine Augen zu retten. Ich fühlte, daß dies schwere Urteil richtig sei, aber es erfüllte mich mit Verzweiflung. Es lag in meiner Natur, meine schwersten Kämpfe in mich zu verschließen, und niemand ahnte, was die Unterwerfung unter dieses Urteil mich kostete. Ich murrte in meinem Herzen gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals, das das Streben nach dem Ideal in das Herz des Menschen legt, ihm das Talent gibt, um es auszusprechen, und ihm dann die nötigen physischen Kräfte versagt. Nach und nach jedoch brach sich eine Ansicht in mir Bahn, die mich über den Schmerz erheben sollte. Ich sah ein gewaltigeres Mittel vor mir, dem Ziele meines Lebens zuzueilen, als Religion und Kunst es gewesen waren, nämlich die Teilnahme, durch den Gedanken und die Tat, am Fortschritt der Menschheit. Sobald dieser Gedanke sich in mir zu befestigen begann, milderte sich mein Leiden, die Malerei aufgeben zu müssen. Ich verließ die Spezialität, um in den Bereich der Fragen auf der ganzen Leiter des menschlichen Daseins einzutreten. Aber wie immer, verlangte ich auch hier, sogleich von der Theorie zu den Konsequenzen derselben überzugehen. Die Religion, aus ihrer metaphysischen Region herniedergestiegen, mußte sich in die Ausübung des Mitleids verwandeln und die Gleichheit der Brüderlichkeit unter den Menschen einführen. Die Armen zu besuchen, ihnen zu helfen, sie zu trösten, wurde mir nun zur Notwendigkeit. Man sprach mir von einem armen Knaben, der unsägliche Leiden erduldete, da er den Knochenfraß an einem Bein hatte, und dessen sehnlichster Wunsch es war, vor dem gewissen Tod, dem er entgegenging, noch konfirmiert zu werden. Er bedurfte dazu einiger Vorbereitungsstunden, aber keiner der Prediger in der Stadt hatte diese übernehmen wollen, wahrscheinlich aus Furcht vor der verpesteten Luft, die das Krankenlager umgab. Ich entschied mich sogleich, hinzugehen und mein Bestes zu tun, um das arme Geschöpf zu trösten.

In einem ganz kleinen Zimmer fand ich, auf einem sehr reinlichen Lager, einen armen Knaben, dessen Gesicht Totenblässe deckte. Der Anblick seines Beines war furchtbar, und es bedurfte all meines Mutes, um ihn zu ertragen. Aber wenn man dies arme Kind ansah, das mit rührender Geduld litt, und dessen große schwarze Augen das hinfällige Dasein zu beherrschen schienen, um den Tod aufzuhalten, bis es die Worte des Heils vernommen, dann überwand man den natürlichen Widerwillen, um diese junge Seele zu erquicken. Ich ging nun regelmäßig hin, ihm aus der Bibel vorzulesen und Betrachtungen daran zu knüpfen, die seinem Alter und seiner Fassungskraft gemäß, aber nichts weniger als orthodox waren. Ich stellte ihm seine Leiden nicht dar als gesandt für sein Heil; ich sagte ihm nicht, daß er durch den Kreuzestod eines Vermittlers losgekauft sei von Sünden, von denen sein unschuldiges Herz nichts wußte; aber ich bestrebte mich, ihm die Kraft und Majestät des Geistes klar zu machen, der im Anblick der ewigen Wahrheit auch die schrecklichsten Leiden vergessen kann. Selbst fortgerissen von meiner Aufgabe, versuchte ich ihn zu einem Zustand der Begeisterung zu erheben, die ihm seinen schrecklichen Tod erleichtern könnte. Ich sehe noch jetzt in der Erinnerung das Angesicht des armen Kindes, wenn ein verklärtes Lächeln seine bleichen Lippen umspielte und seine großen dunklen Augen von einem überirdischen Strahl erglänzten. Ich hätte mich selbst verachtet, hätte ich meine Aufgabe nicht bis zum letzten Augenblick fortgesetzt, und als ich eines Morgens die Nachricht empfing, daß er in der Nacht friedlich entschlummert sei, da fühlte ich, obgleich ich mich für ihn freute, eine Lücke in meinem Leben, denn es schien mir, als ob nun erst, an seinem Schmerzenslager, die wahre Verwirklichung des Ideals für mich begonnen habe.

Es war sonderbar, daß in diesem Fall, so wie früher, als ich die christliche Askese und nachher den ausschließlichen Kultus der Kunst verwirklichen wollte, ich einer stummen Opposition, einer Art Erstaunen von seiten der Meinen begegnete. Sie waren so aufrichtig gut, fromm, mildtätig, für Kunst begeistert, und begriffen doch nicht, warum man gerade »so weit« gehen müsse. Sie sprachen mir nicht davon, aber ich fühlte es. Ich schwieg und fuhr fort, die Armen und Unglücklichen zu besuchen, weil eine Stimme, die stärker war als alle menschlichen Rücksichten, es mir gebot.

Unter den Freundinnen, die ich wiedergefunden hatte, war die »Kleine« wieder die erste und liebste. Ihre Mutter, die älteste Schwester und der Bruder waren verreist, aber sie wurden bald zurückerwartet, und mit ihnen eine Tante, eine viel jüngere Schwester der Mutter, die man die geistreiche Tante nannte, und von deren Einfluß auf den Bruder mir die Kleine viel erzählte. Ich hatte seit meiner Abreise nach dem Süden nicht viel von meinem Apostel gehört, nur die Kleine hatte ihn manches Mal in ihren Briefen erwähnt, und auch meine Mutter hatte öfter von ihm geschrieben. Ich hatte oft an ihn gedacht und freute mich, ihn wiederzusehn. Aber der Gedanke an diese so schöne und ausgezeichnete Tante erfüllte mich mit einiger Unruhe. Sie kamen endlich an, und die Kleine kam alsbald mit der Tante zu uns. Wir fanden sie sehr schön, elegant, geistvoll, fast gelehrt, aber es fehlte ihr an Unmittelbarkeit, und sie war uns allen nicht sympathisch. Meine Mutter bat sie jedoch, sowie die drei Geschwister, einen Abend bei uns zuzubringen. Es war das erstemal, daß ich meinen Apostel wiedersah. Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Wir sahen uns an; es war ein Blick gegenseitigen Erkennens, der Gruß einer Seele an die andere, ein tiefes Verstehen, als ob wir uns seit Ewigkeiten gekannt hätten. Alle Furcht vor der geistreichen Tante war verschwunden; ich fühlte, daß sie nur seiner Intelligenz etwas war, aber nicht seinem Herzen. Im Laufe des Abends fragte er mich, ob ich gedichtet habe im Süden, und als ich es bejahte, bat er, ihm die Gedichte zu zeigen. Ich willigte ein unter der Bedingung, mir eine strenge Kritik derselben zu geben, was er auch versprach. Es schien uns nur natürlich, beinah den ganzen Abend ausschließlich miteinander zu sprechen, gleichsam wie um uns zu entschädigen für die verlorene Zeit. Dann wurden bestimmte Abende zur Zusammenkunft bei uns verabredet, wo er unserem kleinen Kreis den zweiten Teil des Faust vorlesen wollte, und somit war ein öfteres Wiedersehen vorerst gesichert.

Einige Tage darauf schickte ich ihm eine Auswahl der Gedichte, die ich in Hyères geschrieben hatte. Niemand hinderte mich daran. Niemals hatte meine Mutter mir ausdrücklich Sachen der Art verboten. Ich zeigte ihr nichts von der Sendung, nicht aus Mangel an Vertrauen, sondern weil ich schon fühlte, daß eine ganze Seite meines Daseins keine Sympathie bei den Meinigen finden würde und daß von daher mir kein Rat kommen könne.

Wenige Tage darauf erhielt ich ein begeistertes Gedicht von ihm, das unsere erste Bekanntschaft, unsere Trennung, seinen Abschiedsgruß und meine Antwort als jene ahnungsvollen Momente zusammenstellte, denen die höchste Blüte des Lebens in himmlischer Anmut entsteigen müsse. Dabei befand sich die Kritik eines jeden meiner Gedichte; seine geistvolle Urteile, die mich beglückten und belehrten. Ich fühlte mich unsäglich glücklich. Die Sonne jener Liebe, die dem ganzen Leben ihren Stempel aufdrückt, stieg an meinem Horizont empor. Dennoch wollte ich das Gefühl, das mächtig aufwuchs, um keinen Preis anders nennen als Freundschaft. Ich war entschieden, es auf den Verkehr zweier verwandter Seelen zu begrenzen, denn ein schweres Bedenken drängte sich mir auf. Er trat in das Leben ein ohne andere Stütze als seinen Genius. Ich glaubte ihn zu großen Dingen bestimmt, und ich hätte ihn um alles in der Welt nicht so früh gebunden wissen wollen durch Fesseln, die vielleicht seine Zukunft hätten hindern können. Ich fühlte in mir die große einzige Liebe nah am Aufblühn, ich sah voraus, daß eine Flamme ausbrechen würde, die mein Leben verzehren könnte, und ich wollte seine Jugend nicht mit einer solchen Verantwortung belasten. Ich war einige Jahre älter als er, und es schien mir, als dürfe ich nicht auf die Treue eines so jungen Herzens Anspruch machen. Ich bemühte mich also, unsere Beziehungen bei dem Austausch allgemeiner Ideen zu erhalten. Es verging jetzt fast kein Tag, an dem wir nicht Briefe wechselten, mit Gedichten oder Fragen und Antworten auf allen Lebensgebieten. Er bekannte frei das Gefühl, das ihn beseelte, und verlangte dasselbe Bekenntnis von mir. Wenn ich ihm antwortete, daß ich älter sei als er, so lächelte er, denn ich sah wirklich noch aus wie ein Kind, oder er war verletzt und warf mir bitter meine Kälte vor. Er erriet nicht, daß ich, um einer schon ganz mächtigen Liebe willen, noch gegen diese Liebe selbst ankämpfte.

Der schwere Kampf aber erschütterte meine Gesundheit, und ich wurde bedenklich krank. Es war gerade an meinem Geburtstage, daß man für mein Leben fürchtete. Drei Wochen schwebte ich zwischen Leben und Tod. Dennoch umfing mich auch in den größten Schmerzen ein dämmerndes Gefühl unendlichen Glücks, und ich hörte beständig Beethovensche Symphonien in mir tönen. Endlich war ich außer Gefahr, aber noch so schwach, daß man kaum mit mir sprechen durfte. Doch erfuhr ich, daß mein Freund täglich dagewesen war, um nach mir zu fragen, und meine Mutter gab mir selbst einen Brief von ihm. Es war ein Gedicht, in dem er die Genesung, diese Tochter des Himmels, anflehte, herabzusteigen und mich zu befreien von der Qual der Schmerzen. Es war schön und edel, wie das Gefühl, das uns vereinte. Ich konnte nach und nach, einzeln, meine Freunde wiedersehn. Seine Reihe kam auch. Er trat ein, und ich reichte ihm die Hand entgegen. Er gestand mir nachher, daß er in dem Augenblick gefühlt habe, wie alle Bedenken meinerseits gewichen seien, und daß wir nun, selig vereint, auf der heiligen Flut der Liebe dahinziehen würden zu den Gestaden des Geistes und der Schönheit. So war es auch: Liebe und Poesie kehrten mit der Gesundheit zurück. Ich war noch auf meinem Lager der Genesung, als der erste Schnee fiel. Die rauhe Gestalt des nordischen Winters betrübte mich tief. Ich gedachte mit Sehnsucht des Südens, wo der Arme, mit seiner Sonne, mit seinem freigebigen Boden, auch in Lumpen noch den edlen, menschlichen Typus bewahrt, während Hunger und Kälte im Norden den Menschen zur Jammergestalt entstellen. Ich wendete mich mehr und mehr den sozialen Fragen zu, an die ich zunächst herangetreten war, um das Ideal christlichen Erbarmens zu verwirklichen. Mit Theodor diskutierte ich sie. Nach den ersten Besuchen, die er mir während meiner Genesung machte, kam er plötzlich selten. Ich empfand seine Abwesenheit mit tiefem Schmerz, und hätte ich nicht täglich einige Zeilen von ihm erhalten, ich hätte es kaum ertragen. Endlich erfuhr ich als schönste Überraschung, was ihn ferngehalten hatte. Er hatte sein erstes Buch vollendet, in dem er sich öffentlich vom orthodoxen Christentum lossagte und Christus als Menschen, Reformator und Revolutionär darstellte, der nichts anderes hatte einführen wollen, als ein gereinigtes Judentum und eine edlere Moral. Nachdem Theodor sein Examen als Kandidat der Theologie längst glänzend bestanden hatte, brach er plötzlich durch diesen kühnen Schritt mit einer doppelten Tradition, mit der der Kirche und der seiner teuersten persönlichen Beziehungen. Für seine Eltern war es eine harte Probe; sein Vater war der erste Geistliche im Lande, seine Mutter hatte gehofft, in diesem geliebtesten Sohn den Ruhm ihres Vaters wieder aufleben und einen neuen Verfechter des Protestantismus erstehen zu sehen. Dennoch, trotz ihrer Enttäuschung, konnte sie nicht umhin, die schöne Schrift ihres Sohnes zu bewundern und ein schmerzliches Glück beim Lesen derselben zu fühlen. Ich war ganz versenkt in dieses Buch. Nicht nur, daß ich den Geist und die Poesie des geliebten Autors bewunderte, sondern, indem ich las, fiel auch ein Schleier nach dem andern von meinen Augen. Ich erkannte, daß alle meine schmerzlichen religiösen Kämpfe nur die legitime Empörung des freien Gedankens gegen die versteinerte Orthodoxie gewesen waren, und daß das, was ich für schuldig gehalten hatte, die Ausübung eines ewigen Rechts gewesen war. Ohne zu zögern, folgte ich meinem Freunde in die scharfe, gesunde Luft der Kritik. Er hatte seine Besuche wieder aufgenommen, und unsere Gespräche drehten sich fast ausschließlich um diese Gegenstände. Es kostete mich nichts, der Idee von Christus als Vermittler zwischen Gott und Menschen zu entsagen, denn ich hatte nie die Notwendigkeit dieser Vermittlung begriffen. Ebenso wurde es mir leicht, Gott aus der engen Grenze der Individualität, in die ihn das christliche Dogma einfaßt, zu befreien: in der Tat war dies längst in meinen Gedanken geschehen. Schwer wurde es mir nur, dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit zu entsagen. Ich hatte diese herrliche Phase des persönlichen Egoismus, diese poetische Anmaßung des Ichs, das sich ewig bejahen möchte, diesen Traum der Liebe, die kein Ende kennen will, sehr geliebt. Während unsere Diskussionen über diesen Punkt noch dauerten, schrieb er mir einmal: »Sie sträuben sich noch ein wenig dagegen, daß alles Vergängliche vergänglich sei. Wenn ich in meinem Herzen den Glauben an seine eigene Unsterblichkeit fände, so würde die Vernunft mich nicht daran irre machen. Es sind nicht die kleinen und schlechten Geister, sondern die guten und großen, die an ihre eigene Unsterblichkeit geglaubt haben. Aber ich habe diesen Glauben nicht. Wenn ich von Unsterblichkeit sprechen wollte, dann müßte jede Rose, jeder Frühlingskranz, der Gesang der Nachtigall und alles, was je mein Herz entzückt hat, mit mir kommen, und ich weiß doch, daß die Rose welkt, daß die Kränze zerfallen, die Augen erlöschen, die Haare bleichen und das Herz selbst, mit seiner Liebe, in Staub zerfällt. Unsterblichkeit ist nur in der Poesie. Der Geist ist nur Geist, weil er frei ist von jeder Form, von jeder Individualität. Mein Geist ist nicht mein Geist, sein eigentliches Wesen ist der universelle Geist. Er ist das Leben, das sich unter der einen oder anderen Form fortsetzt und sie verläßt, wie der Duft die abgefallene Blüte verläßt. Das Dogma folgerte daraus ganz logisch, daß der Körper, »das Fleisch«, auch auferstehen müsse, denn es gibt keine Individualität ohne das Fleisch. Aber diese Folgerung war nur möglich für ein Dogma, das Wunder, die den Naturgesetzen zuwider sind, für möglich hielt und ein letztes Gericht nötig hatte beim Schalle der Posaunen und dem Zusammensturz der Elemente. Dieses Dogma ist so einig in sich, daß Sie es ganz zerstören, wenn Sie ihm nur den kleinsten Teil nehmen, so wie das Samenkorn sich zerstört, wenn der Keim treibt. Man ist im Frühling angekommen und trägt noch aus Gewohnheit einen Winterhut. Es gibt keine Wunder in der Natur, denn die Natur ist natürlich: es gibt kein Wunder im Geist, denn der Geist ist geistig. Es gibt nur ein Wunder: das ist der Geist in der Natur, im Universum. Es ist das Wunder des Daseins, aber er macht keine Wunder, er offenbart immer das eine. Die Materie ist unbewußterweise unsterblich; die Blume, die aus den Atomen eines Dichterhauptes entspringt und ihre Wurzeln daraus nährt, hat keinen Geist. Diese Unsterblichkeit teilt der Mensch mit der Blume, die ihre Atome auch wieder andern Blumen oder andern Formen gibt. Die andere Unsterblichkeit ist frei, ist nicht notwendig, ebenso wie der Geist sich nicht notwendig in jedem Menschen entwickelt. Der Geist also, der unsterblich sein will, muß sich unsterblich machen. Die leibliche Persönlichkeit des Menschen ist unsterblich in seinen Kindern. Seine geistige Unsterblichkeit existiert nur in den Kindern seines Geistes, die auch nicht er selbst sind, aber von ihm erzeugt und ihm ähnlich. Diese Kinder sind seine Gedanken, die übergehn und sich fortsetzen in anderen Menschen, oder die Bilder der Erinnerung, die unsterblich in den liebenden und geliebten Herzen leben. Und glauben Sie, daß, wenn eine teure Hand mir einst die Augen schließt, oder wenn ich in der letzten Stunde allein an die denken kann, die ich liebte oder die mich liebten, glauben Sie, daß ich, in Gegenwart all der Liebe, die ich gekannt habe, noch etwas für mich wünschen würde?«

Der Bund unserer Herzen wurde doppelt fest und heilig während dieser Verständigungen über die höchsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens, und ich verweigerte auch von meiner Seite nicht länger das Bekenntnis der tiefsten, heiligsten Liebe. Wir sahen uns fast nie ohne Zeugen, und nur Blicke und flüchtige Worte konnten von einem Herzen zum andern sprechen. Aber der Briefwechsel dauerte ohne Unterbrechung fort, und jeder Zweifel, jeder Schmerz wie jede Freude, jeder neue Gedanke, jeder poetische Erguß wurde dem geliebten Du anvertraut, dessen Antwort fast immer das Echo des eigenen Herzens war. Wir erhielten so sehr immer alles eins vom andern, daß wir kaum mehr wußten, wem der oder jener Gedanke zuerst angehört hatte. Er schrieb mir einmal:

»Möge es so sein, wie Du sagst; möge alles, was der Geist will, sich in mir erfüllen; daß keine Blume, die mich erfreut, kein Glück, das mich entzückt, je mich trenne vom Dienste der Menschheit, der das Ziel, der Magnet geworden ist, der mich anzieht und fortführt – ich weiß nicht wohin; ich fühle nur, daß es eine Strömung ist, die zum Ideal leitet. Welche sanfte Freude, Dir das sagen zu können, es dem Herzen sagen zu können, das mich versteht, dem Herzen, dessen Reinheit die Flamme geworden ist, die meinen Geist erwärmt und mein Herz reinigt und veredelt! Nur Dir kann ich das alles anvertrauen, denn es gehört Dir alles so sehr, daß ich nicht mehr weiß, ob etwas von dem allem mein ist. Die sanften Worte, mit denen Du mich so oft wie in einen ewigen Frühling hinaufgetragen hast, das Vertrauen, das Du mir in das Herz pflanztest, die große, freie Liebe, die Du mir geschenkt hast – alles das ist mein eigen geworden, und ich lasse es selig über alles sich verbreiten, was in meinem Herzen zum Leben und Licht drängt. Dann kehrt es von mir zu Dir zurück; du hörst Deine eigenen Gedanken, und indem Du mich lobst, erhebst Du nur, was Dir gehört. Du empfängst es von mir wieder, vermehrt durch meine Liebe. Und wenn es mir eines Tages gegeben ist, andere Herzen durch meine Ideen zu erwärmen, wenn ich einen Funken in die Geister werfen kann, einen kühnen Ton, der ihnen scheinen wird wie das Rauschen des Windes im Wald von der Morgenröte – alles wird ihnen von Dir kommen. Es wird Dein Geist sein, der ihnen prophetisch vom Reiche Gottes reden wird. Endlich, wenn in der Zukunft meine Worte in jungen Seelen wiedertönen, wenn ich dem Volke von den Aposteln und den Helden des Geistes rede, so werde ich an Dich denken; ich werde Dich wiedersehen, ein reiner, glänzender Stern in der Nacht meiner Seele, und werde mir sagen: es sind Deine Strahlen, die durch mich sich in den großen Strom der Welt verbreiten, mit der Hoffnung, sie zu erlösen.«

So lebten wir ein Leben für uns, außerhalb der Welt, ein Leben der Schönheit, des geistigen Fortschritts, der reinen vorwurfslosen Liebe.

Der Frühling war gekommen; die Kleine und ich machten häufige Spaziergänge in der freundlichen Umgebung der kleinen Residenz, und der Bruder begleitete uns oft, denn niemand fand es unpassend, daß zwei junge Mädchen von einem jungen Mann begleitet wurden, der der Bruder der einen war. Wie Goethe aus seiner Jugend von der glücklichen Freiheit erzählt, die im Umgang junger Leute beiderlei Geschlechts herrschte, so war es damals auch noch in den kleineren deutschen Städten, und diese Freiheit war sicher sittlicher und menschlicher als die konventionellen Formen der modernen Gesellschaft. Wir genossen also in Freiheit all des Glücks, das ein Trio, verbunden wie das unsere es war, finden mußte.

Eines Sonntagmorgens waren wir früh aufgebrochen, um einen der höchsten Gipfel der waldigen Berge in der Nähe der Stadt zu besteigen. Dort erhob sich ein Tempel, der der Unterbau eines historischen Monuments werden sollte, des sogenannten Hermann-Denkmals auf der Grotenburg im Teutoburger Wald; da wo Hermann-Arminius den Varus schlug. Von dem flachen Dache dieses Tempels übersah man die bewaldeten Hügelwellen des Gebirgszugs und darüber hinaus eine weite Ebene, hier und da mit Dörfern bestreut. Am Horizont verlief sich die Aussicht in die unbestimmten Farbentöne einer jener großen Heiden, wie sie im nördlichen Deutschland häufig sind und die eine gewisse wilde, melancholische Poesie haben. Alles das glänzte im ersten Grün an einem schönen Maimorgen. Der Himmel hatte nicht ein Wölkchen aufzuweisen, die ganze Natur atmete Jugend, Unschuld und Glück.

Einige Bauern mit ihren Frauen waren auch oben, wohl um sich des Sonntags zu freuen.

»Mir kommt ein Gedanke,« sagte ich zu Theodor; »möchten Sie nicht eine kleine Sonntagsrede halten vor dieser kleinen Gemeinde hier?«

Die »Kleine« schloß sich meiner Bitte mit Entzücken an und, wie um unsere Bitte zu unterstützen, erschollen in demselben Augenblick die Glocken in den Dörfern unten, um die Menschen zur Kirche zu laden. Wir ersahen an Theodors Lächeln, daß er auf unsere Bitte einging. Er entblößte sein Haupt und sagte den Bauern, daß er hier oben vom wahren Reiche Gottes, vom Reich des Friedens, der Brüderlichkeit und Liebe reden wolle. Diese sahen ihn anfangs mit Erstaunen an, dann aber entblößten auch sie das Haupt und stellten sich schweigend im Halbkreis auf, wohl beherrscht von dem Zauber des edlen Antlitzes, das mir auch nie vergeistigter und liebenswerter erschienen war. Er sprach von dem, was den gewöhnlichen Gegenstand unserer Unterhaltungen bildete, von dem Reich der Liebe, das sich auf der Erde verwirklichen müsse und nicht erst jenseits des Grabes; jenes Reich, wo Herz und Geist den einzigen Adel verleihen, wo Pflichterfüllung und Arbeit die einzige Ehre des Menschen sein würden. Die tiefe, sanfte Stimme des Redners, der Weihrauch, den das Frühlingsgrün spendete, der freudige Hymnus, den die Vögel in den Zweigen dem jungen Licht entgegensangen, der blaue Dom des Himmels über uns – alles das war eine Szene, die auch die härtesten Herzen bewegen mußte. Die einfachen Landleute betrachteten ihn, als er geendet hatte, wie die Fischer am See von Genezareth Christus betrachten mochten, als er ihnen zuerst vom Reiche Gottes sprach, in dem man seinen Nächsten lieben müsse wie sich selbst. Seine Schwester ergriff seine eine Hand, ich die andere zum stummen Dank. Dann verließen wir, nach einem freundlichen Abschied von den Landleuten, den Ort und stiegen auf frischgrünen Waldpfaden schweigend hinab, denn unsere Herzen verstanden sich ohne Worte.

Während wir so die sanften Freuden einer reinen Liebe genossen, sammelten sich Wolken über unseren Häuptern. Die Natur des Gefühls, das uns vereinte, konnte unseren beiderseitigen Familien kein Geheimnis mehr sein, obgleich weder Theodor noch ich davon auch nur mit einem Wort gesprochen hatten. Ein sehr entschiedenes Mißvergnügen zeigte sich, ohne daß man es aussprach. Die Familie meines Freundes hatte wohl hauptsächlich nur das entgegenzusetzen, was ich selbst anfangs gegen meine Liebe einzuwenden versuchte, nämlich daß ich sechs Jahre älter war als er, und die Freiheit seiner Zukunft, die er sich ganz selbst schaffen mußte, nicht in so frühe Fesseln gelegt werden sollte. Meine Familie sah außer diesen Schwierigkeiten noch eine andere, größere. Er war Demokrat, bekannte es frei und wurde es von Tag zu Tag mehr, je mehr sein kritischer Blick den unermeßlichen Abstand der existierenden Zustände von seinem Ideale ersah. Die meisten jungen Leute der Gesellschaft, seine Schul- und Universitätskameraden, haßten ihn, wie sein Vater es vorausgesagt hatte, seiner Superiorität und des besseren Gebrauchs wegen, den er von seiner Zeit machte. Die Damen und jungen Mädchen mochten ihn nicht, weil er sich nur mit wenigen unter ihnen beschäftigte, wenn er in Gesellschaft erschien – mit denen nämlich, mit denen er über andere Dinge als Strickstrumpf und Küche sprechen konnte. Mein Schwager und auch mein Bruder waren sehr aufgebracht gegen ihn, weil er einen Artikel geschrieben hatte, worin er die großen Ausgaben für das Theater auf Kosten des armen Volks, das die Steuern zahlen müßte, tadelte. So weit ging der Absolutismus damals in Deutschland, daß in einem solchen Duodezländchen, wie das, von dem ich hier spreche, kein freies Wort, kein gerechter Tadel über Angelegenheiten, die das allgemeine Wohl betrafen, ausgesprochen werden konnte, und daß ein Mensch verpönt wurde, der an den Nimbus dieser kleinen Majestäten zu rühren wagte. Mein Schwager grüßte Theodor kaum noch, sprach nie mit ihm und sah meine Beziehungen zu ihm mit entschiedener Mißbilligung. Diese Opposition in meiner Familie beunruhigte meine Mutter sehr. Sie kannte meine Natur nur zu gut, um nicht zu wissen, daß eine solche Liebe mächtige Wurzeln in meinem Herzen schlagen würde und daß, wenn sie Widerstand finden sollte, tiefe Schmerzen die Folge davon sein müßten.

Ich bemerkte das alles sehr wohl und war tief betrübt darüber. Das Gefühl, das ich für Theodor hatte, war die schönste und edelste Blüte meines Wesens. Aber je mehr meine Liebe mir heilig war, je mehr verschloß ich sie in die Tiefe meines Herzens. Ich glaube, daß diese tiefe, keusche Scham die Eigenschaft jedes großen reinen Gefühls ist. Wenn jedoch ein solches Gefühl ungerechterweise angegriffen wird, so findet es sogleich den Heldenmut, sich zu bekennen und zu verteidigen, und wäre es vor der ganzen Welt. Ich mußte also durch diesen zweiten Grad hindurchgehen. Zunächst fing ich an, mich von der Gesellschaft zurückzuziehn, von der er ausgeschlossen wurde. Wenn ich ihm aber auf der Ressource oder sonstwo begegnete, so sprach ich mehr mit ihm als mit jedem andern. Ich trotzte den mißbilligenden Blicken meines Schwagers und dem halb spöttischen, halb unwilligen Ausdruck auf den Gesichtern meiner Bekannten, die empört waren, daß ich ihnen einen »Demokraten« vorzog, der noch dazu ganz gleichgültig gegen ihre Nichtachtung schien. Schwerer zu tragen war mir das Mißvergnügen meiner Mutter, das anfing, sich in Vorwürfen und bitteren Bemerkungen Luft zu machen, die um so schmerzlicher für mich waren, als ich nicht von ihrer Seite daran gewöhnt gewesen war, und sie einst eine wahre Begeisterung für Theodor gehabt hatte. Eines Abends hatte ich die Meinen zu einem Ball auf der Ressource begleitet, obgleich ich nicht mehr tanzte. Theodor war auch dort, und da er auch nie tanzte, so setzte er sich zu mir und blieb da den größten Teil des Abends, in die schönsten Gespräche vertieft. Als wir nach Haus zurückkehrten, sah ich den Ausdruck der Verstimmung auf dem Angesicht meiner Mutter, und bald brach sie in heftige Vorwürfe aus, daß ich mich ganz öffentlich so ausschließlich mit diesem Menschen beschäftigt und mich allen Bemerkungen preisgegeben habe. Anfangs antwortete ich sanft und begütigend, dann aber übermannte mich das Gefühl, so ungerecht behandelt zu werden, und zum erstenmal in meinem Leben wurden harte Worte zwischen mir und meiner Mutter ausgetauscht. Ich litt unsäglich dabei; es war die erste tiefe Wunde für meine Liebe zu der Familie, und ich fühlte, daß ich von nun an durch viele Kämpfe zu gehen haben würde.

Ungeachtet meiner Schüchternheit und Demut war ich doch auch sehr stolz. Oft hatte ich schon früher zu meiner Schwester gesagt, der Grundsatz meines Lebens solle sein: »Von wenigen geliebt, von allen geachtet.« Liebe schien mir ein zu hohes, heiliges Geschenk, um es von vielen erlangen und ertragen zu können, denn rechte Liebe kann man auch nur wenigen geben; aber Achtung ist die Frucht unseres sittlichen Verhaltens, und sie müssen wir auch selbst dem Feinde einflößen. Dennoch empfand ich jetzt, daß die große Anerkennung, deren ich bisher genossen, anfing, sich zu vermindern. Welches aber war die Schuld, die ich begangen hatte? Einen jungen Mann zu lieben, dem auch seine Feinde keinen ernsten Vorwurf machen konnten, und endlich die Ziele zu verstehen, nach denen meine ganze Jugend ein unbewußtes Wandeln gewesen war? Es fiel abermals ein Schleier von meinen Augen. Ich sah ein, daß ich nicht mehr das sanfte, nachgiebige Geschöpf war, das, um niemand zu verletzen, sich allem unterwarf und den Weg, den alle gingen, mit ihnen ging aus Gehorsam und Gefälligkeit. Ich fühlte, daß ich eine Individualität wurde, mit Überzeugungen und mit der Energie, sie zu bekennen. Ich begriff nun, daß dies mein Verbrechen sei. Die allgemeine Anerkennung fing an, ihren Wert für mich zu verlieren, und ich sah ein, daß ich hinfort nur mein Gewissen zur Richtschnur nehmen und nur tun würde, was es mir vorschrieb.

Aber der Kampf wurde alle Tage schwerer. Mein Vater kam wieder während des Sommers, um uns zu sehen. Ach! und auch mit diesem geliebten Vater fühlte ich mich nicht mehr im Einklang über wichtige Lebensfragen. Die Politik hatte einen großen Platz in meinen Gesprächen mit Theodor eingenommen, und die Entwicklung meiner Gedanken zu demokratischen Ansichten war die natürliche Folge davon. Ich hatte oft in den Briefen an meinen Vater Fragen über politische Gegenstände getan, um, wenn es möglich wäre, meine Ideen nach den seinigen zu bilden. Er hatte mich einmal an Guizot und seine Politik verwiesen, die ich beobachten sollte, wenn ich mir richtige Ideen bilden wollte. Meist aber hatte er meine Fragen unbeantwortet gelassen, da er diese Dinge als außerhalb der weiblichen Sphäre liegend betrachtete. Doch erinnere ich mich des Augenblicks, wo ein tiefer Schmerz mein Herz durchzuckte, als eine seiner Äußerungen bei einem Gespräch mir plötzlich hell die Kluft beleuchtete, die sich zwischen seinen Ansichten und den meinen aufgetan. Er war von den Veränderungen unterrichtet worden, die man in meiner Art zu denken vorgehen sah und die man nicht als logische Folge meiner geistigen Entwicklung, sondern als einen beklagenswerten Einfluß der »unglücklichen Neigung« für einen Menschen mit exzentrischen und falschen Ansichten betrachtete. Es ist dies ein sehr häufig vorkommender Irrtum der Orthodoxen in Religion und Politik: wenn ein Geist sich von ihren Gesetzen befreit, so schieben sie die Schuld dieser Emanzipation auf irgend eine äußere Ursache, auf eine geistige Verführung, und denken nicht daran, daß es die innere Logik des tiefsten Wesens ist, die nur durch die Umstände an das Tageslicht gefördert wird.

Mein Vater sprach mit mir nicht darüber; es war durchaus keine absolute Notwendigkeit da, weder von der einen noch der andern Seite, das Schweigen zu brechen, aber der innere Bruch fühlte sich doch durch, und dieses Gefühl war um so schmerzlicher, als wir uns deshalb nicht weniger liebten. Ich sah Theodor fast gar nicht. Man forderte ihn nicht auf zu kommen, ich wünschte es selbst nicht, weil ich wußte, daß seine Begegnung mit meinem Vater nicht so sein würde, wie mein Herz es bedurfte. Ich sah ihn nur, wenn ich von Zeit zu Zeit die »Kleine« besuchte, aber auch das konnte ich nicht oft tun, da der größte Teil unserer Zeit meinem Vater gewidmet war. Die Briefe meines Freundes waren mein einziger Trost. Eines Tages fand ich aus, daß ich einen Brief nicht erhalten hatte, und erfuhr, daß er meiner Mutter gegeben worden war. Ich fragte sie danach, sie gab ihn mir zurück, – aber – geöffnet und gelesen. Das war ein schwerer Schlag für mein Herz. Ich hätte diesen Brief der ganzen Welt zeigen können, und umsomehr meiner Mutter. Sie waren reicher und schöner als viele, die veröffentlicht worden sind und die Bewunderung der Welt erregt haben. Aber sie waren so sehr mein, daß ich sie mit niemand auf Erden teilen konnte. Die Liebe kam bei mir, wie einst die Religion, aus den unergründlichen Tiefen der Seele und war ein zu innerliches Teil meiner selbst, um diskutiert zu werden. Ich habe niemals das frivole, oberflächliche Gefühl begriffen, das allen Freundinnen und Bekannten mitzuteilen ein Bedürfnis ist. Die tiefe ewige Liebe schien mir der Sonne ähnlich, die man an ihren wärmenden, wohltuenden Strahlen erkennt, in die man aber nicht hineinsehen kann, weil ihr Licht zu sehr blendet. Die Begebenheit mit dem Briefe trug viel dazu bei, den Geist der Empörung in mir zu nähren. Das Gefühl, das sich aller Augen entzogen hatte, um seine Heiligkeit nicht zu profanieren, stand nun in Waffen auf, um sein legitimes Recht vor der Welt zu verteidigen.

Es ereignete sich unter anderem einmal, daß, als wir in einem öffentlichen Garten, wo man Kaffee trank und Musik anhörte, in einem Kreis von Bekannten saßen, Theodor vorüberging, grüßte, sich uns aber nicht näherte, und noch mehrere Mal in unsere Nähe kam, ohne mit mir zu reden. Nach Haus zurückgekehrt, schrieb ich ihm, um die Ursache dieser Vernachlässigung zu erfahren. Er antwortete mir scherzend, daß er mich nicht der Verlegenheit habe aussetzen wollen, den verachteten Demokraten im Kreise meiner hochadeligen Bekannten anzuerkennen. Das nächste Mal, als wir an diesem Ort waren, ging ich auf Theodor zu, sobald ich ihn erspähte, und wandelte lange mit ihm auf und ab in den Alleen des Vergnügungsortes, vertieft wie immer in die ernstesten Gespräche. Ich wußte, daß man uns mit Erstaunen betrachtete. Eine junge, stolze, aristokratische Schönheit, die mir immer viele Freundschaft bezeigt hatte, begegnete uns am Arme ihres Bräutigams, eines Barons. Sie sah mich erstaunt, fast erschrocken an, als wollte sie sagen: »Ist es möglich, daß du dich so herablassen kannst? Hast du die Bedeutung der kleinen Silbe vor deinem Familiennamen vergessen? Diesen Demokraten, diesen unmoralischen Menschen, der die Kirche – der die Berechtigung des Adels leugnet, den konntest du erwählen?«

Das alles stand so klar auf ihrem Gesicht geschrieben, daß ich im Begriff war zu lachen. Aber eine härtere Probe war es für mich, an meinen Eltern vorüberzugehen. Ich konnte nicht auf sie zueilen und Theodor meinem Vater vorstellen; das wäre wie eine Herausforderung ihrer öffentlichen Zustimmung gewesen. Ich wußte, daß ihnen das schmerzlich peinlich gewesen wäre, und auf der andern Seite wollte ich meinen Freund nicht einer kalten und gezwungenen Aufnahme aussetzen. Ich fühlte mit Schmerz die Pein, die ich ihnen verursachte, aber ich mußte dem Manne, den ich liebte, diesen Beweis der Neigung geben, ich mußte eine edle Liebe durch ihr Bekenntnis verteidigen.

Der Widerstand, den ich fand, wuchs noch nach der Abreise meines Vaters; aber mein Gefühl hatte schon die feste Gestalt gewonnen, die keine irdische Macht mehr zerstören kann.

Im Herbst wurde Theodor krank, und ich verbrachte angstvolle Stunden, umsomehr, da er einen Ruf als Redakteur einer Zeitung in einer großen norddeutschen Stadt angenommen hatte, und uns demnächst also Trennung bevorstand. Ich verwünschte in meinem Herzen die Vorurteile der Welt, die es mir unmöglich machten, hinzugehen und den Mann, dem meine heiligsten Gefühle gehörten, zu pflegen und zu trösten, denn er litt sehr. Als ich wußte, daß er besser war und in das Zimmer seiner Mutter herunterkam, ging ich hin, ihn zu sehen. Es war am Vorabend von Weihnacht. Ich fand ihn mit seiner Mutter und der »Kleinen«. Die Unterhaltung zog sich hin bis zur Dämmerung. Da fingen die Glocken der nahen Kirche an zu läuten und verkündeten das Fest des folgenden Tages. Wir schwiegen alle; diese Glockentöne, die den Weihnachtsabend verkündeten, riefen eine Welt von poetischen Erinnerungen zurück: die glücklichen Tage der Kindheit, wo die Mutterliebe schon Wochen voraus mit süßem Geheimnis die Vorbereitung der Geschenke umgab und endlich mit unzähligen Lichtchen den Baum schmückte, der symbolisch das Licht darstellte, das in dieser heiligen Nacht sich in die Welt ergossen hatte; dann die Mitternachtsfeier, wo man in der erleuchteten Kirche mit Gesang und Predigt die Botschaft der Engel pries, daß nunmehr Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen sein solle; endlich die ganze rührende Legende von der Erlösung der Menschheit, Fleisch geworden in dem Kinde der armen Tochter des Volks. Mit diesen Tönen und diesen Erinnerungen zog ein magnetischer Strom von einem Herzen zum andern, verständlich, wenngleich ohne Worte.

Man brachte Licht, und anderer Besuch kam. Ich konnte in diesem Augenblick kein gleichgültiges Geschwätz ertragen, nahm Abschied und ging in das Zimmer, wo ich Hut und Mantel gelassen hatte, um mich zum Fortgehen anzukleiden. Das Zimmer war nur durch den Mond erhellt, ich hatte die Tür offengelassen. Theodor, der aus demselben Grund den Salon verlassen hatte, wie ich, trat herein. »Liebe Freundin, es war zu peinlich, sich so wiederzusehen,« flüsterte er, umschlang mich mit seinen Armen, und zum erstenmal begegneten sich unsere Lippen. Dann eilte er in sein Zimmer, und ich wandelte heim durch die helle Mondennacht, deren unzählige Sterne sich in meinem Herzen spiegelten.

Seine Genesung ging langsam vorwärts, und ich sah ihn wenig; er kam nicht mehr gern zu uns, denn er fühlte, daß er nicht willkommen war. Ebenso war auch ich nicht frei und glücklich in seinem elterlichen Hause. Ich blieb jetzt oft allein, denn ich ging fast gar nicht mehr in die Gesellschaften, wo ich ihn nicht fand, und wo man ihn, wie ich wußte, haßte und mich seinetwegen tadelte. In meiner Familie fühlte ich mich einsam und traurig; der Mangel an Übereinstimmung, nicht ausgesprochen, aber tief empfunden, lag schwer auf mir. Es war mir daher eine Wohltat, allein zu sein und dem Strom der Gedanken folgen zu können, die sich an die Gespräche mit meinem Freund knüpften und die immer heller und bestimmter in mir wurden.

Eines Abends, wenige Augenblicke vor Anfang des Theaters, kam er einmal, da er doch die Höflichkeit gegen die Meinen aufrecht erhielt. Ich hatte zufällig gesagt, daß ich nicht mitgehen würde, da man Robert den Teufel gab, eine Oper, die mir schon lange widerwärtig war wegen ihrer Effekthascherei und ihrer unwahren Musik. Als Theodor hörte, daß ich zu Haus bliebe, bat er um die Erlaubnis, noch etwas bleiben zu dürfen nach der Abfahrt der andern. In dieser Beziehung hatte von jeher in unserer Familie eine Toleranz geherrscht, die die, die sie ausübten, ebensosehr ehrte, wie die, gegen die sie ausgeübt wurde. Man konnte in diesem Fall nicht wohl eine Ausnahme machen. Wir blieben also allein, beinah zum erstenmal, seit wir uns kannten. Das Glück, uns endlich einmal ohne Zeugen alles sagen zu können, was das Herz füllte, war so groß, daß es mir genügt hätte, aber Theodor begnügte sich nicht damit, er umschlang mich und drückte mich an sein Herz. Wir blieben lange so, stumm, versunken in jenes Wonnemeer, das schon so viele besungen haben, und das doch einem jeden, der selig darauf sich wiegt, eine neue unsagbare, so noch nie von anderen empfundene Offenbarung ist.

Endlich sagte er: »Und dennoch frei!«

»Wie stolz!« erwiderte ich lächelnd; »aber ich bin es nicht minder; ja, nie möge ein Glück uns teuer und heilig sein, das nicht verträglich ist mit der Freiheit.«

Kurz waren die schönen Augenblicke. Er verließ mich, die Meinen kehrten aus dem Theater zurück, ich war äußerlich ruhig wie immer, und in mir war ein tiefer, unergründlicher Friede.

Indes kam eine neue schwerere Prüfung als die vorhergehenden, die mich auch zu einem energischeren Schritt als die früheren nötigte. Meine Mutter beschloß ihre große jährliche Gesellschaft zu geben, zu der auch die jungen Prinzen und Prinzessinnen des fürstlichen Hauses eingeladen wurden. Früher hatten mir diese Festlichkeiten in unserem Hause Freude gemacht. Es wurde meist getanzt, und ich tanzte gern mit den beiden ältesten Prinzen, von denen besonders der zweite mir viele Sympathie einflößte. Jetzt wußte ich, daß man auf dem Schloß, wie überhaupt in der Gesellschaft, sehr verändert gegen mich war. Meine »demokratischen Gesinnungen« mißfielen diesen kleinen Herrschern über einige Quadratmeilen Land. Diesmal sollte nun unser Fest kein Ball sein, sondern eine Gesellschaft, in der von Künstlerhand lebende Bilder gestellt werden sollten. Alle derartigen Belustigungen interessierten mich kaum noch, doch gab ich mich bereitwillig wie immer zur Hilfe bei den Vorbereitungen her, als meine Mutter mir plötzlich ankündigte, daß es unmöglich sei, Theodor einzuladen. Seine Familie würde natürlich gebeten werden, da sein Vater zu den ersten Personen des kleinen Staates gehörte, aber mein Schwager habe erklärt, daß man den jungen Prinzen unmöglich die Beleidigung zufügen könne, sie in denselben Salon zu bitten mit einem Menschen, der einen so tadelnden Artikel gegen die unschuldigen Neigungen ihres Vaters geschrieben habe, und daß er (mein Schwager) nicht kommen würde, wenn jener käme. Meine Mutter hatte diesen Rücksichten nachgegeben, wenngleich es ihr schwer wurde meinetwegen. Der bitterste Haß hätte keinen schmerzlicheren Schlag erfinden können, und er kam mir von meiner Familie, von guten, liebenden, geliebten Wesen!

Meine Schwestern waren ganz vertieft in die Vorbereitungen zu den lebenden Bildern, bei denen ihnen ein junger Künstler beistand, der seit einiger Zeit in der kleinen Residenz lebte. Er war sehr gern gesehen in unserem Haus; sanft, angenehm, mit einem hübschen Talent begabt, stieß er nie an und hatte überhaupt keine »politische Meinung«. Ich sah es mit einem Gefühl von Bitterkeit, daß dieser gute, aber unbedeutende Mensch so ganz in ihre Intimität aufgenommen wurde, daß sie ihn vorzogen, daß er die Seele alles dessen, was geschah, war, während der geniale, edle Mensch verbannt, ja öffentlich beleidigt wurde, weil er gewagt hatte, zu schreiben, daß man mehr als erlaubt sei in einem kleinen Zwergstaat ausgebe, um der Neigung eines Fürsten zu genügen. Ich bestand nicht darauf, daß er eingeladen würde; ich war zu stolz, um es als eine Gnade für ihn zu erbitten; aber ich erklärte, daß ich auch der Gesellschaft nicht beiwohnen würde, wenn ich nicht das feierliche Versprechen erhielte, unmittelbar nach der großen Gesellschaft eine kleinere, aus den besten Familien bestehende, gegeben zu sehen, zu der er eingeladen würde. Dies wurde angenommen. Meiner Mutter tat es leid, mich so zu verletzen, und sie ergriff gern dies Mittel, den Schlag zu mildern. Auch wollte sie vermeiden, daß die Sache zu bekannt würde durch meine Abwesenheit von der Gesellschaft. Dennoch hatte sich das Gerücht davon bereits verbreitet. Die Mutter Theodors war tief verletzt durch die ihrem geliebtesten Sohne, dem Stolz ihres Herzens, zugefügte Beleidigung. Die »Kleine« und der Vater lehnten die an sie ergangene Einladung ab. Von der Familie erschien nur die älteste Schwester mit ihrem Bräutigam.

Ich sandte Theodor einen Strauß Veilchen, die ersten des Jahres, und schrieb ihm ein paar Worte, die uns beide hoch über die Kleinlichkeit des menschlichen Verkehrs erhoben. Dann ertrug ich mit fester Haltung, durch eine innere Verachtung gegen die Torheit der Gesellschaft unterstützt, die Qual dieses Abends. Es herrschte eine allgemeine leise Verstimmung, denn es war ganz natürlich, daß man Bemerkungen machte über die Abwesenheit einer der ersten Familien der Stadt und über eine Neigung meinerseits, die meine Familie öffentlich verleugnete.

Den folgenden Morgen erhielt ich einige Zeilen von ihm, in denen er für die Veilchen und die Trostesworte dankte, mit denen ich ihn und mich über die Klatschereien und bösen Reden getröstet hatte, die die Folge des Vorgefallenen sein würden. Er schloß damit: »Ich lese im Plato, um mich von dem Schmutz der modernen Welt zu reinigen.«

Einige Tage später erinnerte ich an die versprochene kleinere Gesellschaft, nicht als eine Freude, weder für ihn, noch für mich – denn welche Freude konnte uns eine Gesellschaft geben, die nur ein spöttisches Lächeln oder ein hochmütiges Mitleid für ein Gefühl hatte, das sich über ihre Begriffe erhob? Ich verlangte das Versprechen als eine Gerechtigkeit, die uns beiden gehörte, als ein Zeugnis, daß die Beleidigung nicht persönlich gewesen war, sondern eine Nachgiebigkeit gegen die kleinen Tyrannen. Die Gesellschaft fand statt. Die »Kleine« kam mit ihrem Bruder. Alle die geladenen Personen bemühten sich, freundlich und liebenswürdig zu sein und jedes peinliche Gefühl zu verbannen. Meine Mutter gab das Beispiel. Mein Freund, obgleich ihm der Abend eher eine Marter als eine Befriedigung war, tat auch seinerseits sein Möglichstes, gesellig liebenswürdig zu sein, und er war zu reich begabt, um nicht auch dies zu können. Man bemerkte mit Erstaunen, daß dieser gefürchtete Demokrat, dieser schlimme Kritiker, ein allseitig gebildeter Mensch war, mit dem es sich ganz menschlich umgehen ließ. Man vermied natürlich von beiden Seiten die gefährlichen Klippen im Gespräch, und so verlief der Abend ganz gut. Die äußere Genugtuung war vollständig, aber der Pfeil war zu tief in mein Herz gedrungen, als daß man die Wunde wieder hätte heilen können. Ich hatte die Bedeutung aller dieser Vorfälle zu wohl verstanden; ich war hinfort im offenen Krieg mit der Welt, in der ich erzogen worden war, und es handelte sich nicht länger mehr um ein persönliches Gefühl, sondern um die Freiheit meiner Überzeugungen. Ich hatte den Kampf der Freiheit gegen die absolute Autorität begonnen.

Wir hatten aber doch noch manche schöne Stunde in dem Frühling, mein Freund und ich. Frei zwischen uns, der gegenseitigen Neigung gewiß, genossen wir in reiner Harmonie jeden Augenblick des Glücks, den uns das Schicksal gönnte. Wir trafen uns oft bei der Erzieherin der Prinzessinnen, einer liebenswürdigen, vortrefflichen, geistvollen älteren Dame, die eine nahe Freundin der Familie Althaus war und ihn selbst von Kindheit auf kannte. Sie war auch meine Freundin, und die Ungerechtigkeit, mit der die Welt uns behandelte, empörte sie. Sehr oft, wenn die Sonne beim Untergehen die Wipfel der großen Bäume unter ihren Fenstern vergoldete, oder wenn die Nachtigall in den Zweigen sang, und die Gärten, die das fürstliche Schloß umgaben, uns ihre Düfte zusandten, saßen wir vier: sie, Theodor, die »Kleine« und ich am offenen Fenster ihres traulichen Zimmers und lasen oder sprachen zusammen. Oft trieb uns Jüngere der Mutwille, unsere gute Freundin zu »gefährlichen Folgerungen« mit fortzureißen, die ihre große Intelligenz als logisch erkannte, die sie aber aus traditioneller Ehrfurcht nicht eingestehen wollte. Sie las z. B. mit Stolz und Freude das Buch unseres gemeinsamen Freundes, aber sie verteidigte mit Inbrunst den Gottessohn. Sie war im Herzen demokratisch, aber sie hielt aus persönlicher Anhänglichkeit an ihren Fürstlichkeiten fest. In besonders heiteren Augenblicken brachten wir sie sogar dazu, die Marseillaise mit uns zu singen, die wie eine Ironie in den Mauern des feudalen Schlosses klang. Sie von ihrer Seite neckte uns auch, und eines Tages sagte sie scherzend zu unserem Freund, den sie von Kindheit auf Du nannte: »Wart' nur, ich sehe es doch noch kommen, daß du an der Stelle deines Vaters einst bei den fürstlichen Diners sitzen und dich sehr gut unterhalten wirst.«

»Dann sei sicher,« erwiderte er, »daß du auch den Geist meiner Jugend hinter meinem Stuhle stehn sehn wirst, um mich zu verleugnen.«

Wenn ich von diesen freien und heiteren Vereinigungen zurückkehrte, mußte ich freilich dafür büßen, denn ich wurde im Kreise der Familie mit solcher Kälte empfangen, als ob ich etwas Strafwürdiges begangen hätte. O wie schlimm sind die Vorurteile der Menschen, die die kurzen Stunden des Glücks, die das Schicksal nur einmal gibt, vergiften und den bitteren Tropfen in den Kelch einer unschuldigen und edlen Liebe gießen! Als ob das Glück überhaupt etwas anderes wäre als die flüchtigen Augenblicke, in denen ein erhabenes Gefühl uns über die Alltäglichkeit des Daseins erhebt. Vergällt sie keinem, diese Augenblicke! Selbst wenn sie im Schmerze endigen, so hat man in ihnen am Born der Ewigkeit getrunken und ist gefeit gegen das Schicksal.

Der Sommer nahte, und es wurde beschlossen, daß wir in das südliche Deutschland zu meinem Vater gehen sollten. Auch Theodor beschloß, da aus seinem früheren Plan, die Redaktion einer Zeitung zu übernehmen, nichts geworden war, sich in eine größere Stadt, ein literarisches Zentrum, zu begeben, wo sich ihm ein weiteres Feld seiner nunmehr ausschließlich literarischen Tätigkeit eröffnen würde. Ein junger Bekannter von ihm, der aus jener Stadt kam, hatte ihn dafür entschieden. Dieser junge Mann machte Besuch bei uns und sagte, indem er von ihm sprach: »Er wird ein zweiter Lessing werden und hat eine große Zukunft.«

Wir mußten uns also trennen. Es war mir wie ein Todesurteil. Aber nicht für einen Augenblick kam mir der Gedanke, seine Freiheit zu beschränken, ein Versprechen von ihm zu verlangen, ihn zurückzuhalten von den Kreisen, wo sein Geist seine Schwingen mächtiger entfalten könnte. Im Gegenteil: als meine Mutter, von meinem stummen Leide gerührt, das gegenseitige Schweigen brach und mir anbot, bei meinem Vater die Vermittlerin einer Liebe, von der mein Lebensglück abzuhängen schien, zu werden und durch des Vaters Einfluß Theodor eine Stellung zu verschaffen, die unsere Vereinigung möglich machen könnte, dankte ich ihr herzlich für ihre Liebe, die über ihr Vorurteil siegte, wies das Anerbieten aber vollständig zurück. Der Gedanke an die geringste Verpflichtung, an das mindeste äußere Band bei einer Neigung, die auf allem, was heilig und schön in uns war, beruhte, war mir zuwider. Ich hatte lange gegen dieses mächtige Gefühl angekämpft, als ich es entstehen fühlte. Theodor selbst hatte es entfesseln helfen, indem er mich zur Freiheit erzog. Jetzt waren Liebe und Freiheit so sehr eins in mir geworden, daß mein Gefühl gegen ihn nur unbegrenztes Vertrauen war. Mehr als einmal hatte ich ihn zurückgehalten, wenn er schwören wollte, daß seine Neigung ewig sein werde. Ich begriff es nicht, daß eine Liebe wie die unsere enden könne, und wenn sie es konnte, wozu half dann ein Schwur? Wir hatten niemals von Ehe gesprochen, und ich hatte kaum daran gedacht. Wir mußten uns lieben, durch diese Liebe besser werden und den höchsten Zielen zustreben. Das war unser Schicksal. Was die Zukunft uns sonst noch vorbehielt – wie mußten es in Ergebung erwarten.

Er reiste einige Tage früher als wir. Den Tag vor seiner Abreise kam er nachmittags, um Abschied zu nehmen. Die Meinigen, aus einem Gefühl der Schonung, für das ich ihnen Dank wußte, ließen uns allein. Das einzige Versprechen, das ich von ihm verlangte, war das, mir alsbald zu schreiben, wenn ein neues Gefühl sich seines Herzens bemächtige. Er sagte lächelnd: »Als ob man auch deinesgleichen so viele in der Welt fände!«

Noch einmal entfaltete er vor mir den ganzen Reichtum seines Geistes, seiner Phantasie. Noch einmal erhob er mich mit sich in die höchsten Regionen des Ideals, während ich, an seine Schulter gelehnt, ihm zuhörte, um in dieser letzten Stunde noch eine Ewigkeit von Glück zusammenzufassen.

Am folgenden Morgen erhielt ich diese Zeilen, die er im Augenblick der Abreise geschrieben hatte: »Sei stark und vergiß nicht, was du dir erworben hast. Diese Hoffnung ist mein Trost. Laß ihn mir, erhalt' ihn mir!«

So endete der Frühling meines Lebens!


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