Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zwölftes Kapitel

Die Kunst

Den folgenden Winter blieben wir mit meinem Vater vereint in Frankfurt am Main. Wir führten ein stilles Leben, denn mein Vater hatte sich ganz von der größeren Geselligkeit zurückgezogen und lehnte alle Einladungen ab, außer bei zwei oder drei Familien, die alte Bekannte waren. Dieses Leben genügte mir nicht. In unserer Häuslichkeit waren nicht genug Pflichten zu erfüllen, um alle meine Kräfte in Anspruch zu nehmen. Mein Vater beschäftigte sich während des Tags für sich; abends las er uns angenehme und gute Sachen vor, aber nichts, was mir die Seele bewegt und ihr neue Horizonte geöffnet hätte. Die »heilige Unruhe« bemächtigte sich meiner wieder; ich suchte ein hohes Ziel, den Weg des Ideals, der Vollendung. Die Religion hatte mir das Rätsel nicht gelöst; die »große Welt«, wo ich die wahren Höhen der Bildung und der Existenz zu finden gehofft hatte, hatte mir nur kleinliche Eitelkeit und Verderben gezeigt. Ich suchte nun in anderer Richtung.

Die Malerei war immer zur Ausübung meine liebste Kunst gewesen, weil ich entschiedenes Talent dazu hatte. Musik war ein Bedürfnis meiner Seele; ich hatte von frühester Kindheit an in meinem elterlichen Hause die trefflichste Musik gehört, ich trank sie ein in vollen Zügen, wie man Lebensluft trinkt; aber ich hörte sie noch lieber, gab mich ihr ganz hin, als wenn ich sie selbst ausführte, denn ich hatte wenig Geschick in den Händen und mußte ermüdende und langwierige Studien machen, um etwas so ausführen zu können, wie es meiner Seele vorschwebte. Das Zeichnen hingegen gelang mir in überraschender Weise, und noch ehe ich eigentlichen Unterricht darin erhalten hatte, war das meine liebste Beschäftigung gewesen. Während langer Zeit war mir die altdeutsche christliche Kunst, so wie ich sie in verschiedenen deutschen Städten gesehen hatte, als der Gipfel des Erhabenen erschienen. Ich beneidete das Leben der Korporationen des Mittelalters, die solche Werke wie den Dom zu Köln und den Straßburger Münster, oder wie die seelenvollen Bilder der alten deutschen Meister, hervorgebracht haben, und deren Bescheidenheit so groß war, daß ihre Namen vergessen sind, während ihre Seele fortlebt in den verklärten Köpfen der heiligen Jungfrauen, in den Gestalten der frommen Glaubenshelden und der göttlichen Kinder.

Zu der Zeit, von der ich jetzt spreche, sah ich in der Stadt, wo wir den Winter zubrachten, die Bilder eines deutschen Landschaftsmalers, Carl Morgenstern, der lange Jahre in Italien gelebt hatte und die südliche Natur mit der Seele eines Dichters malte, wie es Claude Lorrain getan. So wie dieser kopierte er nicht nur die Natur, sondern er schuf sie neu in ihren idealsten Formen, in der unsäglichen Harmonie der Schönheit, mit der sie auf das Gemüt des Menschen wirkt. Als ich diese Bilder sah, ging eine große Revolution in mir vor. Ich begriff zum erstenmal, daß das Licht, die Farbe, die Form, durch sich selbst, durch ihre Vereinigung, durch ihre Harmonie uns die Idee der Schönheit geben und uns das unendliche Glück fühlen machen können, das von ihnen ausgeht.

Ich hatte von da nur noch einen Wunsch, nämlich die Schülerin des Malers zu werden, dessen Bilder mir einen so tiefen Eindruck gemacht hatten, und mein Leben der Kunst zu weihen, die mir nun als der Weg zur sittlichen Vollendung erschien.

Aber wie war dieser Wunsch zu verwirklichen? Der große Meister nahm keine Schüler an, und meine Eltern würden die Sache für unmöglich gehalten haben. Ich war dessenungeachtet entschieden, alles zu versuchen, um mein Ziel zu erreichen. Wir hatten einen alten Freund, einen höchst originellen Menschen, den wir alle sehr liebten, wegen seiner Güte und seines Unglücks. Seine Geschichte schien ein Roman. Von vornehmer Geburt und seltener Schönheit, hatte er als Offizier in der Fremdenlegion in englischen Diensten mehrere Jahre in Neapel zugebracht. Er hatte sich dort mit einer sehr schönen und vornehmen Italienerin verheiratet, deren Familienname in den Annalen der neapolitanischen Geschichte nur zu berühmt ist. Als er mit der Legion nach England zurückberufen wurde, weigerte sich seine Frau, ihm mit ihren drei Kindern zu folgen. Die Priester hatten sie dazu gebracht, ihren Gatten bekehren zu wollen und ihn für die katholische, absolutistische Partei zu gewinnen. Als sie die Unbeugsamkeit seines ehrlichen, offenen Charakters sahen, hatten sie die Frau ihren Pflichten untreu gemacht. Der Mann bemühte sich, sie durch Vernunft und Liebe zurückzuführen, aber als der Tag der Abreise für ihn kam, war sie mit den Kindern verschwunden. Durch seine Pflicht gebunden, mußte er Neapel verlassen, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, ihren Aufenthalt zu ermitteln. Nach langem, vergeblichem Suchen und Nachforschungen aller Art, auch von seiten seiner Freunde, fand er endlich ihre Spur. Sie waren in einem Kloster in Sizilien verborgen. Die Frau, durch die Priester fanatisiert, verweigerte es, zu dem Ketzer zurückzukehren. Es gelang ihm nicht, seine Kinder den Händen der Priester zu entziehen, die von oben herab beschützt wurden und die Kinder für ihre Zwecke erzogen. Natürlich wurde ihnen der Haß gegen ihren edlen Vater gepredigt, er aber liebte sie immerfort, trotzdem er nie von ihnen und seinem Unglück sprach. Seit lange außer Diensten, lebte er ganz einsam, das Leben eines Weisen. Nur eine Leidenschaft beherrschte ihn noch: ein tiefer, furchtbarer Haß gegen die katholischen Priester, die er die Feinde der Menschheit nannte.

Er war uns allen ein treuer, trefflicher Freund. Ihm vertraute ich meinen Wunsch an, Stunden bei jenem Maler zu bekommen. Er versprach mir, die Unternehmung zu wagen, ging in das Atelier des Künstlers, besah dessen Bilder, und sprach über Italien mit ihm in italienischer Sprache, deren er Meister war. Als er die Gunst des Künstlers durch seine anziehende Unterhaltung erworben hatte, sagte er ihm plötzlich auf deutsch, daß er gekommen sei, ihn um Stunden für eine junge Freundin zu bitten. Er wußte meine Sache so gut zu führen, daß der Künstler, durch die Originalität des Verfahrens belustigt, versprach zu kommen und zu sehen, ob mein Talent ihm wert genug scheine, seine Zeit daran zu wenden. Er kam wirklich, versprach mir Stunden zu geben, nachdem er meine Zeichnungen gesehen und verlangte, daß ich sogleich anfange in Öl zu malen.

Ich war außer mir vor Glück. Aber um das nötige Material zur Ölmalerei zu kaufen, bedurfte es sofort großer Ausgaben. Ich wollte meinen Vater nicht darum bitten, da er mir, obgleich widerstrebend, die an sich teueren Stunden schon gewährt hatte. Ich verkaufte also heimlich eine schöne goldene Kette und einige andere Schmucksachen, die ich besaß, und fühlte eine innige Befriedigung, daß ich an das edle Ziel gelangen konnte durch ein Opfer, das ich selbst brachte, ohne anderen eins aufzuerlegen.

So fing ich denn an zu malen, und gewiß haben selbst die größten Künstler niemals ein größeres Glück empfinden können, als das war, das ich fühlte, indem ich mich, unter der Leitung eines großen Meisters, der Beschäftigung hingab, die mir endlich den wahren Weg zum Ideal zeigen sollte.

Ich malte den ganzen Tag, und wenn ich abends meine Staffelei beiseite setzte, fühlte ich, daß ich besser geworden war. Kein verwerflicher Gedanke, keine kleinliche Nebenbeschäftigung fanden Platz in meiner Seele. Durch die Vervollkommnung der Technik bis zur Darstellung des Geheimnisses der Schönheit durchzudringen, war das Ziel meines Lebens geworden. Ich lebte in einer besonderen Welt, die mir die allein wahre erschien. Ich vernachlässigte jedoch meine übrigen Pflichten nicht, und ich war vielleicht noch sanfter und gefälliger gegen die, die mich umgaben, weil ich mich innerlich befriedigt fühlte. Aber sie errieten, daß mein Gedanke, mein eigentliches Sein, wo anders waren, und obschon es gewiß nicht mein Wille war, sie zu kränken, so waren sie doch ein wenig gereizt. Man fing von seiten der Bekannten an, mich zu necken, denn man konnte nicht glauben, daß eine so tiefe Konzentration in dem Herzen eines jungen Mädchens eine andere Ursache haben könne als eine persönliche Neigung. Man erzählte mir, daß ich von vielen jungen Damen beneidet würde, die Stunden von dem berühmten Künstler zu haben gewünscht, aber es nicht erreicht hätten. Alles das berührte mich kaum: mein Lehrer war mir teuer als solcher, nichts weiter. Ein zartes, stilles Andenken lebte noch im Grund meines Herzens, und es wäre mir nicht möglich gewesen, so schnell zu einem andern Gefühl überzugehen. Ich war zu tief hingenommen von meinem Studium, um nicht gänzlich abwesend zu sein bei Gesprächen, die nur an die alltäglichen Ereignisse anknüpften, als wenn die der Hauptzweck des Lebens wären. Während diese gewöhnlichen Gegenstände der Unterhaltung besprochen wurden, saß ich an meiner Staffelei und kopierte Bilder meines Lehrers, in denen ein tiefblauer Himmel sich in einem noch blaueren Meere, das von malerischen Felsen, von Palmen und Ölbäumen eingeschlossen war, spiegelte. Leichte Barken glitten auf dem stillen Wasserspiegel, und man mußte unwillkürlich denken, daß die Fischer, die sie führten, einen fortwährenden Hymnus an die Schönheit und das Glück singen müßten. Während ich dies alles malte, begriff ich immer mehr, daß die christliche Asketik unrecht hat – daß die Sinne nicht die Feinde des Geistes, sondern vielmehr seine Instrumente sind.


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