Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Sechstes Kapitel

Landleben

Inzwischen war das Frühjahr herbeigekommen. Freudig begrüßte ich den Vorschlag Herzens, London zu verlassen und nach Richmond zu ziehen, das wegen seiner Nähe doch die Vorteile Londons mit genießen läßt, und zugleich in den Spaziergängen an der Themse, in seinem herrlichen Park und dem nahen Kew-Garten, alle Vorzüge des ländlichen Aufenthalts bietet. – Von jeher war mir das Landleben als das wahre Leben erschienen. Die unbegrenzte Liebe zur Natur, die Ruhe und der Frieden, die sie allein zu geben vermag, die große Unschuld, die in ihr herrscht, in der die wilden Triebe noch nicht erwacht sind, die schon bei den Tieren Raub, Mord und Qual zur Folge haben – alles dies ließ mich mit Entzücken darauf hinsehen, nun endlich einmal dieses noch so selten genossenen Glücks teilhaftig zu werden. Dazu freute ich mich, aus dem noch immer zu regen Verkehr im Hause fortzukommen. Freunde und Besucher, von denen ein jeder glaubte, er müsse doch die Ausnahme sein, mit der man die Zeit verbringen könne, waren mir noch immer zu viele. Ich sehnte mich nach Ruhe und Stille, zumal ich alles im Hause hatte, dessen ich bedurfte: für mein Gefühl die Kinder, für meine Tätigkeit die Beschäftigung mit ihnen, Herzens Umgang für meinen Geist. Herzen ging nach Richmond, um ein Haus zu suchen, und als es gefunden war, zogen wir hinaus. Herr E . . . mit seiner Gattin zogen uns nach. Domengé kam jeden Tag und blieb bis zum Abend, teils Stunden gebend, teils teilnehmend an unseren Spaziergängen, Wasserfahrten usw. – Ich lebte nun mit den Kindern so ganz nach meinem Sinn und erfreute mich an ihrem Gedeihen. Bei der Ältesten verloren sich jene früher erwähnten Mißklänge immer mehr und wir kamen uns herzlich näher. Mit der Kleinen schloß sich das tiefe Liebesband, das uns von Anfang an vereint hatte, immer fester, und oft stand ich abends an dem Bettchen, wo sie schlummerte, und dachte mit wahrem Dankgefühl an die Mutter, die ich nicht gekannt und die mir dies teure Vermächtnis hinterlassen hatte. Ich fühlte all die heiße Liebe, all die Aufopferungsfähigkeit einer Mutter, all ihre brennende Sehnsucht, über solchem jungen Leben zu wachen und es zur schönsten Blüte zu erziehen. Die Grazie dieses Kindes entzückte mich mit den reinsten Hoffnungen für ihre Zukunft; ihre Fehler und kleinen Unarten wurden meine tiefste Sorge und mein Denken ging auf in den großen Problemen der Erziehung und ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall. Viele Wochen verstrichen im reinsten Frieden. Dann fing E . . ., dessen kränkliches, gereiztes Wesen immer einen Gegenstand der Unzufriedenheit und Kritik finden mußte, und, da er nicht im Großen beschäftigt war, sich überall an Details des täglichen Lebens stieß, an, seine Kritik an der Erziehung der Kinder zu versuchen. Er fand, daß ich nicht streng genug sei, nicht genug zurechtweise, meinte, das fröhliche Gelächter und die Ausgelassenheit der Kleinen griffe ihm die Nerven an, wenn er zu uns komme, und was der Klagen mehr waren. Anstatt sich aber direkt an mich zu wenden, klagte er Herzen darüber. Bei diesem bedurfte es auch oft nur eines Anstoßes, um ihn aus der vertrauensvollen Sicherheit, in die er seinen nächsten Freunden gegenüber versank, zur skeptischen Grübelei und dem Sehen von Gespenstern am hellen Tage zu verlocken. Er fing nun auch an, sich zu beunruhigen. Eines Abends, als er, E . . . und ich allein beisammen saßen, nachdem die Kinder schlafen gegangen waren, brachte er das Gespräch auf die Erziehung. Mit der edlen Offenheit, die ich so hoch an ihm schätzte, verhehlte er mir nicht, daß zwischen E . . . und ihm die Rede darüber gewesen sei, daß ich zu wenig Gewicht auf die Disziplin in der Erziehung lege. Es entspann sich eine lange Diskussion. Ich setzte meine Ansichten auseinander. Sonderbarerweise war E . . . nun ganz auf meiner Seite, sagte Herzen, daß er gar nichts von Erziehung verstände, was dieser auch freimütig eingestand, und nachdem wir mehrere Stunden diskutiert hatten, hatte ich eigentlich meine Gegner fast zu dem Bekenntnis gebracht, daß ich recht hätte. Als ich in mein Schlafzimmer im oberen Stock, in dem auch die Kinder schliefen, kam, fand ich die kleine Olga wach, ihr lächelndes Gesichtchen auf beide Händchen gestützt, meiner Ankunft harrend. Sie sah so unbeschreiblich liebenswürdig aus, daß ich E . . ., der eben die Treppe hinunterging, zurief, doch noch einmal rasch heraufzukommen. Er kehrte um, und Herzen und er stiegen zum zweiten Stock herauf. Ich zeigte ihnen das Kind und sagte ihnen leise: »Skeptiker, die ihr seid, braucht man bei solcher Grazie zu verzweifeln, wenn nicht in einem Augenblick alles gelingt, was nur in Jahren sich entwickeln kann und wenn die Frucht nicht vor der Blüte kommt?«

Sie mußten sich beide des holden Anblicks freuen und gingen lächelnd weg. Am andern Morgen jedoch gab mir Herzen einen Brief, den er mir noch in der Nacht geschrieben. Es war schon öfter zwischen uns Gebrauch gewesen, obgleich wir unter demselben Dach lebten, nach bedeutenden Diskussionen, oder wenn wir einer gegen den andern etwas auf dem Herzen hatten, zu schreiben, da man dem Papier gegenüber freier, besonnener, konzentrierter ist und das eigentlich Bedeutende des zu Sagenden besser zusammenfassen kann. Der Brief lautete:

»Ich will Ihnen schreiben wegen unseres gestrigen Streites. Die Diskussionen führen niemals zu etwas Gutem, man erhitzt und erzürnt sich, die Eigenliebe kommt ins Spiel; man sagt mehr als man fühlt. Zuerst muß ich Ihnen in vollster Wahrheit versichern, daß ich ganz und gar Ihrer Meinung bin in Beziehung auf den Tadel, den Sie und E . . . gegen mich ausgesprochen haben betreffs meines Anteils an der Erziehung. Ich kenne diese Mängel meines Charakters sehr gut; ich versuche es, mich zu ändern – das ist aber nicht leicht. Ebenso stimme ich vollkommen überein mit Ihrer Theorie und Ihrer Praxis, was die moralische Erziehung und den Unterricht der Kinder betrifft – es wäre also unnütz, darüber noch zu reden. Das unermeßliche Gute, das Sie in diese Ruinen einer Familie gebracht haben, besteht nicht allein in der Reinigung der Atmosphäre um uns her, sondern auch in der Einführung eines Elementes der Gesundheit und Unabhängigkeit, das bewunderungswürdig auf die Kinder gewirkt hat und das ich stets auf das tiefste anerkannt und geschätzt habe.

Es bleibt also die äußere Erziehung, ›die Dressur‹, wenn Sie wollen – allerdings kommt sie erst in zweiter Reihe und doch ist sie eine ästhetische und soziale Notwendigkeit. In dieser Beziehung finde ich bei Ihnen nicht dasselbe Talent. Und wissen Sie die Ursache? Weil weder Sie noch ich praktische Wesen sind; weil die Welt der Details nicht nur langweilig, sondern auch sehr schwer ist für alle diejenigen, die meist in Gedanken gelebt haben, in den Sphären der Meditation und der Theorien und keine wirkliche Spezialität für die Organisation, Administration und Ausübung der Macht haben. Seien Sie offenherzig und sagen Sie, wenn Sie an die Erziehung dachten, dachten Sie am wenigsten an die Dressur? Und sie entflieht Ihnen, wie sie mir entflieht. Und doch ohne diese Dressur keine Sicherheit, kein Gehorsam, keine Möglichkeit, die Gesundheit zu pflegen oder Gefahren vorzubeugen. Sie werfen mir vor, daß ich quälerisch, hart einschreite, wenn die Kinder zu tadeln sind, und ich beschuldige Sie, daß Sie diese Aufgabe zu sehr mir überlassen. Sie sagen, daß Sie es nachher tun. Das mag sein, öfter, aber zuweilen sehen Sie es auch gar nicht, vielleicht weil Sie keinen Wert auf diese Dinge legen. Die Kinder lieben Sie, Olga liebt Sie leidenschaftlich. Warum gehorchen sie Ihnen nicht immer in dem Maße? Ich sage es offen: weil Sie nicht die Kunst haben zu befehlen, oder die fortwährende Autorität, die in Atem erhält, auszuüben.

E . . . hat mir auch davon gesprochen, und das war der Anfang unserer Diskussion über Erziehung. Ich habe ihm vorgeschlagen, zusammen mit Ihnen darüber zu sprechen. Aber nicht nur, daß er Sie nicht überzeugt hat gestern, sondern er stimmte dermaßen mit Ihnen überein, daß ich zuletzt nicht mehr dazu schweigen konnte. Ich werde mehr und mehr unbarmherzig gegen meine Freunde, und es waren E . . . s Bemerkungen, nicht die meinen, die ich Ihnen mitgeteilt habe. Es ist dies ein Aviso, das von unten kommt aus der praktischen Welt. Sie haben eine ungeheure Aufgabe auf sich genommen, die Erziehung ist eine Hingabe, eine chronische Resignation. Sie ist das völlige Aufgehen des ganzen Lebens, und noch dazu muß man für die materielle Seite einen Beruf ad hoc haben. Darum beeilte ich damals nichts, sondern erwartete Ihren Vorschlag, weil ich wußte, welche Last Sie auf sich nähmen. Ich wußte es um so mehr, als Sie sich vielleicht in bezug auf mich täuschten. In Worten und in Romanen sind die Menschen, die ihrem Unglück treu bleiben, die vor dem Schmerz nicht fliehen, die gebrochen sind von schweren Schicksalsschlägen, sehr interessant; in der Wirklichkeit ist das nicht so, da ist das eine Krankheit wie eine andere, und alle Kranken sind kapriziös und unausstehlich.

Als Sie mir Ihre Freundeshand reichten, um die Erziehung der Kinder zu unternehmen, hatten Sie einen doppelten Zweck. Sie haben mir es oft gesagt, Sie wollten mich auch heilen; ich verstehe das und bin tief dankbar für jeden Beweis einer wahren tätigen Freundschaft. Aber es konnte Ihnen nicht gelingen, und dann erst haben Sie eingesehen, daß außer der Sympathie für alle die Dinge, die uns beiden heilig und teuer sind, außer der persönlichen Sympathie – wir dennoch Antipoden sind. Ich suche die Kinder zu erhalten, einziger Rest der Poesie in meinem Dasein, ich arbeite, ich lese die Times, ich liebe meine Freunde aufs tiefste, die wahren, und in diese Zahl gehören Sie, aber diese alle können nichts an der Weise ändern, die mein Wesen einmal genommen hat. Gut noch, wenn auch Sie mit dem Leben fertig wären, dann wären wir wie zwei Schiffbrüchige, die alles verloren haben. Sie aber haben – und das ist vollkommen gerecht – noch Ansprüche an das expansive Leben, an den Genuß, Sie haben noch eine Zukunft, haben noch Wünsche. Und Sie denken, daß meine Seele so egoistisch ist, nicht zu leiden, wenn ich bedenke, wie unerträglich Ihnen das Leben unter diesem verwünschten Dach sein muß? Ich leide um so mehr, als dabei nichts zu ändern ist, denn ich kann ohne Heuchelei kein anderes Leben führen.

Haben Sie an alles das gedacht, als Sie mir den Vorschlag machten, sich auf dieser Galeere einzuschiffen? Nein!

Wie mir das alles schwer auf dem Herzen liegt! Glauben Sie es mir.

Ihr aufrichtiger Freund
A. Herzen.«        

Ich mußte lächeln, als ich diesen Brief las. Woher kamen auf einmal diese Gewitterwolken, dieses tragische Unglück, nachdem seit der Katastrophe mit der Wärterin alles in schönstem Frieden gewesen war? Weil einem krankhaft gereizten Menschen die Lebhaftigkeit fröhlicher Kinder einigemal die Laune verdorben hatte. Dabei erkannte ich allerdings etwas von dem »Antipodentum« unseres Wesens in jener Ungeduld und Verzweiflung, wenn nicht gleich alle Resultate reiften, die Ausdauer und stille Arbeit allein erzielen können. Ich setzte mich hin und schrieb ihm wieder:

»Da Sie diesen Weg eingeschlagen haben, so wende ich mich auch noch einmal zu ihm, weil es wahr ist, daß man dem Papier gegenüber kühler, leidenschaftsloser und präziser ist.

Einem Irrtum Ihrerseits muß ich zuerst entgegentreten, weil es mich wundert und schmerzt, daß Sie mich so durchaus mißverstehn. Ich mache keine Ansprüche an das Leben mehr; aber das Leben macht noch Ansprüche an mich und denen entziehe ich mich nicht. Das Bewußtsein hiervon hielt mich zweimal vom Selbstmord zurück, dem ich mit der ruhigen Gewißheit ins Angesicht sah, daß ich das Recht habe, ihn zu begehen. Nicht im Sturm der Leidenschaft, sondern aus dem allertiefsten Grunde eines unendlichen Schmerzes heraus begriff ich mein Recht, ein Leben abzuschließen, das einen vollen Inhalt gehabt hatte, das ganz und ungeteilt durchlebt war in jedem Augenblick. Neben jenem Recht aber fühlte ich eine andere Forderung: die des Lebens an mich, an meine noch unverbrauchte Kraft, an meinen Geist, der noch begreifen, an mein Herz, das noch mitleiden und trösten konnte. Diese Forderung behielt die Oberhand, und ich suchte sie nun auch ganz zu erfüllen. Da ich nicht gestorben war an meiner Vergangenheit, wollte ich auch nicht an ihr kränkeln. Wie die Alten einst die Vergänglichkeit des menschlich Schönen in unsterbliche Halbgötter verklärten, so begriff ich in heiliger Wehmut an meinen Erinnerungen das Gesetz des Vergänglichen und des Ewigen in unserem Dasein. Wenn es einst soweit ist, so werde ich mich ruhig niederlegen mit dem Bewußtsein, in dem einen oder andern Herzen als ein verklärtes Bild meiner selbst fortzuleben. Mir schrieb kürzlich eine Freundin: ›wie gern möchte ich bei Deinem Tode sein! Du hast das menschlichste Leben gelebt, das ich kenne – Du wirst auch so sterben‹. Was aber meine Ansprüche auf ›Genuß‹ betrifft, so schwöre ich Ihnen zu, daß ich mich oft in dem ›genußreichen‹ bewegten Leben in London herzlich langweilte, mich hinwegschlich aus den tötenden Wiederholungen desselben Themas und aufatmete oben an den Betten der Kinder im Anschauen ihres unschuldigen Schlafs und in der Empfindung reiner, ewig menschlicher Gefühle. In diesen letzten Wochen, als alles so friedlich zwischen uns war, fühlte ich es oft mit wahrem Glück, daß wir anfingen, ein vernünftiges Leben zu führen. Ich empfand die stillen Stunden in inhaltvollen Gesprächen mit wenigen Edlen und das immer schöner aufblühende Leben mit den Kindern als den einzigen Genuß, den ich noch vom Geschick als Belohnung für meine gesunde Treue verlange, den ich mit Dank und Freude empfange, ohne mich eigensinnig dagegen zu sträuben, ohne mich krank zu wähnen, wo ich gesund bin, d. h. noch fähig, das Edelste im Leben zu empfinden, zu geben und zu empfangen.

Als ich den Entschluß faßte, zu Ihnen zu kommen, sah ich eine liebe Aufgabe vor mir und gelobte mir, sie nach besten Kräften zu erfüllen. Ob ich ihr gewachsen sein würde, sagte ich nicht; ich unternahm es im Gegenteil nur auf gegenseitige Probe. Daß meine Aufgabe eine doppelte war, ist gewiß; sie konnte nur für die Kinder gelingen, wenn ich auch Sie mit dem Leben versöhnte. Aus dem ersten überraschenden Gelingen gingen die Hindernisse hervor, die mir nachher eine Zeitlang das Leben verbitterten. Vielleicht waren auch Fehler meinerseits dabei, ich wollte ja damals auch gehen: Sie willigten nicht darein, und ich blieb. Im Anfang habe ich selbst manche Bedenken, manche schwere Stunde wegen der Kinder gehabt und gezweifelt, ob meine Kraft der Aufgabe gewachsen sei. Jetzt glaube ich fest, daß ich mein Ziel erreiche und zwar so, daß durch die allmähliche Veredelung ihres Wesens und durch ein beständig gutes Beispiel die Kinder von innen heraus sich zum Schönen bilden werden. Zu dieser Bildung halte ich es für notwendig, jede unschöne Szene zu vermeiden, und mir scheinen Korrekturen in Gesellschaft vor vielen entsetzlich verletzend: entweder demütigen sie zu viel und rufen einen inneren Widerstand hervor, oder sie befördern die Heuchelei, d. h. das Streben, sich vor andern besser zu zeigen, als man ist, nur um in ihrer Gegenwart nicht zurechtgewiesen zu werden. Vielleicht habe ich Unrecht, aber ich kann Beispiele anführen, wo ich viel wirksamer auf meine Weise gewesen bin, als wenn ich anders gehandelt hätte. Ich glaube, zwischen dem wirklichen Erzieher, dem Bildner und seinem Zögling, sollte ein solches Verständnis herrschen, daß ein Blick genügte, den letzteren aufzuklären über das Unzulässige, was er getan. Soweit bin ich bereits mit Natalie, und nach den Schwierigkeiten, die man uns zusammen in den Weg gelegt hat, finde ich, daß ich schon viel mit ihr erreicht habe. Sie arbeitet, wo sie lieber spielte, sie unterläßt manches, wenn mein Blick ihr sagt, daß es zu tadeln wäre. Bleibt nun auch noch vieles zu wünschen übrig, so wird das schon werden. Mir selbst sind unschöne Manieren furchtbar, nur müssen die guten eben nicht Dressur, sondern die Blüte sein, die dem organisch zum Edlen und Schönen entwickelten Wesen allmählich entsteigt, denn dann erst sind sie wahrhaft gut und im harmonischen Einklang mit dem ganzen Menschen. Wenn das Kind aber einmal ein wenig Kaffee umgießt oder dergleichen, so ist das eine Ungeschicklichkeit, die sie fühlen muß, die aber doch nicht so arg ist, um darüber eine Szene zu machen, besonders wenn den erwachsenen Personen manchmal dasselbe passiert. Ebenso wenn Olgas übermütige Natur zuweilen über die Stränge schlägt, oder wenn sie eigensinnig ist, so ist das für die Erwachsenen einen Augenblick lang vielleicht unangenehm, besonders für die, die vergessen haben, daß das Kind sein eignes Leben hat und seinen Kampf durchmachen muß, so gut wie der erwachsene Mensch. Aber was dagegen geschehen muß, läßt sich weit besser mit Ruhe und Konsequenz tun als mit Heftigkeit. Die weckt nur die Opposition im Kinde und verlockt es zu unschönen Äußerungen, weil es ein gewisses Recht fühlt, sein Wesen kundzugeben. E . . . z. B. fordert die Kleine immer heraus, und sie ist immer unartiger, wenn er da ist, während sie bei seiner Frau und mir reizend ist. Was die Gesundheit betrifft, so blühen und gedeihen die Kinder ja gottlob prächtig, und wenn man auch nicht allem Unglück vorbeugen kann, so ist ihnen bis jetzt doch glücklicherweise auch nicht der leiseste Unfall zugestoßen. Ich glaube, daß man recht gut über Kinder wachen kann, ohne sie in jedem Augenblick die ängstliche Aufsicht fühlen zu lassen, die sie jeder Selbständigkeit beraubt und sie entweder furchtsam oder leichtsinnig macht, indem sie sich auf die immerwährende Aufsicht verlassen. Das Kind frühzeitig an die eigne Besonnenheit gewöhnen, durch die es Gefahren vermeidet, scheint mir unerläßlich, um freie, sichere Menschen zu bilden. Das geschieht aber viel besser, wenn sie nicht unaufhörlich fühlen, daß sie bewacht sind. Ich glaube sogar, daß dies das einzige richtige Verfahren nicht nur in physischer, sondern auch in moralischer Hinsicht ist.

Sie wissen indes, lieber Freund, daß, wenn es Ihnen zu langsam geht, wenn Sie nicht glauben, daß ein Einfluß, der moralisch und geistig richtig fördernd wirkt, auch mit der Zeit und stiller geräuschloser Arbeit, die kleinen Mängel der äußeren Erscheinung zu beseitigen wissen wird, ich stets bereit bin, den freien Vertrag zwischen uns zu lösen und die begonnene Arbeit in andere Hände zu übergeben. Sie sagen, Sie werden mehr und mehr unbarmherzig gegen Ihre Freunde. Ich werde es in einem gewissen Sinne auch. Ich verlange unbegrenztes Vertrauen, oder sonst lieber völligen Bruch. Nur nicht im Halben verkommen lassen, was ganz, wahr und schön sein muß, wenn es Früchte bringen soll. Mein ›Genuß‹ wäre es gewesen, wenn ich Ihrem Hause Einheit und Poesie hätte zurückgeben können. Leider aber wird dies Ziel wohl nie ganz erreicht werden, weil Sie krank bleiben wollen, weil Sie sich nicht so befreien wollen, wie es Ihrer Natur allein würdig wäre, und das ist das Übel Ihres Russentums. Ja, da finde ich allerdings etwas, was uns zu Antipoden macht. – Haben Sie aber noch das alte Vertrauen zu mir, so lassen Sie mich gewähren und glauben Sie mir: ich komme an das Ziel.«

Herzens Natur war eine von jenen schönen Naturen, bei denen vor jedem wahren, aufrichtigen Wort die Wolken des Mißmuts und der momentanen Verkennung verschwinden, und die sich dann ganz voll und rein wieder hingeben. So war er, nachdem er meinen Brief gelesen hatte, überzeugt, daß er sich Hirngespinste gemacht hatte und daß ich im Grunde recht habe. Das weitere Vertrauen zwischen uns stellte sich wieder her. Ja, im Gefühl mir vielleicht eine unangenehme Empfindung hervorgerufen zu haben, trug er nun selbst auf eine kleine Reise an das Meer an, die ich vor einiger Zeit vorgeschlagen hatte und die er damals abschlug.

Wir brachen also auf. Domengé ging mit uns, und wir fuhren hinüber nach der Insel Wight, deren Naturreize ich schon lange zu sehen verlangte. Auf der Fahrt über die kleine Insel nach dem Städtchen Ventnor, das an der Südseite liegt, saßen Herzen, sein Sohn und Domengé oben auf der Postkutsche; die Kinder und ich saßen innen. Ganz entzückt von dem reizenden Weg rief ich einmal hinauf: »Nun, ist das nicht schön? Hatte ich nicht recht, es vorzuschlagen?« Lachend rief Herzen herunter: »Ja, ich wollte es Ihnen eigentlich gar nicht sagen, aber Sie haben recht: es ist wunderschön und gut, daß wir gekommen sind.«

Wir verlebten in dem schönen Ventnor fröhliche Tage. Abends waren wir meist mit Pulszkys, die den Sommer dort zubrachten, zusammen. Theresens Mutter, eine Wiener Dame voller Bildung und Geist, war zu Besuch bei ihnen und bereitete uns durch ihren Witz und köstlichen Humor manche heitere Stunde. Kossuths waren auch da, und er zeigte sich im engeren Zusammensein bei weitem liebenswürdiger als bei den offiziellen Vorstellungen in London. Die Gedanken waren damals sehr in Anspruch genommen durch den von Rußland angefangenen Krieg in der Türkei. Herzen namentlich war sehr aufgeregt. Er prophezeite von Anfang an die Niederlage der Russen und hoffte sie, da er infolgedessen den Sturz des Autokratentums hoffte. Wir teilten seine Hoffnung, und nur durch diese konnte der unsinnige Krieg überhaupt ein allgemeines Interesse haben, außer dem einen traurigen, daß Menschen sich einmal wieder an irgendeiner Stelle des alten Europa massenweise mordeten, und daß Tausende von Witwen und Waisen mit ihrem bitteren Leid eine dunkle Seite mehr in das Buch der Geschichte einschrieben.

Es sollte dieser Krieg freilich, zufolge der bitteren Ironie der Weltgeschichte, die so oft Fortschritte der Zivilisation mit dem Blute von Tausenden erkauft, auch manche andere gute Folge haben. So befreite er unter anderem die englische Gesellschaft von vielen Vorurteilen und brachte den Insulanern ein etwas höflicheres Wesen gegen die Sitten und Gebräuche der Fremden bei, die sich auf das wasserumgürtete Albion verirrten. Zu der Zeit, als wir in Ventnor waren, existierten diese Vorurteile noch, z. B. gegen die langen Bärte, die die Ausländer, namentlich die Emigrierten aller Länder, trugen, und die den an die glatten Kinne gewöhnten englischen Augen sehr shocking und barbarisch vorkamen.

Es passierte uns, daß, als wir auf einem Spaziergang an einem Landhaus vorüberkamen, wo einige elegante Damen auf dem Balkon saßen, diese sich nicht entblödeten, beim Anblick von Herzens und Domengés Bärten in ein lautes Hohngelächter auszubrechen. Domengé wandte sich nach ihnen um und sagte laut genug, um gehört zu werden: »Quelle canaille!« – Die Damen zogen sich nicht zurück, wennschon das Gelächter verstummte. Ähnliches war andern Bartträgern in den Straßen Londons begegnet.

Nach dem Krimkrieg, als die britischen Soldaten zurückkehrten, erschienen nach und nach überall bärtige Gesichter. Das Barttragen wurde nun, wie das in England geht, »fashion« und sogleich ins Extreme getrieben, so daß man bald kein männliches Gesicht mehr sah, das nicht von einem enormen Bart eingerahmt gewesen wäre. Auch wurden durch diesen Krieg in England eine Menge Schäden in der Militärorganisation aufgedeckt, und namentlich wurde die Aufmerksamkeit auf das schamlose Verkaufen der Offiziersstellen hingelenkt, das bisher den Offiziersstand zu einer Versorgungsanstalt für die jüngeren Söhne der großen Familien gemacht hatte, ohne Rücksicht auf Befähigung und auf das notwendige Wissen, das diesem sonst so vielfach traurigen Stand eine moralische Würde verleiht. Ferner erweckte das großmütige Beispiel der Miß Nightingale eine Tätigkeit unter den englischen Frauen, die auch bisher noch nicht dagewesen war und die eine weite Nachwirkung haben sollte. – Mit Freuden hebt man die guten Folgen hervor, die ein so abscheuliches Ereignis wie ein Krieg, und noch dazu ein Krieg, unter so nichtswürdigen Vorwänden angefangen, mit sich bringt. Sie versöhnen in etwas mit dem vergossnen Blut und mildern wenigstens die Blutschuld vor der Geschichte, wenn auch diejenigen, die ihn veranlaßten, der gleiche Fluch trifft. –

Nach kurzer, froh verlebter Zeit kehrten wir nach Richmond zurück und fingen das gewohnte Leben wieder an, das sich immer friedlicher gestaltete. Ich begann die russische Sprache zu lernen, da ich mir nicht nur selbst Freude davon versprach, sondern auch Nutzen für die Kinder, deren einzige Tradition mit dieser Sprache zusammenhing. Ich empfand es oft, wie viel schwerer die Erziehung dieser Kinder des Exils sei, als wie die Erziehung derjenigen, die ein Vaterland haben und in der Heimat aufwachsen, umgeben von den heimatlichen Sitten und Gebräuchen, vielleicht von alten bewährten Dienern, Verwandten und Freunden. Alles dieses war bei den Kindern der Exilierten nicht der Fall, ganz besonders nicht bei den Kindern Herzens, wo der Vater allein das heimatliche Element vertrat. Dann fehlten zwei der wichtigsten Grundlagen der bisherigen Erziehung bei ihnen gänzlich, nämlich: Sprache und Religion. Die Muttersprache, in der der Begriff zugleich mit dem Wort heranwächst, in der alles Fühlen und Denken beinah unmittelbar in den Ausdruck übergeht und jene Originalität der Färbung erhält, die das nationale Element im Wesen eines Volks ausmacht – fehlte ihnen. Sie sprachen drei, vier Sprachen zu gleicher Zeit, mit der spielenden Leichtigkeit, mit der Kinder überhaupt andere Sprachen lernen und durch die sie darin viel vor dem erwachsenen Menschen voraus haben. Dafür aber hatten sie nicht das tiefe Verwachsensein des Gedankens mit dem Wort, das z. B. für den Dichter ein unerläßliches Erfordernis ist, weshalb denn auch wohl selten jemand in einer anderen Sprache als der seinen bedeutende Dichterwerke liefern wird. Chamisso, den man mir als Beispiel anführen könnte, war doch durch Erziehung und Neigung zu gänzlich Deutscher geworden, als daß man es gelten lassen könnte.

In gleicher Weise wie die Sprache fehlte ihnen die religiöse Erziehung, die den bisherigen Generationen aller Länder ein Band des Zusammenhangs mit dem Vergangenen und Gegenwärtigen, eine Tradition gewesen war, aus der von selbst eine Menge Folgerungen hervorgingen, die den heranwachsenden Menschen in bestimmte Formen bannten und in einen festgestellten Zusammenhang mit der ihn umgebenden Welt brachten. Alles dies sind Hilfsmittel, durch die die Erziehung erleichtert wird.

Es verstand sich von selbst, daß ich völlig mit Herzen einverstanden war, daß von Erziehung und Unterricht in einer positiven Religion, in einem kirchlichen Dogma, nicht mehr die Rede sein konnte. Wie sollten wir das, woraus wir uns selbst in schweren inneren Kämpfen befreit hatten, wieder als eine Fessel um die Kinder legen, um ihnen einst den gleichen Kampf zuzumuten? das lag außerhalb jeder Frage und darüber war ich mir ganz klar. Natürlich billigte ich nicht, was ich in einzelnen Familien der Emigration gesehn hatte, nämlich daß es den Kindern erlaubt war, mit den Dingen, die der Mehrzahl der Menschen noch heilig sind, Spott zu treiben. Das konnte nur oberflächliche, arrogante Menschen bilden, die, ohne selbst geprüft zu haben, über etwas zu spotten wagten, was Jahrhunderten das ferne Ideal, das die Menschheit sucht, dargestellt hatte. Der richtige Weg zur Lösung des schwierigen Problems einer Erziehung ohne positive Religion, in einer noch christlich dogmatischen Gesellschaft, schien mir ungefähr der zu sein: zunächst den Kindern Ehrfurcht in das Herz zu pflanzen für alles Schöne und Gute, für alles, was durch Alter, Erziehung und Vorzüge aller Art berechtigt ist, solche einzuflößen. Besonders gehören dahin die großen Menschen, die durch ihren Genius und ihre Tugend heilig gesprochen sind und an die Stelle der antiken Halbgötter und der katholischen Heiligen treten. Es wäre geradezu eine Kultur der Heroen der Menschheit. Ferner: sie zurückzuhalten von voreiligem Urteil und sie lehren, die Überzeugungen anderer, auch wenn sie ihnen fremd oder unverständlich scheinen, zu ehren, solange wenigstens ihr Urteil nicht gereift genug ist, sie mit redlichen Waffen zu bekämpfen. Schließlich: ihnen den historischen Verlauf und Wert aller der religiösen Formen darzustellen, durch die die Menschheit schon durchgegangen ist und in denen sie sich noch gegenwärtig befindet. Dann aber vor allem: das tätige Mitleid in ihnen zu pflegen, das das eigentlich religiöse Element ist, das erlösende und das wahrhaft ethische. Daß auf diesem Wege der Erziehung schwere Fälle vorkommen, wo man dem kühnen Fragegeist des Kindes gegenüber in Verlegenheit kommt, ist gewiß. Aber man hat ja mit dem Hinweis auf einen Gott, der alles aus nichts gemacht hat, dem Kinde ebensowenig eine befriedigende Lösung gegeben, als wenn man ihm einfach eingesteht, daß man den letzten Grund der Dinge selbst nicht kennt. Die Folgerung liegt zu nah, die ich selbst von einem Kinde hörte, als man es auf seine Frage nach dem Ursprung der Dinge an den persönlichen Gott verwies: »Wer hat denn aber den lieben Gott gemacht?«

Läßt man das Kind aber ahnen, daß da alles erhabenes Mysterium ist, so flößt man ihm von vornherein den heiligen Schauer ein, den das Bewußtsein von der Endlichkeit unseres Erkennens in jedem denkenden Wesen hervorruft – die wahre Demut, die sich ihrer Begrenzung und ihres Unvermögens bewußt ist und sich nicht in eitlem Behagen als Inhaber der ein- für allemal gefundenen Wahrheit mit aller Sehnsucht und allem Suchen abfindet. Auch gibt es ja für das Kind so unendlich viele Zwischenstufen, die seinem unbefangenen, ganz objektiven Sinn näher sind und ihm vollauf zu tun geben, ohne daß es, hinreichend damit beschäftigt, in Versuchung kommen wird, die ihm noch fern liegende Abstraktion vom letzten Grunde aufzusuchen. In der allmählichen Bekanntschaft mit dem Reichtum der vorbildenden Natur, die die Stufen der Entwicklung seiner menschlichen Gefühle ihm im Reich des Lebendigen verständlich und begreiflich macht, wird es so viel zu tun haben, wird so ganz von dem ihm Nahen, Zugänglichen in Anspruch genommen sein, daß viele Zeit vergehen wird, bis ihm die Frage nach dem Abstrakten auf die Lippen kommt. Und käme sie eher, bei Ausnahmsnaturen, so würde die Hinweisung auf das Geheimnisvolle des großen Rätsels hinreichen, um den fragenden Geist in Schranken zu halten, bis ihm die Flügel des Gedankens genug gewachsen sind, um den Flug in das unbekannte verhüllte Reich der Abstraktion zu wagen, in dem doch zuletzt nur die Intuition der reinen, höchsten Seelen der wahre Führer ist.

Ich verhehlte mir nicht, daß den Kindern aus dieser Erziehung manche Verlegenheiten und mancher Zwiespalt erwachsen würden, namentlich in einer so konventionell orthodoxen Gesellschaft wie die englische. Zum Glück kamen die Kinder Herzens fast gar nicht mit der englischen Welt in Berührung, und die beiden Mädchen waren sehr erstaunt, als eines Sonntagmorgens, wo sie im Park von Richmond mit Reifen spielten, eine englische Dame auf sie zukam und sie mit strengem Ton fragte, wie sie etwas so Unziemliches tun könnten.

Es wurde mit allseitiger froher Zustimmung beschlossen, auch den Winter auf dem Lande zu bleiben. Nur wurde das Haus zu klein gefunden und ein größeres, an der Themse gelegenes, genommen, mit einem herrlichen Garten, der bis zum Fluß ging und voll alter prächtiger Bäume war. Das Haus war geräumig, so daß, außer der bequemsten Einrichtung für die Familie, auch noch für viele Gäste Unterkommen war.

Unter den Gästen, die von Zeit zu Zeit sich hier einfanden, waren jetzt auch alte liebe Freunde aus der Heimat. Anna, die sich endlich mit dem Mann ihrer Liebe, mit Friedrich Althaus hatte verheiraten können, war mit ihm herübergekommen, um sich eine Existenz in London zu gründen. Mit ihnen war Charlotte gekommen, die unzertrennliche Freundin Annas. Ich machte sie mit Herzen bekannt. Er schätzte Friedrich sehr, und bald gehörten sie zu den intimeren Besuchern des Hauses, was für mich natürlich eine große Freude war.

Der Winter in dem herrlichen Hause fing auf das friedlichste an. Am Morgen blieb Herzen streng bei seiner Arbeit. Er liebte nicht, dabei gestört zu werden, und jeder Besuch blieb seinem Zimmer alsdann ferne. Domengé war mit dem Sohn, ich mit den Mädchen beschäftigt. Das Haus und der Garten waren der Kinder und meine Welt; ich sehnte mich nicht über deren Grenze hinaus, denn ich war vollkommen glücklich. Bei den Mahlzeiten und am Abend vereinten uns erquickende Gespräche. Herzens ewig frischer, angeregter Geist war wie eine lebendige Quelle, die nie versiegt. Abends, wenn die Mädchen zu Bett gegangen waren, las er seinem Sohn und mir vor. Zunächst machte er den Jüngling mit Schiller bekannt und las ihm mit besonderem Entzücken den Wallenstein vor, den er vorzüglich liebte und für Schillers schönstes Werk hielt. Es war außerordentlich schön, wie Herzen sich in solchen Stunden dem Sohne hingab, und wenn er sagte, daß er kein Talent zur Erziehung habe, so hatte er doch gewiß die Gabe, aus der eignen, feurigen Seele Funken in das junge Gemüt zu werfen und Flammen der Begeisterung darin zu wecken, die die schönste Erziehung sind, wenn sie auf empfänglichen Boden fallen. In diesen Augenblicken, wo der Skeptiker und politische Polemiker in ihm schwiegen und nur der tief ästhetische und künstlerische Mensch aus ihm sprach, schien es mir immer, als könnte nichts befruchtender und bildender für ein junges Wesen sein, als der Umgang mit ihm. Dazu gehörte aber eben ein solch friedvolles, im Äußeren fast ganz ungestörtes Leben, wie wir es damals führten.

Eine große persönliche Aufregung sollte es unterbrechen. Domengé kam eines Tages in äußerster Erregung und erzählte uns, daß Barthélemy, den wir seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten, der Held eines blutigen Dramas geworden sei und sich nun im Gefängnis, in den Händen der Justiz befinde. Er hatte sich schon seit längerer Zeit fast von allen seinen Freunden zurückgezogen. Man sagte, daß die Liebe zu einer Frau, mit der er lebte, die Schuld davon trage, und daß diese Leidenschaft ihn ganz unzugänglich für andere mache. Dann hatte sich das Gerücht verbreitet, daß er London verlassen würde. Wohin er wollte, war unbekannt. Eines Nachmittags war er vollständig zur Reise gerüstet, mit dem Reisesack in der Hand und in Begleitung jener Frau, zu einem reichen Engländer gegangen, den er seit einiger Zeit öfter besuchte und der bloß mit einer Köchin in seinem eignen Hause lebte. Was sich bei diesem Besuch ereignet hatte, wußte niemand. Bekannt war nur, daß plötzlich eine Detonation im Hause gehört wurde, daß Barthélemy, nachdem er der Frau, die er liebte, durch eine einsame Seitenstraße hatte entkommen helfen, selbst, wahrscheinlich um deren Flucht zu sichern, von der schreienden Köchin verfolgt, die Hauptstraße hinablief, von einem Polizeidiener aufgehalten wurde und diesen im Handgemenge mit dem Revolver, den er in der Hand hielt, erschoß. Die herbeigeeilte Menge hatte ihn dann überwältigt und in Verwahrsam gebracht. Jener Engländer aber war von der Köchin, die nach der Detonation in sein Zimmer geeilt war, tot auf dem Boden in seinem Blute liegend gefunden worden. Bei einem ersten vorläufigen Verhör auf der Polizeistation, wo man den Mörder hingebracht hatte, hatte er ein hartnäckiges Schweigen beobachtet, nur behauptet, daß er den Polizeidiener nicht willentlich erschossen, sondern daß sich im Ringen mit ihm der Revolver entladen habe. Es war natürlich, daß dies Ereignis bei uns allen die tiefste Bestürzung hervorrief. Einen Menschen, den wir gekannt und geschätzt hatten, der eine Zeitlang ein Mitglied unseres Kreises gewesen war, nun in solcher Lage zu wissen, war um so erschütternder, als bei uns allen feststand, daß er kein gemeiner Verbrecher war, zu welch schrecklicher Tat auch Leidenschaft und heißes südliches Blut ihn hatten hinreißen können. Er war eine edel angelegte Natur, die nun sicher in den tiefsten Seelenqualen das rasch Vollbrachte büßte.

Die französische Emigration war in der größten Aufregung. Die Partei Ledru-Rollin freute sich fast über den Fall des energischen Sozialisten, der ihr immer feindlich gegenübergestanden und ihren doktrinären Republikanismus gegeißelt hatte, bis ihn jenes vorhin erwähnte Duell vollends mit ihr entzweite.

Die anderen Mitglieder der Emigration, Domengé an der Spitze, nahmen nicht nur tiefen Herzensanteil an dem Vorgefallenen, sondern traten auch öffentlich als die Verteidiger von Barthélemys Charakter gegen die hämischen Angriffe seiner Feinde auf. Konnten sie auch das eben Vorgefallene nicht rechtfertigen, so wollten sie es keinesfalls nach gemeinem Maßstabe beurteilen und richten. Übrigens wollte in das Dunkel dieser Geschichte kein rechtes Licht dringen. Der einzige, der vollen Aufschluß darüber hätte geben können, Barthélemy selbst, schwieg fortwährend bei den Verhören. Er schien entschlossen, dem Gang der Gerechtigkeit nichts in den Weg zu legen und sein Schicksal zu erleiden, gewiß als Sühne für das eigne edlere Gefühl, das unter der Last eines unleugbaren doppelten Verbrechens seufzte. Was aber endlich doch als Gewißheit aus allen Gerüchten und Vermutungen hervorging, war dieses: daß Barthélemys Reise keinen andern Zweck gehabt hatte als den, Frankreich von seinem Tyrannen zu befreien. Es hieß, daß jener Engländer ihm Geld zur Ausführung des Unternehmens versprochen gehabt, es ihm aber, als Barthélemy im Augenblick der Abreise es holen wollte, verweigert hatte, daß dann ein Streit entstanden sei, der Barthélemy in die äußerste Aufregung versetzt und ihn zur unglückseligen Tat geführt habe. Inwieweit dies richtig war, und weshalb der Engländer verweigerte, was er erst versprochen hatte, war nicht zu ermitteln, da die beiden einzigen männlichen Teilnehmer des blutigen Dramas, der Tote und der Lebende, stumm blieben, und die weibliche Zeugin auf rätselhafte Weise verschwunden war. Welchen Anteil sie an der Sache gehabt, warum sie bei einem so gewagten Unternehmen an Barthélemys Seite hatte bleiben wollen, schien auch anfangs unerklärt bleiben zu sollen, bis sich nach und nach aus seltsamen Gerüchten über ihre Persönlichkeit feststellte, daß sie eine französische Spionin und abgesandt gewesen war, den energischesten Emigrierten in das Verderben zu locken. Dies war ihr denn auch nur zu gut gelungen. Daß sie gleich nach der Tat sich der wichtigsten Papiere Barthélemys, deren Versteck unter einer Diele des Fußbodens nur sie kannte, bemächtigt, sie in Frankreich an betreffender Stelle abgeliefert und sich selbst dort in Sicherheit gebracht hatte, war mehr als wahrscheinlich. Man hatte bei der Haussuchung die Diele ausgehoben, alles im Zimmer in Unordnung, aber keine Papiere mehr gefunden, und die für die Vorgänge so wichtige Zeugin wurde überall in England vergebens gesucht.

Daß dem Gefangenen über die schreckliche Verirrung seiner Leidenschaft, die vielleicht allein Schuld war, daß er in den Abgrund stürzte, die Augen aufgegangen wären, glaubte ich aus einem Brief schließen zu dürfen, den er aus dem Kerker an seinen Associé, der mit ihm verkehren durfte, schrieb, und den dieser Herzen und mir zu lesen gab. Er enthielt unter anderem folgende Worte: »Ich bin so grenzenlos unglücklich, daß ich mich nicht retten will, auch wenn ich es könnte.«

Was mußte seine stolze, feurige Seele leiden, als ihm das abscheuliche Licht über die verratene Liebe aufging, deren Folgen nicht nur sein Gewissen mit doppeltem Morde befleckten, sondern auch sein Leben in der vollsten Jugendkraft abschnitten, während noch so viel Gedanken in ihm gärten, so viel edle Taten ihm zu tun übrig waren! O gewiß, wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, wie sie sein sollte, die die Taten der Menschen nicht nach einem gemeinsamen Maßstabe, sondern nach der Natur des Täters, den innersten Motiven der Handlung und ihrer Wirkung auf ihn beurteilte, so hätte Barthélemy freigesprochen werden müssen um der Schmerzen willen, die ihn bestürmten, um der Buße willen, deren er fähig gewesen wäre! Aber in den Augen der weltlichen Justiz war er ein Mörder wie ein anderer, und wir zitterten für sein Schicksal. Seltsamerweise jedoch klagte man ihn nicht wegen des ersten Falles, wo entschiedener Mord vorlag, an. Man überging diesen vielmehr mit Stillschweigen und sprach bei den Verhandlungen nur von dem zweiten Fall, der Tötung des Polizeimanns, der nach englischen Gesetzen bloß als »manslaughter«, d. h. Totschlag, aber nicht als Mord bestraft werden durfte. Diese Strafe besteht in der Deportation, und wir hofften, daß man die Todesstrafe vermeiden würde.

Wochen auf Wochen vergingen in der schrecklichsten Aufregung und Ungewißheit. Mir ließ das Schicksal des Unseligen keine Ruh. Tausend Pläne und Gedanken zu seiner Rettung kreuzten sich in meinem Kopf. Aber es war unmöglich, zu ihm zu gelangen. Er wurde mit äußerster Strenge bewacht. Nur sein Associé durfte ihn hinter doppeltem Gitter sehen, und nur der katholische Geistliche durfte ihn besuchen.

Inzwischen war der Schluß des Jahres herangekommen. Zum Neujahrsfest versammelte sich ein auserlesener Kreis von Gästen, um mehrere Tage in dem geräumigen Hause bei uns zu verweilen. Ich liebte es, von Zeit zu Zeit Feste zu bereiten, die den Kindern einen poetischen Eindruck, ein ausnahmsweise helles Lichtbild in der übrigens kindlich glücklichen Einförmigkeit ihres Daseins hinterlassen sollten. Den Weihnachtsbaum, der in seiner christlichen Bedeutung für sie keinen Sinn hatte, hatte ich schon im Jahr vorher am Silvesterabend in seiner antiken Bedeutung, als Symbol des wiederkehrenden Lichts der Sonne, eingeführt. Jetzt bereitete ich ihn abermals und schmückte ihn mit Gaben, die ich zum größten Teil selbst verfertigt hatte für all die kleinen und großen Gäste. Es war ein wahrhaft internationales Fest. Russen, Polen, Deutsche, Franzosen, Italiener, Engländer hatten sich zusammengefunden, und von jeder Nationalität waren es der Besten welche. Als die Mitternacht herannahte, überreichte Herzen seinem Sohn ein russisches Exemplar seines Buches »Vom andern Ufer«, das er zuerst in deutscher Sprache herausgegeben und nun selbst in das Russische übersetzt und seinem Sohn gewidmet hatte. Diese Widmung, die der Jüngling noch nicht kannte, las er ihm jetzt im Kreise der Freunde vor.

Sie lautete:

»Lieber Alexander!

Ich widme Dir dies Buch, weil ich nichts Besseres geschrieben habe und wohl nichts Besseres schreiben werde, weil ich das Buch liebe als das Denkmal eines Kampfes, in dem ich vieles geopfert habe, nur nicht die Kühnheit des Gedankens, und endlich, weil ich es nicht fürchte, diesen zuweilen verwegenen Protest einer unabhängigen Individualität gegen veraltete, knechtische, lügnerische Anschauungen, gegen absurde Götzen, die einer andern Zeit angehören, und die, sinnlos geworden, ihre Existenz zwischen uns beendigen, indem sie die einen hindern und die andern erschrecken – in Deine Jünglingshände niederzulegen.

Ich will Dich nicht im Irrtum lassen. Kenne die Wahrheit, wie ich sie kenne! Empfange sie ohne peinliche Fehler, ohne schmerzliche Enttäuschungen durch das einfache Recht der Erbschaft!

In Deinem Leben werden andere Fragen, andere Kollisionen auftreten, es wird Dir weder an Leiden noch an Arbeit fehlen. Du bist erst fünfzehn Jahre alt und hast schon schwere Schicksalsschläge erfahren. Suche keine Lösung in diesem Buche; es enthält keine, wie überhaupt unsere Zeit keine enthält. Was gelöst ist, ist auch beendet, und die zukünftige Revolution fängt kaum an.

Wir bauen nicht, wir zerstören; wir verkündigen keine neue Offenbarung, wir beseitigen nur die alte Lüge. Der gegenwärtige Mensch, ein trauriger pontifex maximus, kann nur die Brücke legen. Ein anderer, Unbekannter, Zukünftiger wird sie beschreiten. Bleibe du nicht am alten Ufer; besser ist es, mit ihm untergehen, als wie sein Heil im Hospital der Reaktion zu suchen.

Die Religion der zukünftigen sozialen Reorganisation, das ist die einzige Religion, die ich Dir vermache. Sie hat kein Paradies, keine Vergeltung außer der in unserem eigenen Gewissen. Geh, wenn die Zeit gekommen sein wird, diese Religion bei uns in Rußland zu predigen. Einst liebte man dort meine Worte, und vielleicht wird man sich meiner erinnern.

Ich segne Dich zu dieser Reise im Namen der Vernunft, der persönlichen Unabhängigkeit und der Brüderlichkeit.«

Der Jüngling stürzte sich, Tränen im Auge, in des Vaters Arme. Wir alle waren tief bewegt. Ein jeder dachte wohl mit Wehmut seiner fernen Heimat, dachte daran, wie fern, wie fern die Zeit noch sei, ja ob sie jemals kommen werde, wo man zurückkehren und jene Religion frei würde bekennen können. Zugleich aber fühlten wir auch alle, daß in diesem kleinen interessanten Kreise ein Hauch jenes Geistes wehe, der zufolge unserer Hoffnung einst die Menschheit zu einem schönen Bunde vereinen werde, und ein herzliches Gefühl war es, mit dem wir uns zum neuen Jahr die Hand reichten – eine kleine Gemeinde der Freien, im Exil, die es wußten, daß wenn auch noch manches Jahr sich in der Verbannung erneuern sollte, sie doch schon der zukünftigen wahren Kirche einer edleren, geläuterten, freieren Menschheit angehörten.

Es war eine jener schönen, klaren, sternenhellen Nächte, wie sie in England so häufig sind, im Gegensatz zu den trüben, nebligen Tagen. Die Erde war fest gefroren, und dennoch war es nicht kalt. Wir gingen, nachdem die Heiterkeit wieder die Oberhand gewonnen hatte, in den herrlichen Park hinaus, wo die jüngeren Leute im Mondlicht scherzten und spielten, während die älteren Personen in schönen Gesprächen lustwandelten. Drei Tage lang blieb der ganze Kreis versammelt. Herzen war in der heitersten Stimmung und der liebenswürdigste Wirt, den man sich denken konnte. Alle waren entzückt von dem Aufenthalt und versicherten, nie zuvor schöner erfahren zu haben, was wahre Geselligkeit sei. Als wir sie zum Bahnhof begleiteten, sagte mir eine der Damen voll Begeisterung: »Herzen ist ein Gott!« –

Mittlerweile war die Sache Barthélemys noch immer nicht entschieden und erhielt uns fortwährend in schmerzlicher Aufregung. Sein Prozeß zog sich auf seltsame Weise in die Länge, obgleich er selbst nicht den leisesten Versuch machte, sich zu rechtfertigen. Nur die Verleumdungen, die seine eignen Landsleute in der ihm feindlichen republikanischen Partei über ihn ausstreuten, die hämische Genugtuung, mit der sie ganz in vorderster Reihe bei den Verhören unter den Zuschauern saßen, schienen ihn tief zu empören. Ein Zeugnis hierfür war folgender Brief, den ich auf dem oben angeführten Wege ebenfalls zu sehen bekam:

»Newgate, 8. Januar 1855.

Ich bitte Freund B . . ., diesen Brief an Fräulein R . . . zu geben, die ihn wiederum an die Person, für die er bestimmt ist, gelangen lassen wird.

Wenn ich Sie nicht erhaben wüßte über die kleinlichen Rücksichten, die die Menschen bewegen, denen die sozialen Vorurteile für Tugend gelten, so würde ich nicht wagen, Ihnen den Titel Freund zu geben. Aber ich weiß, daß Sie nicht zu denen gehören, die die Toten treffen, und daß ich für Sie etwas anderes war als ein Elender. Alles was ich erfahren habe, verwundert mich nicht; ich kenne jene Persönlichkeiten hinreichend, um zu wissen, was sie wert sind. Wäre ich frei, so würde ich, ungeachtet des Scheines, der wider mich ist, mich dem Tribunal meiner Feinde stellen und sie beschämen. Aber wozu? Ich bin tot, und wenn es unserer Sache dienen könnte, daß sie mich in den Schmutz ziehen, möchten sie es tun. Es ist das vielleicht das einzige Geschäft, für das sie taugen. Ich wollte es wünschen, daß mein Fall in den Abgrund sie auf die Höhe des Berges heben könnte, aber dem wird nicht so sein. Die Mittelmäßigkeit wird ihr Los sein bis zum Ende. Die Devotionsgeschichten, von denen Sie gelesen haben, kommen aus derselben Fabrik, die in der Times die Geschichte von dem Fetzen, den Vardigon mir in meine Pistole gestopft hatte,bei dem oben erwähnten Duell. wieder auffrischt. Ich sterbe; aber der Beweis für diese Tatsache bleibt und wird seinerzeit veröffentlicht werden. Leben Sie wohl!

E. Barthélemy.«

Endlich erfolgte das Urteil. Es lautete auf Tod am Galgen, obgleich, wie schon gesagt, der erste Fall ganz aus der Anklage weggelassen worden war, und der zweite nur mit Deportation bestraft werden konnte. Wir alle und Barthélemy selbst hatten nur an diese Strafe gedacht. Der gutgesinnte Teil der französischen Emigration hatte sich mit einem Gesuch zugunsten des Angeklagten an Lord Palmerston gewendet, der damals Minister war, und dieser hatte sich nicht ungünstig ausgesprochen. Um so schwerer traf uns alle die Entscheidung. Mehrere Male waren Barthélemy Geld und Wäsche von seiten der Freunde zugestellt worden; jetzt nach der Entscheidung stellte man ihm auch, im Saum eines Hemdes verborgen, eine Portion Strychnin zu, um im Fall es zum Äußersten käme, dem schimpflichen Tod durch den Strang und all den qualvollen, ihm vorangehenden Förmlichkeiten durch ein freiwilliges Ende zu entgehen. Nachher aber hatte sein Associé mit einer gleichen Quantität Strychnin eine Probe an einem Hund gemacht und bei ihm nur entsetzliche Leiden, aber nicht den Tod hervorgerufen. Er hatte dies Barthélemy mitgeteilt, als er am Sonnabend, den 19. Januar, zum letztenmal zur Unterredung mit seinem Freund zugelassen wurde. Er bereitete auf diese Weise dem Unglücklichen die grausame Qual, das Mittel zur Befreiung vom schimpflichen Tod in Händen zu haben und ungewiß zu sein, ob es ihm das völlige Resultat gewähren oder ihn nur der Kräfte berauben würde, das Unvermeidliche mit Würde zu erleiden. Seine stolze Seele scheute zurück vor dem Gedanken, sich durch die Anwendung des Gifts vielleicht zu unmännlicher Schwäche zu verurteilen, und er entschied, sich seiner nicht zu bedienen.

Ich litt Unsagbares während dieser Tage. Ein grenzenloses Mitleid füllte mein Herz bis zum Zerspringen. Daß ich ihn nicht retten konnte, wußte ich genau, aber ich verlangte sehnlich danach, dem Verurteilten den Trost mitzugeben auf den letzten Weg, daß es Menschen gäbe, die anders dächten als die irdische Gerechtigkeit und seine Feinde. Zugleich wünschte ich aber auch, der Empörung Ausdruck geben zu können, die die Servilität der englischen Regierung in mir erregte, da es nunmehr außer allem Zweifel war, daß das Todesurteil nur auf ausdrückliches Verlangen der französischen Regierung bestätigt worden war. Die Geschworenen hatten auf mildernde Umstände erkannt und den Verurteilten der königlichen Gnade empfohlen. Ich schlug Herzen und Domengé vor, für uns drei um die Erlaubnis nachzusuchen, den Unglücklichen auf seinem letzten, schweren Wege begleiten zu dürfen. Ich fühlte, daß ich die Kraft haben würde, dies zu tun. Ich sehnte mich danach, weil ich überzeugt war, daß Barthélemy im tiefen Schmerz den blinden Willensakt gebüßt hatte und nun durch einen schweigend und edel zu erleidenden Tod die große Schuld sühnen wollte. Ihn in diesem erhabenen Augenblick der Buße allein zu lassen, bloß umgeben von einer widerwärtig gaffenden Menge, war mir wie ein tiefer Vorwurf. Mir schien es, als sei es unsere Pflicht, auf der Schwelle der Ewigkeit ihm gleichsam die Entsühnung anzukündigen durch diesen Beweis des heiligsten Mitgefühls, der erbarmenden Liebe. Zugleich erschien es mir recht, durch eine solche Handlung, im Namen einer zukünftigen gerechteren Ordnung der menschlichen Gesellschaft, zu protestieren gegen das Richten nach schematischen Begriffen, anstatt nach dem inneren Wesen der Tat und des Täters. Herzen und Domengé hatten nicht den gleichen, sehnsuchtsvoll ungestümen Wunsch wie ich, doch zogen sie Erkundigungen ein. Sie erfuhren aber, daß die Sache unmöglich sei, da man uns unter keiner Bedingung die Erlaubnis erteilen würde, weil ein solcher Schritt gegen alles Herkommen sei und die schauerlich gefühllose Routine des zum Geschäft, wie jedes andere, gewordenen Vorgangs stören würde. So blieb mir denn nichts übrig, als in der Tiefe meines Herzens mit ihm zu leiden und die furchtbar ernsten Stunden in Gedanken mit ihm durchzukämpfen. Den Sonntag, der sein letzter Tag war, verbrachte ich in einer Stimmung, die ich nicht anders bezeichnen kann, als wie ein fortwährendes, heißes, inbrünstiges Gebet, und wenn es Seelenströmungen gibt, die sich aus der Ferne fühlbar machen, so mußte Barthélemy es fühlen, daß er in den schweren Prüfungsstunden nicht allein war.

In England müssen alle Hinrichtungen am Montagmorgen stattfinden, und zwar in der ersten Morgenfrühe. Ich erwachte lange vor Tagesanbruch und meine Gedanken eilten in jene schauerliche Zelle im alten Newgate-Gefängnis, wo der aus seinem letzten irdischen Schlummer Erwachte jetzt die erniedrigenden Vorbereitungen zum letzten Gange durchmachen mußte. Als ich die Glockenschläge hörte, die die sechste Stunde verkündeten, verbarg ich mein Gesicht in das Kopfkissen und weinte bitterlich. Einige Stunden später ließ Herzen mich bitten, in sein Zimmer zu kommen. Er kam mir entgegen mit dem Ausdruck tiefster Erschütterung und reichte mir ein Zeitungsblatt. Es war die Times, die bereits einen Bericht über die letzten Stunden Barthélemys und die vollzogene Hinrichtung brachte. Ich konnte nicht lesen vor hervorbrechenden Tränen, Herzen las es mir und dem Sohne vor. Wie während des ganzen Verlaufs des Prozesses die Haltung des Gefangenen musterhaft edel, ruhig, bescheiden gewesen war, so hatte die Würde seines Benehmens in diesen letzten Stunden alle Zeugen mit Anteil und Bewunderung erfüllt. Sogar die Times gestand, daß dieser Mörder kein gemeiner Mensch gewesen sein könnte. Er hatte die Richter, die kamen, ihm zu verkünden, daß seine letzte Stunde gekommen sei, mit Ruhe und Anstand empfangen. Auf die Frage, ob er sich der Gnade Gottes empfohlen habe, hatte er gesagt, es könnte nur von einer Gnade hier die Rede sein: der der Königin, die ihm die Tür des Gefängnisses geöffnet hätte; das übrige sei seine Sache, die er mit sich selbst abzumachen habe: er sei bereit zu sterben. Den jungen katholischen Geistlichen, der ihn hatte besuchen dürfen, hatte er gebeten, ihn als Freund zum Richtplatze zu begleiten. Auf die Frage, ob er nicht noch einen Wunsch habe, dessen Gewährung ihm Trost sein könne, bat er, einen Brief, den er tags zuvor erhalten hatte, in der Hand behalten zu dürfen bis zuletzt. Es war dies ein Brief aus dem südlichen Frankreich, aus dem Geburtsort des Gefangenen, der, von den Behörden vorschriftsmäßig gelesen, ihm als unverfänglich zugestellt worden war: ein kurzer rührender Brief, nicht einmal ganz orthographisch geschrieben, mit einem weiblichen Taufnamen unterzeichnet. Er enthielt nichts weiter als die einfache Versicherung einer Liebe, die über Schuld und Tod hinaus ihre Treue bewahren werde. Den Gefangenen hatte dieser Brief tief ergriffen. Vielleicht war es der Nachklang einer ersten Jugendliebe, aus der Zeit, ehe noch wilde Leidenschaft und mißleitete Energie die hochbegabte Seele mit dunkler Schuld, die nun nur im Tode gesühnt werden konnte, befleckt hatten – und wie den armen Erdensohn, den im Leben Fluch- und Schuldbeladenen, zuletzt die reine, erste Liebe, das Ewig-Weibliche, hinanzieht und entsühnt, so blieb auch Barthélemy kein anderer Wunsch mehr, als mit diesem letzten Gruß der großen Erlöserin das Reich des Wahns und der Schuld zu verlassen . . .

Würdevoll, gefaßt und mutig hatte er sich den letzten Vorbereitungen unterworfen. Seinen Gefangenwärter hatte er, mit herzlichem Dank für alle ihm bewiesene Liebe, umarmt und dann selbst die bewegten Richter aufgefordert, den letzten Gang anzutreten. Den Brief in die Hand gepreßt, war er an der Seite des jungen Geistlichen fest und ruhig dem Richtplatz zugeschritten. Als er die Stufen, die zum Galgen führten, betrat, hatte er einen Augenblick stillgestanden und gerufen: »In wenigen Augenblicken werde ich es also kennen, das große Geheimnis!« – Dann, oben angelangt, hatte er noch einmal ruhig und lange auf die den Richtplatz umgebende Menge geblickt, den Geistlichen umarmt und sich dem Henker übergeben.

Wir schwiegen lange, lange, und stille Tränen sagten mehr als Worte. Ich hatte viele Tage hindurch Mühe, meine Fassung wieder zu erlangen. Begierig forschte ich nach jedem Aufschluß, den ich noch irgendwie über des Gestorbenen letzte Seelenstimmung und Gedanken erfahren konnte. Daß man auch selbst den Toten noch fürchtete, erhellte daraus, daß, als nach der Hinrichtung sein Associé kam, um die ihm vom Freunde vermachten, während der Gefangenschaft geschriebenen Memoiren und sonstigen Mitteilungen in Besitz zu nehmen, sich nichts vorfand, als einige unbedeutende beschriebene Blätter und daß niemand von etwas anderem wissen wollte. Wahrscheinlich waren die Hauptsachen sogleich weggenommen und an dabei interessierter Stelle abgeliefert worden. Die Zeitungen ergingen sich noch während mehrerer Tage in Mutmaßungen, Schmähungen, Verdächtigungen, bis die Flut des Neuen auch diese Wellen hinwegspülte. Um so wohltuender überraschte mich ein Brief des katholischen Priesters, der Barthélemys Besucher gewesen war, den die Times brachte. Der Schreiber sprach sich auf das entschiedenste gegen die böswilligen Entstellungen aus und versicherte, daß er den Gerichteten genau kennen und trotz der beklagenswerten Tat, zu der ein leidenschaftliches Temperament ihn hingerissen, schätzen gelernt habe und daß er jetzt, wo die große Sühne vollzogen sei, bereit wäre, für sein Andenken in jeder Weise aufzutreten.

Der Brief war sehr schön und gab mir das Vertrauen, daß das Schicksal dem Unglücklichen eine edle Ausnahme der gewöhnlichen Priesterschaft zum Troste zugeführt gehabt habe. Ich schrieb diesem Priester, erzählte ihm von dem lebhaften Interesse, das Barthélemys Intelligenz und sein ernstes innerliches Wesen mir früher eingeflößt hatten; ferner, daß ich ihn dann aus den Augen verloren gehabt habe und daß ich nun, durch sein tragisches Ende mit dem tiefsten Mitleid erfüllt, ein sehnliches Verlangen fühle, Näheres über ihn und seine letzten Seelenzustände zu erfahren. Ich bat ihn dringend, mir darüber, soweit es möglich sei, Mitteilungen zu machen. Wenige Tage darauf erhielt ich folgende Antwort:

»Ich bedaure sehr, dem Wunsch, den Sie mir ausdrücken, nicht nachkommen zu können, Ihnen über die letzten Tage des unglücklichen Barthélemy Einzelheiten zu berichten, die ich ebenso den Journalen wie Mitgliedern meiner Familie habe verweigern müssen. Es haben zwischen diesem Unglücklichen und mir Mitteilungen so intimer Natur stattgefunden, daß sie mir der Klasse von Dingen anzugehören scheinen, über die strengstes Geheimnis zu beobachten eine der ersten Pflichten meines Amtes ist. Ich erkenne mit Ihnen an, daß Barthélemy eine schöne Intelligenz, große Charakterfestigkeit und ein großmütiges Herz besaß, aber – er hatte auch heftige Leidenschaften, und diese Leidenschaften sind es, die ihn zu einem schimpflichen Tode geführt haben. Es ist unleugbar, daß der Mord Moores (des Polizeibeamten) ohne Vorbedacht geschehen ist; dennoch hat es nicht bewiesen werden können, daß dieser Mord im Interesse einer legitimen Verteidigung nötig war. Der Angeklagte konnte nicht wohl freigesprochen werden, aber eine unparteiische Gerechtigkeit hätte ihn nicht zur Todesstrafe verurteilen müssen. Ich habe getan, was irgend in meiner Macht stand, um sein Leben zu retten; man hatte es mir versprochen, und bis zum Sonntag, dem Vorabend seines Todes, hatte ich noch Hoffnung. Umstände, die dem Mord fremd waren, haben die Wagschale sich nach der Seite der Härte neigen lassen. Er ist wahrhaft mutig gestorben, aber er hat tief gelitten vor dem Sterben. Er fühlte das Bedürfnis religiösen Trostes, aber er fürchtete sich, ihn zu empfangen im Angesicht von Freunden, die ihn beobachteten und die doch so tief unter ihm standen. Seine Seele kämpfte einen furchtbaren Kampf, der eine weniger starke Organisation als die seine gebrochen hätte; aber ich darf glauben, daß meine Gegenwart und meine Worte ihm den furchtbaren Kelch, den er bis auf die Hefe hat trinken müssen, weniger bitter gemacht haben. Ich will es Ihnen gestehen, daß ich um ihn geweint habe, denn er war mir beinahe ein Freund geworden. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, hätte ich ihn zu der Zeit gekannt, wo Sie ihn kannten. ›Ihre Lehren sind sehr schön,‹ sagte er mir an einem der letzten Tage; ›wenn das Leben mir erhalten worden wäre, hätte ich sie verbreitet, ohne selbst daran zu glauben, und vielleicht wäre ich noch dahin gekommen, selbst daran zu glauben.‹ Er hat mir zum Andenken ein kleines Buch geschenkt, das einzige Gut, das er noch auf der Welt besaß.

Dies sind die wenigen Einzelheiten, die ich denen, die Sie in den Zeitungen gelesen haben, hinzufügen kann. Ich bitte Sie, mich deshalb zu entschuldigen und die Versicherung meiner ehrfurchtsvollsten Huldigung entgegen zu nehmen.

L. Roux.«

Hiermit war für mich die Möglichkeit, noch etwas von Barthelémy zu erfahren, geschlossen, und es blieb mir nichts übrig, als über dem schimpflichen Grabe des Verbrechers in Newgate eine im höchsten Leiden von der Schuld des Daseins gereinigte und verklärte Gestalt zu erblicken, die sich mir zu unauslöschlicher Erinnerung eingrub.


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