Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Fünftes Kapitel

Träume und Wirklichkeiten

Ein geheimnisvolles Ereignis, das um diese Zeit das Publikum meiner Vaterstadt in Aufregung versetzte, beschäftigte auch meine Phantasie auf das lebhafteste, obgleich ich nur hier und da etwas davon hörte und mit Auslegungen, die ich nicht verstand. Dies Ereignis bestand in der plötzlichen Abreise des jungen Erbprinzen, der das Land insgeheim in demselben Augenblick verlassen hatte, in dem sein vertrauter Kammerdiener eines plötzlichen und unerklärlichen Todes gestorben war. Man flüsterte sich zu, daß dieser Tod kein natürlicher und daß er für ein andres Opfer bestimmt gewesen sei, nämlich für den Herrn statt des Dieners. Die Fürstin folgte ihrem Sohn in das Exil, während eine schöne Dame, mit ebenso schönen Kindern, in ein Haus einzog, das dem unsrigen gegenüber und an der Seite des fürstlichen Schlosses lag. Ich hörte durch unsere Dienstmädchen, daß diese schönen Kinder die Kinder des Fürsten seien und deren Mutter seine Gemahlin. Nun begriff ich gar nicht, wie ein Mann zwei Frauen und zwei verschiedene Familien zugleich haben könne, aber ich nahm lebhaft Partei für den verbannten Prinzen und dessen Mutter, deren Tugend und hohe Geistesbildung von aller Welt gepriesen wurden. Meine Mutter war, soviel ich bemerken konnte, derselben Ansicht, denn sie beobachtete nie mehr, als die absolut notwendige Höflichkeit gegen die schöne Dame, um die sich alle huldigend drängten, die nach Beförderung und Ehren strebten. Mein Vater ging bei seinem Benehmen von einem anderen Gesichtspunkt aus, sein einziger Ehrgeiz war das Wohl des Landes, und um diesem zu dienen, setzte er bei dem Landesfürsten die mächtigsten Hebel in Bewegung. Der Fürst hatte ein gutes Herz, wenig Bildung, viel Leichtsinn und Anfälle von Heftigkeit, die an Wahnsinn streiften. Seine legitime Frau, die Tochter eines großen Königshauses, tugendhaft, gelehrt und Künstlerin, aber stolz und kalt, hatte ihm nie das häusliche Glück gegeben, das er verlangte. Ihre Charaktere waren zu verschieden. Der Fürst schloß sich dann in leidenschaftlicher Liebe an jene andere Frau an, die schön war, auch nicht ohne Verstand, aber wenig gebildet und gewöhnlich. Sie hatte eine beinah absolute Herrschaft über ihn erlangt. Meine Mutter konnte ihre Abneigung gegen diese Frau niemals ganz überwinden, und da mein Vater, um jener höheren Gründe willen, einige Rücksichten für sie verlangte, so wurde dieser Gegenstand zuweilen Ursache von Diskussionen zwischen meinen Eltern. Der Zufall machte mich einmal zur unbemerkten Zeugin einer solchen ziemlich lebhaften Diskussion, und diese Entdeckung eines Zerwürfnisses zwischen meinen Eltern, die ich gleicherweise liebte, kostete mir viele Tränen. Alle diese Wirklichkeiten, die ich nur halb sah und verstand, verwirrten und beunruhigten mich. Ich flüchtete mich mit doppeltem Entzücken in das Land der Träume und der Erfindung. Mein größtes Glück war ein kleines Theater, das man uns geschenkt hatte, und auf dem wir mittels Puppen, deren Rollen wir sangen und sprachen, große Opern und Dramen aufführten. Ich arbeitete wochenlang daran, um sie mit dem größtmöglichen Luxus in Szene zu setzen, und es war mir so heiliger Ernst damit, daß ich an einem Abend, wo wir die Euryanthe mit großem Pomp vor einem Publikum von Eltern und Geschwistern gaben, den Vorhang fallen ließ und vor Schmerz weinte, weil mein jüngster Bruder, der mit uns spielte, sich in einer tragischen Szene einen dummen Spaß erlaubte. Diese Leidenschaft für das Theater steigerte sich noch, als wir selbst anfingen, zu spielen, meine jüngere Schwester, ich und einige Freundinnen. Man sagte mir, daß ich gut spiele, und ich fühlte mich durchaus in meinem Beruf. Ich träumte nur eins: eine große Künstlerin zu werden.

Später habe ich in vielen intelligenten Kindern diese Leidenschaft für das Theater gefunden, und ich glaube, man müßte viel Gewicht auf dieses Element in der Erziehung legen, anstatt es zu unterdrücken, wie man gewöhnlich tut. Ich glaube sogar, daß man dabei sehr wichtige Fingerzeige in bezug auf den Charakter und die Naturanlagen finden würde. Es gibt Kinder, die die bloße Maskerade, das Burleske, die Farce lieben, es gibt andere, denen der Ausdruck erhabner Gesinnung, des Heroismus Bedürfnis scheint. Vielleicht könnte man sich auch dieses Elements sehr vorteilhaft beim Unterricht in der Geschichte bedienen, und sicher hätte ein Knabe, der Wilhelm Tell, Spartacus usw., ein Mädchen, das die Jungfrau von Orleans, Iphigenie oder sonst heroische Persönlichkeiten der Geschichte selbst dargestellt hätte, lebhaftere Eindrücke von allem, was sich auf so hervorragende Gestalten bezieht, als ihnen die Geschichtsstunde auf ihren Schulbänken geben kann. Und welch ein weites Feld für Jugendschriftsteller, historische Stücke zum Vorteil der Erziehung zu schreiben, und für die Erzieher, die Aufführungen zu organisieren!

Außer dem Theater waren es die Helden und großen Charaktere der alten, besonders der griechischen Geschichte, denen meine heißesten Sympathien galten. Ich las voll Eifer eine populär geschriebene Weltgeschichte in vielen Bänden und mit ziemlich guten Kupfern, die sich in der Bibliothek meiner Mutter befand. Gewisse Gestalten und gewisse Tatsachen sind von da an für ewig meiner Erinnerung eingegraben geblieben. Wenn ich von dem glorreichen Tod des Leonidas und seiner dreihundert Braven las, wenn ich das Bild ansah, wo Examinondas den Speer aus seiner Wunde zieht und den Freunden, die weinen, weil er keine Kinder hinterläßt, sagt: »Lasse ich euch nicht zwei unsterbliche Töchter, die Schlachten bei Leuktra und Mantinea?« – wenn ich von Sokrates hörte, wie er dem Tode entgegenging, indem er seine Schüler über die erhabensten Dinge belehrte – dann vergoß ich Tränen freudiger Rührung. Mein Herz erglühte mehr und mehr für alles, was den Stempel des Erhabenen trug, und ich kann in Wahrheit sagen, daß der Kultus der Heroen die wahre Religion meiner Kindheit war.


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