Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Sechzehntes Kapitel

Katastrophe

Nach seiner Abreise war ich ungeduldig, auch zu gehen. Es war, als ob ein eisiger Hauch die Blüten des Frühlings gestreift hätte. Nur das Scheiden von der »Kleinen« wurde mir schwer. Unsere Freundschaft war dieselbe geblieben, dennoch hatte ich mich nie entschließen können, auch selbst mit ihr über das Gefühl zu sprechen, das mich mit ihrem Bruder vereinte, wenngleich es ihr kein Geheimnis sein konnte. Beim Abschied gab sie mir einen Strauß Rosen aus ihrem Garten, aus dem so manche mit seinen Briefen zu mir gewandert waren. Ich behielt den Strauß, bis wir den Rhein erreicht hatten. Da warf ich ihn in die Wellen, wie Polykrates den Ring, damit die Götter mir mein höchstes Glück bewahren möchten.

Ich war übrigens weit davon entfernt, glücklich zu sein; die Trennung lag schwer auf mir, und es schien mir oft, als könnte ich sie nicht ertragen.

Mein Vater kam uns am Rhein entgegen. Ich liebte ihn immer gleich, mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit; aber ich fühlte, daß meine Intelligenz sich für immer von der seinigen getrennt hatte und nie mehr in seine Richtung zurückkehren könnte. Doch trotz des Schmerzes, den mir diese Überzeugung verursachte, hoffte ich, da ich ihn so gesund und jugendlich kräftig fand, daß es mir noch lange gegönnt sein würde, ihm meine Liebe zu zeigen, indem ich es vermied, mit ihm von Ansichten zu sprechen, die ihn betrüben mußten.

Mein Vater hatte eine Sommerwohnung für uns in dem Badeort Homburg genommen, der, seit mehreren Jahren in raschem Aufblühn, ein Sammelplatz des Vergnügens und der Mode geworden war und viel müßiges Volk versammelte neben denen, die an seinen Heilquellen Stärkung suchten. Die Zeit war fern, wo ich die sogenannte »große Welt« von einem Glanz umgeben sah und glaubte, in ihr etwas für meine Vervollkommnung tun zu können. Alle ihre frivolen Freuden waren mir gleichgültig geworden. Ich hätte in der Einsamkeit einer großartigen Natur sein mögen, die mit der feierlichen Trauer meines Herzens übereingestimmt und in der ich mich ungestört den Gedanken hätte überlassen können, die mich allein, fern von meinem Freunde, aufrecht hielten. Der einzige Ort, der mir gefiel, war der alte Schloßgarten; ein herrlicher Park mit hundertjährigen Bäumen, stillen Gewässern, tief schattigen, einsamen Plätzen, wohin sich die Modewelt selten verirrte. Ich ging oft allein dahin, um zu lesen und mit besonderer Vorliebe damals die Werke eines Dichters, der in Deutschland wenig, im Ausland gar nicht bekannt ist. Es waren die Werke Friedrich Hölderlins, die ich zuerst mit Theodor zusammen gelesen hatte und in denen wir eine Zeitlang ganz gelebt hatten. Der vom griechischen Altertum mit flammender Begeisterung erfüllte Dichter konnte sich aus dem Zauberreiche der Helena nicht in eine versöhnende Wirklichkeit hineinflüchten. Zwar hatte er sein Ideal, seine Diotima, gefunden, aber nur, um sich in schmerzlicher Entsagung von ihr trennen zu müssen und der Not und Gemeinheit des Lebens anheimzufallen. Die zu fein besaitete Leier zerbrach, und die Nacht des Wahnsinns bedeckte den überströmenden Idealismus und den grellen Kontrast der bitteren Entsagung. Er lebte lange der Vernunft beraubt. Erschütternd sind einige der Gedichte, in denen noch die Fülle der dichterischen Begabung des Ausdrucks, die Macht der poetischen Bilder waltet, aber ohne inneren Zusammenhang, ohne die Möglichkeit, die leitende Idee festzuhalten. Ebenso erschütternd soll es gewesen sein, wenn die Finger des Unglücklichen über die Tasten glitten und zuweilen noch wie ein fernes Echo die heiligen Harmonien, die seine Seele gefüllt hatten, hervorriefen. In dem damals noch kleinen Orte Homburg hatte er die letzte Zeit vor Anfang seiner Krankheit gelebt, und unter den alten Bäumen des erwähnten Schloßgartens hatte er oft gesessen, schon ein wehmutvoller Schatten des einst wunderbar Schönen, Begabten, Herrlichen, wie die Schatten seiner griechischen Ideale im Hades. Bettina von Arnim meint in ihren Briefen an die Günderode, er habe da Träume gehabt, die zu hoch waren für das Verständnis der Sterblichen. Aber so war es wohl nicht; das schöne Gefäß, in dem unsterbliche Träume gewohnt hatten, war zerstört. Was den Denker jedoch schwer bewegen mußte, war die traurige Tatsache, daß jener Fall kein vereinzelter war; daß an dem Schmerz des Dualismus zwischen Ideal und Wirklichkeit mehr als ein schönes Leben zerbrach; daß Lenau später demselben Schicksal verfiel wie Hölderlin, und daß dieses Schicksal, wie ein drohendes Gespenst, als Augenpunkt in der Horizontlinie so manches reich begabten, schöpferischen Jünglingsgemütes stand, so daß auch Theodor selbst, als wir die Werke Hölderlins zusammen lasen, mehrere Mal den Gedanken aussprach, daß ihm ein gleiches Schicksal bevorstehn könne. Worin lag die Unruhe dieser Erscheinung? War es, weil sich in dem Mysterium der Zeiten ein neues Ideal vorbereitete, dessen Nahen nur die auserwählten Naturen ahnten, dessen Erfüllung sie aber in der in Materialismus und Sinnlichkeit versunkenen Welt für unmöglich hielten? War es, weil die grob nüchterne Gegenwart ihnen ein unerträgliches Joch auf die zum höchsten Flug beschwingten Schultern legte? Glücklich sind diejenigen, die in solchen Augenblicken der Krisis im Leben der Menschheit, wie Columbus, eine materielle Welt zu entdecken finden! Sie halten ein positives Resultat in Händen, und ihr Sehnen findet einen Boden, in welchem neue Zukunftsträume sprossen können.

Die Tage, an denen ich Briefe von Theodor empfing, waren meine Festtage. Sie brachten mir Gedanken und den Hauch eines neuen Lebens. Er lebte in einem Kreis intelligenter Menschen, arbeitete mit Erfolg, und die Melancholie, die mich häufig an ihm beunruhigt hatte, schien verschwunden. Ich war zu glücklich für ihn über dies alles, um ihn zurückzuwünschen; aber ich wünschte mir Flügel, um auch in jene Sphäre der Freiheit zu entfliehn, deren ich bedurfte.

Die Ruhe unseres Lebens wurde durch ein verhängnisvolles Ereignis unterbrochen, das uns alle schwer traf. Es kam von der Seite eines Wesens, an dem niemand unter uns jemals gezweifelt hatte. Um ein schmerzliches Geheimnis zu bewahren, hätte mein Vater eine Summe bezahlen müssen, die das ihm zu Gebote Stehende bei weitem überstieg. Wir mußten eilig nach Frankfurt zurückkehren, wo mein Vater seit einiger Zeit, gleich dem Fürsten, ein bleibendes Asyl hatte. Eine tiefe Melancholie hatte sich infolge dieses Ereignisses meines Vaters bemächtigt, eine Melancholie, die um so betrübender war, als bis dahin das Alter die Heiterkeit seiner Natur noch nicht angegriffen hatte. Eines Tages nahte ich mich ihm, als er am Fenster stand und traurig auf den Fluß hinaussah. Ich versuchte einige Worte des Trostes; er hörte mich schweigend an, schüttelte den Kopf und sagte: »Dieser Schlag hat mich niedergeworfen, davon erhole ich mich nicht.«

Kurz darauf wurden wir nachts geweckt; er war plötzlich sehr krank geworden. Ich fühlte vom ersten Augenblick an, daß seine Prophezeiung in Erfüllung gehen würde. Nach einigen angstvollen Tagen erholte er sich jedoch wieder insoweit, um im Zimmer umhergehen zu können, meist auf eine von uns gestützt. Aber es war ersichtlich, daß das Prinzip des Lebens in ihm gebrochen und daß er nur noch der Schatten seiner selbst war. Mein einziger Trost war der, bei ihm zu sein; ich achtete mit Angst auf jeden Blick, jedes Wort, um sie im Herzen zu bewahren. Oft war ich allein mit ihm und hütete sorgfältig meine Worte, um ihn nicht an die Verschiedenheit der Ansichten zwischen uns zu erinnern. Ich sah, daß mein Dasein sich über das seine hinaus verlängern würde, und daß ich später um meine Unabhängigkeit würde zu kämpfen haben. Aber vor seinem erlöschenden Leben blieb nichts zwischen uns als das Band einer Liebe, die im Grund des Lebens selbst wurzelte. Eines Morgens, als ich ganz allein mit ihm war, ging er längere Zeit, auf meinen Arm gestützt, im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich an das offene Fenster, durch das eine milde Oktobersonne hereinsah. Er blickte lange, lange schweigend auf den Fluß und die jenseits liegende Herbstlandschaft, die jene sanften, melancholischen Färbungen angenommen hatte, in die die Natur sich kleidet, wenn sie sich zum langen Schlafe vorbereitet. Ich schwieg auch und beobachtete ihn mit tiefer Rührung. Deutlich las ich seine Gedanken auf seinem Antlitz. Er nahm Abschied von der Welt, in der sein reines, tugendhaftes Leben verflossen war. Er war Freimaurer gewesen, hatte die höchsten Grade des Ordens erreicht, und ich glaube, daß seine Lebensanschauungen eher human und sittlich waren, als orthodox christlich. Vor seiner Krankheit, als ich einmal mit ihm spazieren ging, fragte ich ihn, was er über die Gottheit Christi und die Bibel als Offenbarung dächte. Er antwortete, daß Christus ihm mehr als Ideal menschlicher Vollkommenheit, denn als Gottessohn nahe sei, und daß er die sittlichen Vorschriften der Bibel befolge, ob sie Offenbarungen seien oder nicht. Ein anderes Mal, als ich ihn abends am Fenster fand, in die sternenhelle Nacht hinausschauend, fragte ich ihn, an was er denke. Er erwiderte: »Ich bereite mich vor, eines Tages diese sterbliche Hülle abzulegen.«

Einfache, kurze Worte wie diese bezeichneten sein ganzes Wesen. Später, nach seinem Tod, fanden wir einen Anfang von Memoiren, die er leider nie beendet hatte. Er sagte darin, daß der Wunsch seiner Jugend gewesen sei, Landwirtschaft zu studieren und auf dem Lande zu leben. Ich verstand es, wie diese Bestimmung ihm viel gemäßer gewesen wäre, als die bewegte Laufbahn des Politikers und Staatsmannes.

Dennoch, obgleich der Gedanke an das nahende Ende ihn sichtlich beschäftigte, sprach er nicht davon, außer mit meinem ältesten Bruder, dem einzigen seiner Söhne, der anwesend war und dem er seine letzten Wünsche anvertraute.

Ach! was hätte ich nicht darum gegeben, daß er mir offenbart hätte, was in seiner Seele vorging; daß er mir erlaubt hätte, ihn auf diesem feierlichen Gang zum Eintritt in das Unbekannte zu begleiten; an seiner inneren Vorbereitung für diese große Stunde teilzunehmen, und ihm zu zeigen, daß mein Herz Schritt vor Schritt mit ihm ging, und mit ihm bis auf den letzten Tropfen den bitteren Kelch hätte trinken mögen, um ihm die Hälfte seiner Bitterkeit zu nehmen! Aber die sonderbare Schranke zwischen ihm und mir fiel selbst in diesen höchsten Augenblicken nicht, trotz der tiefsten Liebe von beiden Seiten. Ruhe hatte ich dennoch nur bei ihm, und oft versteckte ich mich in eine Ecke des Zimmers, wenn er sehr litt und, sich allein glaubend, dem physischen Schmerze Ausdruck gab. Ich hielt den Atem zurück, um meine Gegenwart nicht zu verraten, aber es war mir ein Trost, mit ihm im stillen zu leiden.

Die Weihnacht war herangekommen. Sein Leben war nur noch eine Frage von Tagen und Stunden. Durch eine sonderbare Fügung war der alte Fürst, dessen Geschicke er treu geteilt hatte, nach kurzer Krankheit gestorben, und die letzte Frage des alten Herrn war die nach der Gesundheit des bewährten Freundes gewesen. Man hatte meinem Vater dieses Ereignis verschwiegen, da man dem Sterbenden den Schmerz ersparen wollte, aber er hatte es wie durch Intuition erraten. Vielleicht fühlte er den Schlag weniger, weil seinem Geiste schon die ephemere Bedeutung der Erscheinung klar geworden war, oder weil er von dem nahen Wiedersehen träumte.

Zum erstenmal in unserem Leben hatten wir kein Weihnachtsfest. Doch hatte die Mutter es nicht lassen können, liebevoll, nach alter Sitte, einige Geschenke für uns zu bereiten. Wir empfingen sie innigst gerührt, denn ihm konnten wir nichts mehr geben. Er lag still in seinem Bett, meist im Halbschlaf, und flüsterte von Zeit zu Zeit einige sanfte Worte – ein Widerschein der Bilder, die vor seiner Seele schwebten, wie die leichten rosa Abendwolken noch ein zarter Abglanz der schon hinabgesunkenen Sonne sind. Was ich schon beim Tod meiner ältesten Schwester beobachtet hatte, bemerkte ich auch wieder hier, daß nämlich beim Herannahen des Todes, wenn alles, was künstlich am Menschen war, alles, was die Gewohnheiten des Lebens ihm aufgedrängt hatten, wenn die errungenen Eigenschaften, ja die Intelligenz selbst, sich auflösen und verschwinden, daß dann der wahre Charakter, der Grundton des Individuums, so wie es aus den Händen der Natur hervorging, ganz und unverfälscht wieder hervortritt. Der letzte Eindruck, der mir von diesen zwei geliebten Wesen, die ich sterben sah, blieb, war der der reinen Güte und einer Unschuld des Herzens, die keine Verderbtheit des Lebens hatte antasten können.

Die Freunde, in deren Haus wir den zweiten Stock bewohnten, zwangen uns fast, hinunterzukommen und ihrem Weihnachtsfest beizuwohnen. Sie taten alles Mögliche, um uns zu erheitern, mit jener falschen Ansicht von Sympathie, die eine tiefe Traurigkeit durch oberflächliche Zerstreuungen mildern will. Ich konnte aber den Lärm und das Lachen nicht länger als eine halbe Stunde ertragen. Ich schlich mich unbemerkt fort und stieg wieder zu dem matt erleuchteten Zimmer empor, in dem mein geliebter Vater, schon ohne mehr zu leiden, den sanften Vorschlummer des letzten Schlafes schlief. Da war mir schmerzlich wohl; ich setzte mich in eine Ecke und lauschte der großen Symphonie des Todes, die die fröhlichen Töne unten disharmonisch unterbrochen hatten. Für ihn war das Lebensrätsel gelöst. Mein Leben war im Gegenteil von seiner Wurzel losgerissen, und ich fühlte mich hinausgeworfen auf den weiten Ozean, um künftig mein Lebensschiff allein zu steuern und dem einzigen Stern, der mir durch schwere Wolken schien, meiner Überzeugung zu folgen.

An dem Abend nahm ich meinen eigentlichen Abschied von ihm. Er atmete noch drei Tage. Den vierten brachte ich ihm morgens eine Tasse Kaffee, den der Arzt erlaubt hatte. Er öffnete die Augen, sah mich lange an mit dem Blick des Reisenden, der, schon auf den endlosen Ozean eingeschifft, noch einmal nach den Ufern zurückschaut, wo ihm die Lebenssonne geleuchtet, und mich erkennend, sagte er: »Ah, du bist es, mein Schätzchen!« Ich brachte die Tasse an seine Lippen: er trank zum letztenmal, dann schloß er die Augen und blieb still. Ich setzte mich in ein anderes Zimmer, um an Theodor zu schreiben. Nach einer Stunde tiefer Stille öffnete man die Tür und winkte mir. Ich flog an sein Bett. Alles war zu Ende, er hatte aufgehört zu leben.

Dieses Mal fragte ich nicht mehr, und keine Stimme sagte mir: »Du wirst ihn wiedersehn.«

Nichts unterscheidet, glaube ich, die Menschen mehr, als ihre Art, den Schmerz zu tragen. Die Freude, das Glück öffnen gewöhnlich das Herz nach außen hin; sie teilen sich mit, und in ihren lauteren Tönen geht mancher Mißton unbemerkt vorüber. Aber der Schmerz macht eine Stille um uns, in der wir nur eine einzige, traurige und feierliche Melodie hören. So lange man dieses Requiem der Seele nicht stört, hat selbst der tiefste Schmerz seine Schönheit. Aber wenn das alltägliche Geräusch der äußeren Welt wieder anfängt, wird der Zauber gebrochen, und dann beginnt für gewisse Naturen das zerreißende, unerträgliche Leiden, während andere darin eine Erleichterung und Zerstreuung finden. Ich befand mich in dem ersten Fall. Mein ganzes Wesen war noch in dem konzentriert, der nicht mehr war. Jedes Wort, das mich in diesem Andenken störte, war mir qualvoll. Ich umgab ihn mit Lorbeer und Myrten, und ich sah ihn an, diesen stillen Mann, dem meine Liebe nun nichts mehr sein konnte, ohne mich von dem Anblick losreißen zu können. In diesen Augenblicken verstand ich erst ganz die Schönheit der Beschreibung von Mignons Begräbnis in Wilhelm Meister. Ja, wir sollten den Schluß der großen Lebenstragödie poetisch, feierlich verklären und dann an unsere tägliche Aufgabe zurückkehren, von »dem Ernst, dem heiligen, erfüllt, der allein das Leben zur Ewigkeit macht«.

Während der Krankheit meines Vaters, die mein Denken und Fühlen fast ausschließlich in Anspruch nahm, hatte ich doch auch andere Erlebnisse gehabt, die mich nicht wenig bewegt hatten. Ich hatte unter anderen den jüngsten meiner Brüder wiedergesehn, der gekommen war, den kranken Vater zu besuchen. Er war ein Mensch von außerordentlichen Eigenschaften, nahm einen hohen Staatsposten ein und war, seinen Grundsätzen nach, strenger Protestant und absoluter Monarchist. Er hatte etwas von der Richtung vernommen, die ich eingeschlagen, und er erriet noch mehr davon an dem Schweigen, das ich über alle bedenklichen Gegenstände beobachtete. Er war darüber gereizt und erzürnt und suchte, wie die andern, die Ursache davon in der Neigung zu einem Menschen »ohne Grundsätze«; denn wie wäre es sonst möglich gewesen, daß ein Mädchen meines Standes zu solchen Ideen gekommen wäre? Es war sein Wunsch gewesen, mich an einen seiner Freunde zu verheiraten, und auch in dieser Beziehung fand er sich getäuscht. Er suchte also die Gelegenheit, mit mir zu reden, und fand sie. Zunächst befragte er mich über meine religiösen Ideen. Ich antwortete ihm mit gänzlicher Offenheit. Er versuchte es, mich zu überzeugen, aber seine Argumente besagten nichts anderes, als was ich in meinen Kämpfen mir tausendmal selbst gesagt hatte, und was nun, längst als unhaltbar befunden, nicht wieder lebendig in mir werden konnte. Endlich schwieg er; er fühlte, daß ich zu weit gegangen sei, als daß er mich noch retten könne. Nach wenigen Tagen eilte er zurück zu seiner jungen, von ihm angebeteten Frau, die auch schwer krank war. Sie folgte auch in wenigen Wochen meinem Vater in das Grab nach. Ich fühlte tief den Schmerz meines Bruders mit und schrieb ihm einen Brief voll wahrer Liebe. Er antwortete mir nicht, schrieb aber meiner Schwester, er fühle, daß, so lange ich in dieser voltairianischen Geistesrichtung sei, er mir nichts zu sagen habe; er habe das auch einst durchgemacht und hoffe, ich werde zurückkommen, wie er zurückgekommen sei; bis dahin aber sei es besser, unsere Mitteilungen zu unterbrechen. Ich nahm dies an, da ich fand, daß er recht hatte; zwischen zwei entgegengesetzten Überzeugungen, stark und bewußt wie die unseren, gab es kein Bindungsmittel. Aber ich fühlte auch, daß diese Trennung ewig sein würde, denn meine Geistesrichtung war nicht voltairianisch und vorübergehend; sie war im Gegenteil die logische Konsequenz aller inneren Geisteskämpfe meiner Jugend, die Verwirklichung jenes Verlangens nach Freiheit des Gedankens als Grundlage aller Sittlichkeit.

Ein anderes Ereignis, das meine Gedanken viel beschäftigte, während der ersten Zeit der Krankheit meines Vaters, war der Sonderbundkrieg in der Schweiz, ein wahrer Prinzipienkrieg. Theodor schrieb mir darüber: »Dies ist ein menschlicher Krieg, von einem freien Volke für den Sieg der Freiheit geführt.« Der Arzt, der meinen Vater behandelte, war ein freisinniger Mann; er nahm warmen Anteil an dem Sieg der liberalen Partei. Mit ihm besprach ich meine politischen Ideen offener, als ich es bisher noch getan.

Eine Oase blieb mir in dieser ganzen Leidenszeit, auf der mich Frieden und reines Glück umgaben; das war meine Liebe zu Theodor und mein Vertrauen in die seine. Seine Briefe waren mein Trost; außer ihnen sandte er mir noch die Probeblätter, eines nach dem andern, eines neuen Buches, das er veröffentlichte. Er schrieb dabei: »Dir widme ich von neuem die ersten gedruckten Blätter dieses Buches, das dir so vollständig angehört, daß ich kaum noch weiß, was darin von dir oder mir ist.«

Ich fand wirklich darin auf jeder Seite die Spuren unseres gemeinsamen Lebens, unserer Unterhaltungen, des Austausches von Gefühlen und Gedanken, von allem, was uns so lange beglückt hatte. Zuerst war es mir schmerzlich, eine solche edle Intimität mit dem Publikum teilen zu müssen; aber ich bekämpfte dieses egoistische Gefühl. Der Dichter lebt zwei Leben, eins für sich, das andere für die Welt. Wehe der Frau, die das nicht versteht und eifersüchtig wird auf diese Teilung! Sie wird den Genius brechen oder ihr eigenes Herz!

Wenn ich diese Seiten oder seine Briefe las, sagte ich oft unwillkürlich zu mir selbst: »Laß mir dieses einzige Glück, o Schicksal, und ich werde stark sein in allen Prüfungen, die du mir auferlegst.«


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