Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Elftes Kapitel

Die große Welt

Vor unserer Abreise schrieb ich meinem unglücklichen Bruder ein letztes Abschiedswort, in das ich meine ganze Seele legte. Ich schrieb mit der leidenschaftlichen Wärme des Mitleids, das um jeden Preis retten möchte und sich allmächtig glaubt. Doch auch dieses war umsonst. Das Übel war zu mächtig geworden. Wir erhielten schlechte Nachrichten; ich fühlte mich außerstande, noch mehr zu tun und beschloß, meine Kraft nicht mehr für eine hoffnungslose Sache zu verwenden. Mein Bruder ging nach Amerika, wo er einige Zeit nachher starb.

Wir sahen den Rhein wieder und die schönen Landstriche des südlichen Deutschlands. Wir sahen den Vater und besuchten mit ihm alle Freunde an verschiedenen Orten. Endlich ließen wir uns in dem für die Mutter bezeichneten Badeort nieder, der mit der Wirksamkeit seiner Heilquellen die Schönheit der Umgebungen und die Eleganz einer Stadt verband. Da sollte ich endlich die sogenannte »große Welt«, die vornehme Gesellschaft kennen lernen, die dort aus allen Teilen der zivilisierten Welt zusammenströmte. Seit längerer Zeit hatte ich den großen Wunsch, mich dieser Gesellschaft zu nähern, von der ich mir ein sehr schönes Bild entworfen hatte. Es schien mir, als müsse die Berührung mit ihr meine Erziehung vollenden und mir die Freiheit des Geistes und des Benehmens geben, nach der ich seufzte. Die Gesellschaft unserer kleinen Residenz genügte mir nicht mehr. Ich hatte ein unbestimmtes Verlangen nach einer weiteren Sphäre. Einer sehr geistvollen Französin, die eine zeitlang Erzieherin der Prinzessinnen gewesen war, hatte ich einmal von diesem Verlangen gesprochen. Sie kannte die Pariser »große Welt« und antwortete mir darauf: »Fragen Sie die Sonne, die Sterne, den Frühling, die Blumen um das, was Ihnen fehlt; die ›große Welt‹ kann es Sie nicht lehren.«

Die Lehrer kannte ich sehr wohl! Sie waren die Vertrauten meiner geheimsten Gedanken; sie flüsterten mir Offenbarungen zu; ich hatte immer mit ihnen ein besonderes Leben geführt, von dem niemand etwas wußte. Aber ich hatte noch etwas anderes nötig: ein weiteres Feld des Denkens, eine größere Freiheit, und ich bildete mir ein, daß ich das in einer gebildeteren, verfeinerteren Gesellschaft, die von wichtigen und vielseitigen Interessen bewegt sei, so wie ich mir die Gesellschaft großer Städte dachte, finden würde.

Wir waren auch in kurzer Zeit von einer Menge neuer Bekanntschaften umgeben, von denen immer eine die andere nach sich zog. Glänzende Bälle wurden im Kursaal gegeben, in den das Spiel und das Vergnügen eine, äußerlich wenigstens, bei weitem elegantere und feinere Gesellschaft zog als die, die ich bisher gesehen hatte. In der Menge bildeten sich für uns auch ganz natürlich engere Beziehungen. Eine russische Gräfin mit ihrer Tochter wohnte mit uns in demselben Hotel, und wir wurden bald mit ihr näher bekannt. Die Mutter war eine treffliche Frau, sanft und liebenswürdig. Die Tochter war erst vierzehn Jahr alt, ganz das Gegenteil der Mutter, ein wildes Kosakenmädel, voller Launen, keck und ohne Disziplin. Sie schloß sich uns rasch so sehr an, daß sie zu allen Tageszeiten, in jedem möglichen Anzug, aufgefordert oder nicht, bei uns eintrat. Oft erschien sie schon um sechs Uhr morgens mit aufgelöstem Haar, im tiefsten Negligé, einen Teller mit Erdbeeren und frischer Milch in der Hand, um dies, ihr Frühstück, bei uns zu verzehren. Dann warf sie alles durcheinander, seufzte über ihre Jugend, die ihr noch nicht erlaube, auf Bälle zu gehen, und verwünschte alles Lernen. Doch hatte sie trotz dieser wenig angenehmen Manieren etwas Originelles, Offenes und Großmütiges. Diese Eigenschaften und die Achtung und Freundschaft, die wir für die Mutter hatten, machten uns duldsam gegen die kleine Wilde. Bei dieser russischen Dame machten wir die Bekanntschaft eines ihrer Landsleute, eines russischen Diplomaten, eines Mannes von einigen dreißig Jahren mit einem edlen, interessanten Äußeren. Er ging an Krücken infolge eines Rheumatismus, den er sich durch eine großmütige Handlung zugezogen hatte. Das Schiff, mit dem er von Petersburg nach Deutschland zu einer Vergnügungsreise kam, hatte angefangen zu brennen, und er war in das Meer gesprungen, um zwei Personen das Leben zu retten. Die Gräfin, die ihn schon in Rußland gekannt hatte, sprach von ihm mit Bewunderung. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an unter dem Zauber seiner geistvollen Unterhaltung und war sogleich überzeugt, daß ich das Vergnügen seiner Gesellschaft jedem andern Vergnügen vorziehen würde. Er nahm wegen seiner Gesundheit nie an den großen öffentlichen Festlichkeiten teil, aber er wohnte in demselben Hause wie wir, und so sahen wir ihn oft. Einmal nahm er doch auf unsere Bitten eine Einladung zu einem ländlichen Fest an, das eine reiche Kreolin, eine liebenswürdige Dame unserer Bekanntschaft, gab. Dieses Fest fand auf einem Hügel statt, von dem aus man weit hinaus ein reiches, blühendes Land übersah. Die Gesellschaft bestand aus Personen der verschiedensten Nationalitäten. Ich setzte mich unter ein Zelt, das unsere Wirtin hatte aufschlagen lassen, um in Ruhe mich an der schönen Aussicht zu erfreuen. Die Sonne breitete ihren Zauber über die reiche Landschaft. Um mich her ertönte fröhliches Geplauder in allen möglichen lebenden Sprachen. Alles atmete Jugend, Schönheit, Glück. Mein Blick haftete an einem leuchtenden Punkt am Horizont; ein neues unaussprechliches Gefühl erfüllte mein Herz und eine Träne höchster innerer Verklärung trat in mein Auge.

Plötzlich, wie von einem magnetischen Zug bewegt, wandte ich meinen Blick zur Seite und sah zwei dunkle Augen, die forschend und teilnahmsvoll auf mir ruhten. Es war unser neuer Freund, der sich leise neben mich gesetzt hatte. Nun wurde es mir mit einemmal klar, warum ich mich so glücklich gefühlt hatte: ich liebte! Rahel sagt: »Die Liebe ist Überzeugung!« Ich war überzeugt. Er erschien mir ein vollkommener Mensch. Nicht allein, daß er den Geist hatte, der sich nie erschöpft, und die Grazie des Geistes, die immer entzückt – er besaß zugleich die Harmonie und Feinheit des Benehmens, die der Reflex der schönen Seelen sind. Ich hatte das Ansehn eines Kindes, viel jünger als ich war, und ich empfand in seiner Gegenwart die unüberwindliche Schüchternheit, die so viele gute Stunden meines Lebens verdorben hat. Aber dessenungeachtet fühlte ich, daß auch er ein mehr als gewöhnliches Interesse an mir nahm und meine Nähe suchte. Da er nicht viel gehen konnte, schlug er oft kleine Ausflüge zu Esel in die reizende Umgegend vor, an denen meine Schwester, ich, die wilde kleine Katharine und er die einzigen Teilnehmer waren. Wir durchstreiften so das schöne Land und machten Halt auf grünen Hügeln mit weiter Fernsicht, oder in blühenden Tälern, mit allem Reiz der Einsamkeit geschmückt. Wir ruhten dann auf dem Rasen aus, und er sprach zu uns über Geschichte, über Poesie, über seine Reisen. Ich hörte ihm mit meiner ganzen Seele zu und genoß in tiefen Zügen den für mich neuen Reiz eines solchen Gesprächs. Aber jene peinliche Schüchternheit hielt mich ab, frei zu sagen, was ich fühlte und dachte. Erriet er, was in dem Herzen des stummen jungen Mädchens an seiner Seite vorging, die die unbefangene Keckheit der wilden jungen Russin beneidete, die von allerlei Unsinn schwatzte ohne Scheu? Ich weiß es nicht, aber er war sehr sanft und liebevoll mit mir. Unglücklicherweise kamen dann ältere Bekannte von ihm an, die ihn fast gänzlich in Beschlag nahmen, so daß ich ihn viel seltener sah.

Währenddem hatte sich die Zahl unserer Bekanntschaften immer noch vermehrt, und wir wurden in einen wahren Strudel von Festlichkeiten hineingezogen. Unter diesen Bekanntschaften war eine andere russische vornehme Dame, eine Witwe mit drei Kindern. Sie kam ihrer Gesundheit und des Vergnügens wegen her. Der Zufall wollte, daß auch sie in dem Hotel einkehrte, wo die russische Gräfin, unser Freund und wir wohnten. Unser Freund hatte sie schon in Petersburg gekannt, unsere Bekanntschaft mit ihr wurde durch ihn vermittelt, und bald hatten wir sie so oft bei uns, wie die wilde Tochter der Gräfin. Sie war einige dreißig Jahre alt und nicht schön, aber trotzdem war es noch immer die große Beschäftigung ihres Lebens: zu gefallen. Sie sagte selbst, indem sie von den Petersburger Damen sprach: »Wir werden erzogen, um zu gefallen.« Sie hatte ein gutes Herz und ein einnehmendes Wesen, deshalb mußte man ihr gut sein, trotz allem, was man an ihr tadelte. Sie bezeugte meiner Mutter und uns Schwestern eine gleich große Zärtlichkeit, und bald kannten wir ihre ganzen Verhältnisse und ihren geheimen Kummer. Sie hatte eine Leidenschaft für einen jungen Polen, einen der Löwen der Badegesellschaft, einen Menschen von seltener Schönheit, aber einen völligen Taugenichts. Blasiert in allen Dingen, Spieler, eitel und oberflächlich, wußte dieser Mensch tolle Leidenschaften einzuflößen, die er während der Dauer des Romans ausbeutete. Dasjenige seiner Opfer, das am meisten zu beklagen war, war seine eigene Frau, denn er war verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Die Frau war eine große Schönheit gewesen und hatte ihm, der politisch kompromittiert war, die großmütigsten Opfer gebracht. Jetzt war sie von Sorgen vor der Zeit verblüht. Ihr großes Vermögen hatte er durchgebracht, und sie waren oft in äußerster Armut. Er verriet sie unaufhörlich, aber sein Herz war nicht bei seiner Untreue beteiligt, denn er liebte niemand; er mißhandelte seine Frau und rächte an ihr seine Verluste beim Spiel; ja er ließ seine üble Laune dann sogar an seinem Kinde aus. Dies arme, kleine, kränkliche Wesen konnte man auch nur mit tiefem Mitleid betrachten. Trotzdem liebte seine Frau ihn mit einer so leidenschaftlichen Hingebung, daß sie stets noch Entschuldigungen für ihn fand, nur von seinen Blicken lebte und von Glück strahlte, wenn er ihr einmal vor den Augen einer Rivalin einige Aufmerksamkeiten erwies. War das bewunderungswürdig oder abscheulich? Mein Gefühl neigte zu der letzteren Entscheidung, und mein Mitleid war immer mit einem geheimen Zorn gemischt, wenn ich sie abends, in den Salons des Kurhauses, in einem alten, verblichenen Putz, der ihre Armut nur noch sichtbarer machte, mit Augen, rot vom Weinen, den Mann verfolgen sah, der sie öffentlich beleidigte, indem er anderen Frauen den Hof machte. Die Prinzeß (eben jene Witwe) war ihm, wahrscheinlich wegen ihres Vermögens, als eine wünschenswerte Eroberung erschienen. Es gelang ihm in kurzer Zeit, ihr eine heftige Leidenschaft einzuflößen. Die beiden Frauen, Rivalinnen in diesem Drama, kamen nun sehr oft, Trost und Rat bei meiner Mutter zu holen, und so ward ich zum erstenmal Zeugin einer dieser traurigen Komödien, deren Theater die sogenannte »große Welt« ist. Eines Abends waren wir in einem Wagen mit der Prinzeß zu einem Ball im Kursaal gefahren. Der Pole quälte diese den ganzen Abend mit Anfällen geheuchelter Eifersucht. Er machte ihr Szenen, die jedermann auffallen mußten. Dies war auch sein Zweck; er wollte sie kompromittieren, um sie zu beherrschen. Die Prinzeß schwankte zwischen ihrer Leidenschaft und der Furcht vor dem allgemeinen Tadel. Endlich, bis zum äußersten gequält und gemartert, entschloß sie sich, zu gehen. Wir versprachen, mit ihr zu fahren und den Rest des Abends mit ihr zuzubringen. Kaum hatten wir uns entfernt, als der Wagen angehalten und der Schlag aufgerissen wurde; der Pole sprang auf den Wagentritt, umfaßte die Kniee der Prinzessin und schwur mit den leidenschaftlichsten Ausdrücken, daß er diese Stellung nicht eher verändern würde, bis der Friede zwischen ihnen geschlossen sei und sie ihr Unrecht gegen ihn gut gemacht haben würde. Die Prinzessin schrie laut auf vor Furcht. Ich war außer mir vor Empörung und befahl dem Kutscher, im Galopp von dannen zu fahren. Der Pole mußte herabspringen und konnte uns nicht folgen. Die Prinzessin war in Verzweiflung. Zu Hause angelangt, verließ ich sie ohne Lebewohl und erklärte, daß keine Macht der Erde mich wieder dazu bringen werde, mit ihr auszugehen.

Die Geschichte verbreitete sich natürlich. Unser russischer Freund kam zu uns, um nach den Einzelheiten zu fragen. Er verachtete den Polen und lächelte voll Güte über meine Empörung. Dann ging er, um der Prinzessin ernste Vorstellungen zu machen, denn sie hatte eine große Achtung für ihn. Ich ging während mehrerer Tage nicht zu ihr; dann aber kam sie und bat in so herzlicher Weise, zu einer kleinen Gesellschaft zu ihr zu kommen, von der der Pole ausgeschlossen war, daß wir es ihr nicht abschlagen konnten. Dieses Abenteuer vollendete meine Enttäuschung über die Vorzüge der »großen Welt«. – »Das ist also die Gesellschaft, von der ich mir so viel Vorteile für meine geistige Entwicklung versprochen hatte?« dachte ich. Ich flüchtete mich dann desto öfter wieder zu meiner ernsten russischen Freundin, der Mutter der kleinen Wilden, wo ich sicher war, eine Unterhaltung voller Reiz zu finden, und wo ich zuweilen dem begegnete, der mir allein das Ideal verwirklichte, das ich mir von der vornehmen Gesellschaft gemacht hatte.

Er verließ uns, um eine Reise von mehreren Wochen im südlichen Deutschland zu machen und zu versuchen, ob seine Kräfte wieder hergestellt seien und er seine Kur als beendigt ansehen könne. Nach seiner Abreise verlor die Gesellschaft den letzten Reiz für mich, die Bälle langweilten mich. Ich hatte nur einen sehnsüchtigen Wunsch: den, ihn noch einmal zu sehen. Eines Tages wurde dieser Wunsch so mächtig, daß ich ein heißes Gebet zu Gott sandte, ihn noch einmal sehen zu dürfen. Das Gebet war eigentlich die einzige religiöse Praxis, die mir noch geblieben war, und auch dazu flüchtete ich mich nur unter dem Eindruck einer starken inneren Bewegung. Durch ein sonderbares Zusammentreffen kehrte er an demselben Tag in das Haus zurück, in dieselben Zimmer über den unseren, die er schon früher inne gehabt hatte. Ich erfuhr es nicht, aber als wir am Abend unter den Orangenbäumen vor dem Kursaal mit anderen Bekannten saßen, erschien er plötzlich, kam auf uns zu und setzte sich neben mich. Man fragte ihn über seine Reise und ob er jetzt in sein früheres Logis zurückgekehrt sei. Er bejahte das letztere und setzte leise, nur mir vernehmlich, hinzu: »Wenn ich da nicht hätte sein können, wäre ich gar nicht zurückgekommen.«

Einige Wochen nachher schied er für immer, um einen neuen Gesandtschaftsposten in fernem Lande anzutreten. Am Abend vor seiner Abreise waren wir im Salon der Prinzessin zusammen. Er blieb den ganzen Abend neben mir sitzen, und zum erstenmal fühlte ich mich ganz frei mit ihm. Im Angesicht der Gefahr habe ich immer den Mut gefunden: so war auch hier, im Augenblick der Trennung, meine gewöhnliche Zurückhaltung verschwunden. Diese letzten Augenblicke mußten mein sein, und sie waren es vollständig. Wir verließen den Salon der Prinzessin zusammen. An unserer Tür nahm er einen herzlichen Abschied von meiner Mutter und Schwester, darauf reichte er mir die Hand, hielt sie einen Augenblick und sah mich mit einem Blick voll tiefer Empfindung an; dann ging er, ohne mir ein Wort zu sagen.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Vor Tagesanbruch hörte ich seinen Schritt über uns und hörte ihn die Treppe hinunterkommen. Ich glitt leise aus dem Bett, um Mutter und Schwester nicht zu wecken, hüllte mich in einen Mantel und eilte an das Fenster des Wohnzimmers. Ich sah ihn durch den Hof gehen dem Tor zu, wo der Wagen ihn erwartete. Plötzlich wandte er den Kopf um und sah nach unseren Fenstern. Ich zog mich mit Blitzesschnelle zurück. Als ich wieder hinaussah, war er verschwunden. Warum hatte er zurückgesehen? Ja, er wußte es, daß er ein tiefes Weh hinter sich ließ.

Nach seiner Abreise sprach mir die russische Gräfin, seine und meine Freundin, von ihm mit einer unendlichen Bewunderung und Achtung. Sie fügte wie absichtlich hinzu, daß er nicht in einer Lage sei, die ihm gestatte, sich zu verheiraten, außer mit einer reichen Frau, daß er aber ein zu großer Ehrenmann sei, um eine Frau nur des Geldes wegen zu heiraten. Nach einigen Tagen sah ich einen Brief meines Vaters an meine Mutter offen auf dem Tisch liegen. Da meine Mutter sie mir meist zu lesen gab, so nahm ich auch diesen auf und las gerade eine Stelle, die sich auf mich bezog. Mein Vater schrieb: »So hat das arme Kind ihn auch kennen lernen, den großen Schmerz – möge Gott sie trösten!«

Meine Mutter hatte mich also erraten und hatte meinem Vater darüber geschrieben. Gegen mich jedoch schwieg sie, weil auch ich schwieg. Niemals wurde der Name des Geschiedenen mehr zwischen uns genannt. Ich wußte meiner Mutter Dank für diese Zartheit. Man kann an solche Geheimnisse des Herzens kaum rühren, ohne sie zu vulgarisieren, ohne ihnen die Poesie zu nehmen, die ihnen auch im Schmerz noch eine tröstende Kraft gibt. Dieser Sommernachtstraum ist rein und unverletzt in meiner Erinnerung geblieben, und die sanfte Rührung, die von solchen Erinnerungen ausströmt und das Herz noch am Rand des Grabes seltsam leise bewegt, scheint wie das Pfand von etwas Unsterblichem, das den Zerstörungen der Zeit widersteht.


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