Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Zwanzigstes Kapitel

Lösungen

Die gewohnte Tätigkeit nahm wieder ihren Gang. Trotz der tiefen Nebenbeschäftigung meiner Gedanken widmete ich mich mit Eifer meinen Pflichten, und besonders waren es die Vorlesungen und die Gespräche mit meinem liebsten Professor, dem Naturalisten, die für mich von der größten Bedeutung wurden. Sie ließen mich immer mehr begreifen, welche Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft vorgehen werden, wenn man einmal die positiven Bedingungen festgestellt haben wird, nach denen das Leben der Völker sich gebildet hat, nach denen die Staaten, die gesellschaftlichen Beziehungen, die religiösen Ideen, der Handel, die Industrie, die Wissenschaften und Künste sich entwickelt haben; wenn vor allem die Physiologie, indem sie die Bedingungen der Existenz des menschlichen Organismus aufklärt, unfehlbare Grundlagen für eine neue und vernunftgemäße Psychologie gegeben haben wird. Ich erkannte immer deutlicher, aus allen Verhältnissen heraus, die Kette von Ursache und Wirkung, die das ganze Dasein ausmacht und durch die sich endlich die lange Antinomie von Geist und Natur, von freiem Willen und der von innerer oder äußerer Notwendigkeit bedingten Handlung löst. Ich sah zugleich, daß, wenn die absolute Freiheit hierdurch verneint wird, doch die moralische Verantwortlichkeit des Menschen nicht dadurch aufgehoben wird, denn wenn jede Tat die Folge vorhergehender Ursachen ist, so wird sie zugleich Ursache einer Kette von Wirkungen und verbindet den Menschen mit diesem großen Gewebe der Existenz, dessen Faden niemals abreißt. Einmal den Satz festgestellt, daß eine jede Handlung sich notwendig nach den überwiegenden Motiven bestimmt, so legt uns dies die doppelte Pflicht auf, die Motive zu fliehen, die uns zum Bösen bestimmen können, und diejenigen in uns zu stärken, die bestimmende Ursache des Guten werden, sei es für uns selbst oder für die, die wir erziehen. Denn wenn es keine Freiheit des Willens gibt, so gibt es auch andererseits keinen unmittelbaren Gehorsam gegen die bestimmenden Motive, sondern dieser bereitet sich meistenteils sehr allmählich vor. Der bewußte Mensch ist also verantwortlich für diejenigen Motive, durch die er oder die, die er zu leiten hat, bestimmt werden. Diese Verantwortlichkeit ist es, die wir seine Freiheit nennen, oder mit anderen Worten: seine Fähigkeit, in seinem Leben die Motive überwiegend zu machen, die ihn zum Guten bestimmen. In diesem Sinn ist auch die Gesellschaft verantwortlich dafür, daß sie in ihrem Schoße die Motive geltend macht, die zum Guten führen. Eine aufgeklärte Justiz sollte daher immer erst fragen, inwieweit die Gesellschaft vielleicht selbst an dem begangnen Verbrechen Schuld hat, inwieweit nämlich sie es unterließ, den Schuldigen mit den Motiven zu umgeben, die zum Guten reizen und so das Verbrechen verhüten. Erst danach sollte sie richten, entschuldigen oder strafen.

Es fingen schwere Sorgen an auf uns zu liegen, wegen des materiellen Bestands der Hochschule. Es war klar, daß man uns, durch allerlei Machinationen, die Subsidien von außen abschnitt. Ein Teil der Geber in der Stadt wurde nach und nach kälter gegen das Institut; das waren die schwachen Charaktere, die vor Drohungen erschraken oder Einflüsterungen Gehör gaben. Die intime Verbindung der Hochschule mit der freien Gemeinde gab den Pfaffen (die wütend waren, weil ihre Kirchen leer blieben, während der Gemeindesaal die Zahl der Zuhörer nicht fassen konnte) einen Vorwand, um die Anstalt anzugreifen und ihr die Sympathien derer, die nicht offen mit Gott brechen wollten, abwendig zu machen. Emilie und ich hatten lange, traurige Beratungen miteinander. Man warf uns vor, zu radikal gewesen zu sein, unsere Grundsätze zu offen bekannt zu haben; aber wir bedauerten es nicht, klar ausgesprochen zu haben, was wir wollten. Wenn die Zeit noch nicht reif war für die Verwirklichung unserer Ideen, so war es besser, ihre Erfüllung der Zukunft zu überlassen, als ein Kompromiß mit der alten Welt zu machen. Es gibt Naturen, die am Fortschritt der Gesellschaft arbeiten können, indem sie alle Vorurteile schonen, die Sachen nur halb beim Namen nennen, und ein wenig nachgeben, um ein wenig zu erlangen. Diese übrigens ganz ehrlichen Naturen tun ihre Arbeit, und sie hat ihren Nutzen. Aber es gibt andere, die von der unwiderstehlichen Logik der Grundsätze vorwärts getrieben, sich bestimmt aussprechen müssen. Wenn es ihnen auch nicht gelingt, ihr Ideal zu verwirklichen, so erringen sie doch für dieses die energischen Sympathien, und zum wenigsten sind sie selbst ein lebender Protest gegen die versteinerten Formen, die den lebendigen Geist nicht mehr enthalten. Unsere ausgezeichnetsten Lehrer stimmten mit uns überein, obgleich auch sie mit unendlicher Trauer an die Notwendigkeit dachten, das Institut schließen zu müssen.

Eines Abends ging ich allein am Rand des großen seeähnlichen Bassins spazieren, das der Fluß bei Hamburg bildet. Es war in den ersten Tagen des April; der Frühling war kaum erschienen; die Luft hatte jenes Gemisch von sanfter Lieblichkeit und erfrischender Schärfe, die das Charakteristische nordischer Frühlinge ist; das erste Grün war kaum heraus und man atmete den Geruch der feuchten, frischen Erde, die sich erst vom letzten Schnee befreit hatte. Die Sonne war untergegangen und der Himmel von einem blassen, durchsichtigen Blau, bedeckte sich mit zarten, rosa Wolkenstreifen, ferner Abglanz eines großen, verschwundenen Lichts. Mein Herz, von jeher den Einflüssen der Natur unterworfen, war es an dem Abend mehr als gewöhnlich. Alles, was auf meinem Leben lastete, alle traurigen Enttäuschungen, die meiner noch warten mochten, zogen an meinem Geist vorüber. Der Gedanke an den Sterbenden lag besonders schwer auf mir. Ich wußte, daß jetzt auch keine Hoffnung mehr war, daß er wenigstens das Hospital werde verlassen können, und er wußte es selbst. In einem seiner Briefe hatte er mir geschrieben, daß er abermals einige schwere Leidenstage durchgemacht habe, und hatte hinzugefügt: »Einziger Trost, daß niemand von denen, die mich lieben, dabei war, um mit mir zu leiden.« Ich hatte ihm darauf einen Vorwurf gemacht über diese Art, die Sache anzusehen, und hatte ihn sogar gebeten, seine reiche Freundin zu sich zu rufen, die unabhängig war zu tun, was sie wollte, und keine Pflicht zu versäumen hatte. Ihr Name war nie zwischen uns genannt worden, obgleich ich sehr wohl wußte, welche nahe Beziehungen zwischen ihnen bestanden. Jetzt, wo das Mitleid auch die letzte Spur von Egoismus in mir getötet hatte, wünschte ich selbst sehnlich, daß sie zu ihm gehen möge, damit ein liebendes Wesen ihm nahe sei. Ich schrieb ihm nun auch offen von der Möglichkeit des Todes und erinnerte ihn an alles, was er für sich und andere gewesen, an den Reichtum von innerem Leben, den die Natur ihm gegönnt, das Doppelte von dem, was sie anderen gewährt. Er dankte mir in seiner Antwort dafür, daß ich ihn daran erinnert hätte, was er anderen einst gewesen, »denn«, fügte er hinzu, »ich bin nur noch ein Schatten davon, und bald werde ich auch aufhören, das zu sein.«

Auf jenem Spaziergang nun, von dem ich sprach, nahm ich mir vor, daß, wenn die Hochschule geschlossen werden müßte, ich nach Gotha übersiedeln und da entweder eine kleine Schule eröffnen oder Privatstunden geben wolle, um, so lange Theodor lebe, in seiner Nähe zu sein und ihm nützlich sein zu können. Ich war so versenkt gewesen in meine Gedanken, daß die Nacht mich überraschte und daß ich Anna über mein Ausbleiben beunruhigt fand. Die alte Freundschaft zwischen uns hatte sich ganz wieder hergestellt. Sie hatte begriffen, daß eine Liebe wie die meine erhaben ist über jeden Zweifel, über jede falsche Deutung, und sie billigte jetzt alles, was ich tat. Ich teilte ihr meinen Plan mit, sie fand ihn natürlich und recht.

Am folgenden Morgen war Prüfung in der Gemeindeschule. Ich fand mich zu rechter Zeit dazu ein, und alle dazu Gehörigen waren versammelt, nur der erste Lehrer, der »Demokrat«, fehlte, er, der sonst die Pünktlichkeit selbst war. Endlich kam er, aber ich sah an seinem gewöhnlich ruhigen, ernsten Gesicht, daß ihn etwas Besonderes betroffen haben müsse. Das Interesse, das ich an der Schule nahm, zog jedoch meine Aufmerksamkeit nach dieser Seite hin ab, und ich war voll Freude über die schönen Erfolge, die die Prüfung uns sehen ließ.

In einer Pause bat der »Demokrat« mich, mit ihm in sein Arbeitszimmer zu kommen, da er mir etwas mitzuteilen habe. Als wir allein waren, wandte er sich zu mir mit sichtlicher Bewegung und sagte zögernd: »Ich habe heute morgen einen Brief von meinem Bruder erhalten« – – (ich wußte, daß sein Bruder seit einiger Zeit in Gotha war und Theodor zuweilen besuchte). – »Tot?« unterbrach ich ihn, da ich sogleich die Wahrheit erriet. Er bejahte stumm. Wir schwiegen beide. Er hatte Tränen in den Augen. Ich weinte nicht. Das Nichts war um mich her; das absolute Schweigen, die Öde ohne Ende. Dann wollte er mir Einzelheiten berichten. »Heute abend!« sagte ich und reichte ihm die Hand. Ich nahm gewohnheitsmäßig den Weg nach Hause; bei der Hochschule begegnete ich Emilien und sagte ihr leise: »Theodor ist tot.« Sie war bestürzt, sie hatte ihn sehr lieb gehabt. Ich konnte aber auch mit ihr nicht sprechen; ich ging in mein Zimmer, um zu warten, bis das Gefühl des Lebens und der Pflicht mir zurückkehren würde. Am Abend erfuhr ich durch den »Demokraten«, daß bis zum Tag des Todes kein besonderes Anzeichen eines nahen Endes dagewesen sei, daß aber am Morgen dieses Tages Theodor gesagt hätte: »Wenn der Arzt mir heute nicht hilft, so ist dies mein letzter Tag.« Der Arzt war gekommen, hatte aber gar keinen Grund zu unmittelbarer Besorgnis gefunden. Zur Zeit des Sonnenuntergangs hatte er die alte Wärterin gebeten, ihm zu helfen, sich in den Lehnstuhl zu setzen, den ich ihm geschenkt hatte, und ihn dem Fenster zuzuwenden. Er hatte unverwandt in das sterbende Tageslicht geschaut und war mit ihm dahingegangen, sanft ohne Kampf. Die gute Alte hatte ihm die Augen zugedrückt und ihn wie einen Sohn beweint. »Er ist ein so gerechter Mensch,« hatte sie mir von ihm gesagt, als ich in Gotha war. Am folgenden Tag erhielt ich vom Inspektor des Hospitals, dem ich meine Adresse gelassen hatte, die Anzeige. Äußerlich ertrug ich den Schlag mit Fassung, aber im Innern war mir alles verändert, trotzdem ich so vollständig vorbereitet gewesen war. Jetzt erst stand ich der vollendeten Tatsache gegenüber. Die schöne Individualität, begabt mit allem, was Menschen unwiderstehlich anziehend macht, fähig, das Größte, das Schönste zu vollbringen, war dahin; die Augen, deren Licht mir einst die Welt verklärt hatte, waren geschlossen für ewig. Der brennendste Schmerz war der, nicht bei ihm gewesen zu sein in der letzten Stunde; ihn nicht begleitet zu haben bis an die geheimnisvolle Schwelle, nicht seinen letzten Gedanken, seinen letzten Seufzer, als ewiges Vermächtnis empfangen zu haben. Ich warf es mir vor, nicht wieder hingegangen zu sein, wie das erste Mal, denn er, der niemand Zeuge seiner Leiden sein lassen wollte, hatte niemand gerufen. Nun war es zu spät; es war vorbei, vorbei!

Ich war wie tot für jeden persönlichen Anspruch. Ich lebte nur noch für die Arbeit. Noch mehr als früher verband ich mich mit der arbeitenden Klasse. Es schien mir immer klarer, daß die Zukunft in ihr ruhe; die bloß politische Revolution war mir gleichgültig geworden. Ich hatte mich überzeugt, daß sie stets mißglücken werde, so lange das Volk Sklave des Kapitals und der Unwissenheit bleibe. Ich versammelte öfter eine Anzahl der gebildetsten Arbeiter, dem Tischler ähnlich, von dem ich früher gesprochen habe, bei mir. Wir besprachen die eben angedeuteten Ideen und waren darüber ganz einverstanden. Die Handwerkervereine, die sich seit dem Jahre Achtundvierzig rasch in Deutschland entwickelt hatten, lieferten einen Beweis, wie viel sich mit geringen Mitteln durch freie Assoziation geistig und moralisch Gutes schaffen ließe. Der Verein in Hamburg hatte nicht nur ein schönes Lokal, eine bedeutende Bibliothek, eine Hilfskasse, wo auch der reisende Handwerker im Notfall eine Unterstützung fand, sondern es wurde daselbst, durch wissenschaftlichen und künstlerischen Unterricht, ein solcher Grad der Bildung angebahnt, daß man sich mit Freude bei den Festen fand, die zuweilen dort gegeben und zu denen Gesinnungsgenossen eingeladen wurden. Die Statistik dieser Vereine bewies, wie sehr die Moralität durch die Bildung befördert worden. Die Kneipen blieben leer, und die Arbeiter zogen es vor, ihre Abende für ihre Belehrung zu verwenden, anstatt ihren Lohn zu vertrinken. Wer hätte es glauben sollen? – gegen diese wohltätigen Vereine, aus dem Bedürfnis des Volks selbst hervorgegangen, die vom Staat keine Hilfe verlangten, die ihn nicht anderswie berührten, als daß sie ihm gebildetere und sittlichere Untertanen gaben – gegen diese gerade wandte sich die Reaktion mit bitterer Verfolgung. Der erste Minister des ersten deutschen Staats hatte von ihnen gesagt, daß sie »die Eiterbeulen« der Gesellschaft seien. Man fing an, sie überall aufzulösen. In Hamburg unter der »mütterlichen« Regierung existierte der Verein noch, aber er durfte sich auch der baldigen Auflösung gewärtigen. Wir beschlossen also in unseren Verhandlungen mit den Arbeitern, im geheimen an dem Bund der Arbeit und des gemeinsamen Interesses fortzuarbeiten, wenn man es öffentlich nicht mehr könne. Es war dabei keine Rede von politischer Revolution. Es handelte sich nur darum, das Volk durch die Gemeinsamkeit der Interessen, durch gegenseitige Hilfe usw. so zu verbinden, daß es gegen das Elend geschützt und vorbereitet sein würde, besseren Tagen würdig entgegen zu gehen.

Inzwischen machten sich auch die Wirkungen der geheimen Umtriebe gegen die Hochschule immer fühlbarer. Wir sahen ein, daß es unmöglich werden würde, sie zu erhalten. Wir wollten keine Konzessionen machen, nicht um Hilfe betteln, denn wir hätten lügen müssen, um sie zu bekommen. Wir beschlossen also, freiwillig zu enden, in der höchsten Blüte unserer moralischen Erfolge – um zu beweisen, daß die Schließung der Schule nicht die Folge eines falschen Prinzips, sondern der ungenügenden materiellen Mittel sei.

Die Erfahrung war jedenfalls gemacht, das Resultat war vollkommen. Jetzt bedurfte es der Zeit, um den Samen zu reifen. Der Gedanke, die Frau zur völligen Freiheit der geistigen Entwicklung, zur ökonomischen Unabhängigkeit und zum Besitz aller bürgerlichen Rechte zu führen, war in die Bahn zur Verwirklichung getreten; dieser Gedanke konnte nicht wieder sterben. Wir zweifelten nicht, daß viele von denen, die seine erste Inkarnation in unserer Hochschule gesehen hatten, noch seinen völligen Triumph sehen würden, wenn nicht in Europa, so doch in der neuen Welt.

Ungefähr dieselben Ideen wurden in den Reden ausgesprochen, die unsere Professoren bei der großen feierlichen Abendversammlung hielten, die wir zum Abschied veranstaltet hatten, um als Sieger, nicht als Besiegte zu scheiden. Die Redner waren so gerührt, daß sie kaum ihre Tränen zurückhalten konnten; ich fühlte die meinen fließen, während sie sprachen. In Theodors Grab, in das der Hochschule, begrub auch ich die Jugend, die Hoffnung, den freudigen Mut, der noch an eine Erfüllung in der Zukunft glaubt. Die Illusionen des Lebens erloschen für immer. Ich nahm das Leben noch auf mich als eine Aufgabe, aber ich war tief müde. Die Frage stieg wieder vor mir auf: Was tun? In meine Familie zurückkehren war unmöglich, um derselben Ursachen willen, um derentwillen ich sie verlassen hatte. Wenn noch ein Wunsch in mir war, so war es der, nach England zu gehen, wo eine große Anzahl politischer Flüchtlinge lebte, unter denen ich Freunde hatte, die mich dorthin riefen. Aber bei der geringsten Andeutung eines solchen Wunsches in meinen Briefen war meine Mutter aufs neue so unglücklich, daß ich sogleich darauf verzichtete, und diesmal ohne großen Kampf. Ich fühlte mich so gebrochen, geistig wie körperlich, daß ich glaubte, nicht mehr lange leben zu können, und ich war zufrieden, mich mit in das große Grab zu versenken, in das man alle großmütigen Bestrebungen, die Freiheit der Individuen und des Vaterlandes, erbarmungslos hinabwarf. Ich konnte auch nicht in Hamburg bleiben, obgleich meine jungen Freundinnen aus der Hochschule mich beschworen, da zu bleiben und sie auch ferner zu leiten. Aber da ich nicht genug Vermögen hatte, um unabhängig zu leben, so hätte ich hart arbeiten müssen, und ich fühlte in dem Augenblick, daß mir dazu die Kräfte fehlten. Anna bot mir an, mit ihr nach Berlin zu gehen, mich einstweilen für ein kleines Kostgeld bei ihr auszuruhen und dann über die Zukunft zu entscheiden. Ich nahm dies an; denn trotz der Verschiedenheit unserer Naturen war sie mir doch unendlich lieb, und nach Theodors Tod hatte sie sich so liebevoll gegen mich gezeigt, daß die Vergangenheit jetzt ein Band mehr zwischen uns war. Bei ihr, das wußte ich, würde keine schmerzende Saite berührt werden, und ich beschloß, nur für ernste Studien und in tiefster Zurückgezogenheit zu leben.

Der Abschied von Hamburg war unaussprechlich traurig. Am Morgen unserer Abreise fanden sich Emilie, der »Demokrat«, der Prediger, viele unserer Schülerinnen auf der Station ein, um uns Lebewohl zu sagen, und heiße Herzenstränen flossen von allen Seiten, nicht bloß dem persönlichen Trennungsleid, auch den gemeinsam zerstörten Hoffnungen, dem wieder geknechteten Vaterland.

In Berlin angekommen, richtete ich mich in einem stillen Zimmer bei Anna ein, und da, von einer vortrefflichen Bibliothek umgeben, wollte ich warten, bis mir die Kraft zur Arbeit zurückkäme. Um mich zu erholen, fing ich an, die griechischen Tragödien wieder zu lesen. Besonders die Antigone las ich mit immer neuem Entzücken. Ich fand in ihr das unleugbare Zeugnis, daß, wenn die Griechen im täglichen Leben der Frau eine untergeordnete Stellung anwiesen, die Dichter wenigstens das allerhöchste Ideal von ihr hatten. Welch edleres Wesen kann man sich vorstellen als Antigone, die allen Gefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu erfüllen; die Pflicht, die die innere Stimme den auserwählten Naturen gebietet, und die nur zu oft mit dem absoluten Gesetz im Widerspruch steht! Der Unterschied zwischen dem idealen Menschen, der illegal handelt, ist nirgends erhabener dargestellt, als in Antigone und Kreon. Das ist eine der ewigen Schöpfungen, die einen Konflikt darstellen, der sich so lange wiederholen wird, als die Geschichte der Menschen dauert. In den Antworten Antigones liegt alles, was den Menschen adelt und ihn unter die Sterne versetzt. Was könnte der moderne Mensch, der für sein Prinzip stirbt, Höheres der Tyrannei, die sich hinter das Gesetz versteckt, erwidern? Daß der Dichter eine Frauengestalt wählte, um diesen Kontrast hinzustellen, ist doch gewiß ein Beweis, daß in den kunstgeweihten Seelen der Griechen das schönste Ideal der Frau leben mußte. Außerdem braucht man übrigens nur an die Minerva zu denken, in deren Antlitz sich die höchste Majestät des Gedankens und des Charakters mit der edeln Schönheit der Form verbindet, um zu begreifen, daß nicht nur die Dichter, sondern auch die Künstler Griechenlands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck geben wollten.

Ich schrieb darüber einen Aufsatz und schickte ihn an ein demokratisches Blatt. Der Redakteur des Blattes kam mich zu besuchen, mit ihm zwei andere Demokraten, für die ich Briefe aus Hamburg mitgebracht hatte. Wir sprachen über Prinzipien und über die Notwendigkeit, die Solidarität der arbeitenden Klassen durch Bildung und den Begriff der Gemeinsamkeit der Interessen aufrecht zu erhalten und zu befestigen. Dies waren die einzigen Personen, die ich außer meinen Hausgenossen sah, und auch das nur äußerst selten. Außerdem hatte ich meine Korrespondenzen mit den Freunden in Hamburg, in England und Amerika. In den Unterredungen jedoch wie in den Briefen war es nur noch ein Austausch von Gedanken und Ansichten ohne den mindesten Hintergedanken einer revolutionären Tat. Was hätte man auch beginnen können in einem Zustand der Dinge, wo man sogar gegen die Kindergärten einzuschreiten für nötig hielt, unter dem Vorwand, daß man im Ministerium Dokumente besitze, die deutlich darlegten, wie die Pädagogen schon in die kleinen Kinder den Keim der Freiheit und der Unabhängigkeit legen wollten! Dies wurde in meiner Gegenwart wörtlich von einem im Ministerium beschäftigten Herrn, mit dem ich zufällig einmal zusammen kam, gesagt.

Eines Tages erhielt ich einen Besuch, der mich schmerzlich aufregte. Der jüngste meiner Brüder war als Gesandter der deutschen Regierung, in deren Diensten er sich befand, nach Berlin gekommen. Er war, wie schon früher gesagt, ein Mensch von großem Verstand, von großen Talenten, aber zugleich absoluter Aristokrat und Monarchist, sowie strenger Protestant. Wir waren einst sehr intim gewesen, und doch hatte sein Wesen mir stets einen gewissen Zwang eingeflößt; ich hatte mich nie ganz frei ihm gegenüber gefühlt, und seit unseren letzten Gesprächen über Religion während der Krankheit meines Vaters hatte jede Verbindung zwischen uns aufgehört. Ich wußte durch meine Schwestern, daß er mir schwer zürnte seit meinem Aufenthalt in Hamburg und meinem Anschluß an die freie Gemeinde. Dennoch kam er nach seiner Ankunft in Berlin mich zu besuchen. Ich wußte ihm Dank dafür, daß seine Liebe über seine Vorurteile gesiegt hatte, und empfing ihn voll Zärtlichkeit. Er fing das Gespräch damit an, daß er gekommen wäre, um mir zu sagen, wie tief es ihn schmerze und kränke, eine Schwester, die er einst sehr geliebt, nicht nur in einer falschen, sondern in einer verderblichen und schuldvollen Richtung zu sehen. Er sprach von einem Brief unserer Mutter, worin diese ihm ihren tiefen Kummer mitgeteilt habe über meine Idee, nach England zu gehen, zu Menschen, die des Hochverrats angeklagt wären. Er beschwor mich, dies nicht zu tun, da es den geehrten Namen unseres Vaters noch im Grab beschimpfen würde. Ich sagte ihm, daß ich diesem Wunsch schon aus Liebe zur Mutter, der ich meine Wünsche stets zu opfern bereit sei, wenn sie unabhängig von meinen Überzeugungen wären, entsagt hätte. Darauf fing er an, mir zu beweisen, wie dies gerade mein Grundirrtum sei, mir Überzeugungen auf einem Gebiet anmaßen zu wollen, wo die Frau nicht hingehöre.

»Die wahre Bestimmung der Frau,« sagte er, »ist die, an dem Platze zu bleiben, den ihr Gott angewiesen hat; deine Pflicht findet sich bei deiner Mutter, bei den Deinen. Was haben die, zu deren Gefährtin du dich gemacht hast, der Menschheit Gutes getan? Sie haben alle Fragen der Gerechtigkeit und der Moral gefälscht, weil sie die einzige wahre Basis verlassen haben: die Gesetze Gottes, die er uns durch seinen Sohn offenbart hat. Nur auf der granitnen Unterlage der Vergangenheit ruhen die Monumente der Gegenwart, erheben sich die der Zukunft. Die Männer, denen Gott die Führung der andern Menschen anvertraut hat, arbeiten seit lange an dem schweren Werk und halten die Fäden in der Hand, die das Gewebe der Geschicke der Völker bilden. Die nur können dies Werk verstehen und es leiten. Es ist eine unnütze und verderbliche Eitelkeit von seiten der Frauen, sich darein mischen zu wollen; sie treten damit aus dem Gebiet heraus, das ihnen Gott und die weibliche Demut anweisen. Glaube mir, meine Schwester,« fuhr er mit vieler Bewegung fort, »es gibt nur ein Mittel für dich, den rechten Weg wiederzufinden: wirf dich auf deine Knie und flehe deinen Heiland an; er, der für dich gestorben ist, wird sich deiner erbarmen. Ich versichere dir, daß auch ich jeden Tag für dich bete, wenn ich, allein in meinem Zimmer, mich im Gebet mit der vereine, die jetzt bei ihm für dich und mich fleht.«

Er meinte seine verstorbene Frau, die er heiß geliebt hatte und deren Andenken er einen solchen Kultus weihte, daß er sich nicht wieder verheiraten wollte.

Er fuhr noch lange in diesem Ton fort. Ich wollte anfangs eingehend mit ihm reden, ihn ruhig widerlegen, aber ich sah bald, daß es unnütz war. Seine Überzeugungen waren ebenso unerschütterlich wie die meinen, und keine Vernunftgründe konnten sie wankend machen. Er war auch einst durch den Kampf des freien Gedankens mit der Tradition gegangen, war aber zum Glauben an die Offenbarung zurückgekehrt, und nun, mit einem stolzen und festen Charakter wie der seine, war nichts mehr zu machen. In dem, was er sagte, war einiges, was mich empörte, denn ich sah hinter den demütigen Worten die stolze Anmaßung des Absolutisten. Aber er sprach bei alledem mit tiefer Bewegung, und es kam aus seinem Herzen. Um ihn erhoben sich vor meiner Seele der Schatten meines Vaters, das Bild der Mutter, das Leben der Familie, alle teuren Erinnerungen der Jugend, der Schmerz um diese Vergangenheit, die nie zurückkehren konnte, um die jüngst erlebten Verluste, um diese Verkehrtheit der Menschen, die sich befeinden wegen verschiedener Ansichten, während die Herzen sich lieben möchten – alles erfaßte mich mit solcher Gewalt, daß ich in heiße Tränen ausbrach. Mein Bruder war beinah erschrocken und sagte: »Du bist krank, und das erklärt vielleicht deine Verirrungen.«

»Nein,« sagte ich ihm endlich, »ich bin nicht krank; aber ich weine, weil ich euch alle innig liebe und weil ich sehe, daß ihr unfähig seid, die Toleranz zu üben, die allein uns in der alten Liebe über dem Abgrund vereinen könnte, den unsere Ansichten zwischen uns gegraben haben. Denn wisse es: mein Glück kann ich euch opfern und meine persönlichen Wünsche, aber nichts wird meine Überzeugungen ändern. Ich erkenne mir das Recht zu, solche zu haben, und selbst wenn ich sie ändern wollte, würde ich es nicht können, denn ich kann meine Vernunft nicht zwingen, falsch zu finden, was sie für recht erkennt.« Ich erneuerte ihm jedoch meine Versicherung, nicht nach England gehen zu wollen – der Umstand, den er am meisten zu fürchten schien – und dankte ihm schließlich, daß er gekommen wäre, da ich doch darin trotz aller harten Dinge, die er gesagt, einen Beweis seiner Liebe zu mir fände.

Er war gerührt und erzürnt zugleich. Im Fortgehen sagte er mir, daß, wenn ich seiner bedürfe, ich nun wisse, wo er zu finden sei, und daß, wenn mir etwas mangele, ich mich stets an ihn wenden solle. Ich antwortete nichts auf diese Anerbietungen, aber ich gelobte mir im Herzen, nie zu dieser Hilfe meine Zuflucht zu nehmen und lieber von meiner Hände Arbeit zu leben. Ich wollte ihm wenigstens Achtung vor diesen Prinzipien, die er verdammte, abzwingen und ihm zeigen, daß, wenn die Religion das Betteln und auf anderer Kosten leben kanonisiert hatte, die Demokratie im Gegenteil als ersten Grundsatz aufstellte, daß der Mensch arbeiten soll, und daß seine Würde es erheischt, daß er sich seine Unabhängigkeit durch eigene Anstrengung erwerbe.

Anna, die uns nicht hatte stören wollen, die aber lebhaftes Gespräch und Weinen gehört hatte, trat ein, sobald mein Bruder fort war. Sie nahm liebevollsten Teil an meiner Trauer und suchte mich zu trösten. Ich griff abermals zu meinem alten Mittel, zu einem einsamen Spaziergang. Aus den geräuschvollen Straßen der großen Hauptstadt fort eilte ich einem Ort außerhalb der Tore zu, den ich allen anderen Spaziergängen der Stadt vorzog. Es war ein kleiner Hügel, auf dem sich eine gartenähnliche Anlage befand, die die Gräber der 1848 im Kampfe gegen die Soldaten gefallenen Kämpfer für die Freiheit enthielt. Die Demokratie hatte ihnen zur Zeit ihrer Macht, gleich nach dem Kampf dieses Asyl geweiht, wo sie allein, unter wohlgepflegten Blumen und einfachen Denkmälern schlummerten. Ich setzte mich an einem Grabe nieder, das von Fabrikarbeitern den gefallenen Brüdern errichtet war und dessen Inschrift lautete:

»Im Kampfe für des Volkes Freiheit sterben,
ist das Testament, nach dem wir erben.«

Zu meinen Füßen breitete sich die stolze Hauptstadt mit ihren Palästen, ihrem Luxus, ihrem geistigen Leben und ihren triumphierenden Soldaten in der weiten Ebene aus. Alles war übergossen von den Strahlen der untergehenden Sonne, die in den Nebeln und Dünsten, die der nordischen Atmosphäre eigen sind, mannigfaltige glänzende Farbenspiele hervorrief. Fernher tönte das Geräusch der volkreichen Stadt, wie das Rauschen des Meeres. Um mich her aber, im stillen Garten des Todes, war ein tiefer Friede. Der Gesang der Nachtigall, das Wehen des Abendwinds, der mit den Düften der Gräberblumen spielte, unterbrachen allein die Stille. Ich glaubte mich ganz allein unter diesen Gräbern und betrachtete das Bild vor mir, indem ich die schmerzlichen Betrachtungen weiter verfolgte, die die soeben erlebte Szene hervorgerufen hatte. Diese Toten, die da um mich ruhten, hatten sie den Preis des vergossenen Blutes erhalten? Hatten sie die Rechtfertigung des Erfolgs gehabt? Und ich, hatte ich die großmütigen Bestrebungen, für die mein Herz glühte, verwirklichen können? Hatte ich durch Vernunft und Liebe über den Widerstand, den ich antraf, gesiegt? – Sie lagen da unter der Erde, stumm und unmächtig, und ihre überlebenden Brüder waren mehr wie je unter dem Joch, und mußten ihr Lasttierleben weiterführen. – Ich war allein, geschieden von den Meinen, meine höchsten Neigungen galten Toten, meine Arbeit war vernichtet. – Hatten sie denn Unvernünftiges verlangt? Wollten sie sich durch den Ruin anderer erheben? Nein, sie hatten nur die Arbeit von dem Fluch befreien wollen, den die Tradition auf ihr ruhen läßt, seit er an der Pforte des verlorenen Paradieses ausgesprochen war. Sie hatten freie Institutionen verlangt, um ein freies, starkes, glückliches Volk zu werden. – Und ich, hatte ich jemals gesagt, daß die Familienbande nicht heilig sind, daß die Frau sich emanzipieren soll, indem sie die besonderen Pflichten ihres Geschlechts von sich wirft und von dem Manne annimmt, was auch bei ihm sehr oft häßlich ist? Ich hatte ja im Gegenteil die Frauen würdiger machen wollen, Frauen und Mütter zu sein, durch die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, durch die sie nicht nur die leiblichen Erzeugerinnen, sondern auch die wahren Erzieherinnen und geistigen Bildnerinnen der Jugend werden könnten. Ich hatte gewollt, daß die Frau, anstatt des Mannes Brutalität nachzuahmen, so sehr ihm ebenbürtig werden sollte für die Kulturaufgabe der Menschheit, daß sie auch ihm helfen sollte, sich von allem Schlechten zu befreien.

Weshalb waren wir denn also scheinbar im Unrecht, die Toten und ich? Die Schuld war gewiß nicht unser, sondern unseres gemeinsamen Feindes, des Despotismus im Staate und in der Familie. Ich sah klarer denn je, daß die beiden Despotismen ein und dieselbe Sache sind und aus derselben Quelle fließen. Es ist die ewige Bevormundung der Individuen wie der Völker: verordneter Glaube, verordnete Pflichten, verordnete Liebe. Statt dessen sollte man dem Individuum sagen: »Wähle dir nach deiner Einsicht deinen Glauben, deine Verpflichtungen, deine Neigung; wir ehren deine Freiheit; ist deine Wahl unwürdig, trage die Folgen; bleibst du ein sittliches Wesen, so werden wir dich lieben trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten.« – Und den Völkern: »Sprecht frei über eure Klagen, eure Bedürfnisse; beraten wir uns, ihnen abzuhelfen! wir sind nur da, um allen gerecht zu werden, um den vernünftigen Willen aller zu verwirklichen.« – Ist es denn so schwer zu begreifen, daß die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker daran gewöhnen, dies zu begreifen – damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Zivilisation erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre beglückende Form finden, während die gewaltsame Autorität ewig die Empörung an ihrer Türe finden wird.

Während ich diesen Gedanken nachhing, war die Sonne untergegangen, und tiefe Abendschatten bedeckten die Stadt, auf dem Hügel der Toten aber herrschte noch eine leuchtende Klarheit. »Das Licht unserer Ansichten wird einst noch leuchten, wenn aller Despotismus mit den Schatten ewiger Vergangenheit bedeckt sein wird,« sagte ich mir, indem ich meine Blicke zu den Gräbern wandte, wie um auch die zu trösten, die darin schlummerten. Da bemerkte ich, daß ich nicht allein war. In einer kleinen Entfernung standen ein junger Arbeiter und ein junges blondes Mädchen, das sich auf seinen Arm stützte. Beide betrachteten mich mit dem Ausdruck tiefer Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Ich stand auf, sie wollten sich entfernen, aber ich ging zu ihnen hin.

Der junge Mann sagte: »Entschuldigen Sie, wenn wir Ihre Betrachtungen gestört haben; wir haben Sie lange angesehen; als Sie da so traurig und gedankenvoll saßen, sagte ich meiner Braut: Das ist sicher eine der Unseren.«

Ich versicherte ihnen, daß ich allerdings eine der Ihrigen wäre, und ließ mich in ein Gespräch mit ihnen ein. Sie erzählten mir, daß sie noch zu arm wären, um zu heiraten, daß sie fern voneinander wohnten, sich nur selten sehen könnten, da er in einer Fabrik, sie als Dienstmädchen, sehr beschäftigt wären, daß sie aber, wenn sie einmal eine Stunde Zeit hätten, sich meist an diesem Ort zusammenfänden, wo so viele ihrer Freunde ruhten und wo sie sich die heiligen Hoffnungen in das Gedächtnis riefen, für die jene gestorben wären.

Ich erzählte ihnen dagegen, welche Gedanken mich eben beschäftigt hätten und wie, trotz allem, was die Gegenwart Trauriges hätte, wir überzeugt sein durften, daß dieses Blut nicht umsonst geflossen wäre; daß die großmütigen Opfer niemals unfruchtbar wären; und daß die Zeit wiederkehren würde, wo der Samen der Freiheit aufgehen und Früchte bringen müßte; daß sie, noch so jung, diese Zeit vielleicht noch sehen würden. Dann sprachen wir von dem Handwerkerverein, der eben von der Regierung aufgelöst worden war, und der junge Mann sprach über den veredelnden Einfluß, den dieser ausgeübt hätte. »Indem man uns verbietet, unsere Erholung in der Belehrung und im Lesen zu suchen, zwingt man uns förmlich, sie wieder in der Schenke zu suchen; und das nennt man die wirklichen Interessen des Volks wahren und die Revolution ersticken,« setzte er mit bitterem Lächeln hinzu.

Ich verließ sie endlich mit einem herzlichen Händedruck. Diese Stunde der Betrachtung und das Gespräch mit den armen jungen Leuten, die während der kurzen Augenblicke, wo sie sich ihrer Liebe freuen konnten, das Asyl der Toten suchten, um sich in ihren Grundsätzen zu befestigen, hatten mir wohlgetan und mir wieder Ruhe gegeben.

An demselben Abend kam Charlotte von England zurück, wo sie einige Wochen bei einer Freundin zugebracht hatte. Sie erheiterte unsere Einsamkeit durch Erzählungen aus dem bewegten Leben der Weltstadt und besonders aus dem Kreise der Emigration. Zuweilen erweckten ihre Erzählungen einen großen Wunsch in mir, diese Reise zu machen, um zu versuchen, mich gewaltsam durch eine neue Tätigkeit, durch die Macht neuer Eindrücke aus meiner tödlichen Traurigkeit zu reißen. Aber ich hatte mein Wort gegeben, nicht zu gehen, und ich wollte es halten, aus Liebe zu meiner Mutter. Das Leben war mir zur Last, ich wünschte aufrichtig, zu sterben, auch wurde meine Gesundheit von Tag zu Tag schwächer. Anna zwang mich förmlich, endlich einen Arzt zu fragen, der mir eine stärkende Kur verordnete.

Am Tag, wo ich diese beginnen wollte, dachte ich früh morgens beim Erwachen, daß es vorsichtiger sein würde, noch an demselben Tag meine Papiere in Ordnung zu bringen und die Briefe meiner demokratischen Freunde, eigne Aufzeichnungen meiner Ansichten usw., obgleich alles an sich unverfängliche Dinge, doch lieber an einem sicheren Ort zu verbergen. Die Reaktion wurde immer finsterer, immer mißtrauischer, und wir hielten es nicht für unmöglich, daß man einmal eine Haussuchung bei mir vornehmen könne, um so mehr, da das Dienstmädchen uns erzählt hatte, daß schon mehreremal Männer in bürgerlicher Kleidung, die sie für Polizeidiener erkannt hätte, sie angeredet und gefragt hätten, was ich in dem Hause mache, welche Besuche ich empfinge usw. – Mehrere Damen, demokratischer Gesinnung verdächtig, waren schon in dieser Weise heimgesucht worden. Dieselbe Sache konnte mir also auch begegnen, obgleich es mir zu absurd erschien, um daran zu glauben. Aber wie es häufig zu gehen pflegt, daß man eine Sache als möglich voraussieht, daß man Zeit hat, den Folgen vorzubeugen, und dies doch, aus einer Art von blindem Vertrauen in das Schicksal, unterläßt, so unterließ auch ich es, noch an dem Morgen meine Papiere zu ordnen, beschloß aber bei mir, zunächst für nichts als für die Herstellung meiner Gesundheit zu leben, um bei wiedererlangten Kräften alsbald eine theoretische Arbeit über Erziehung zu beginnen.

Anna hatte eben an dem Tag eine starke Migräne und lag zu Bett. Charlotte war bei ihr, sie zu pflegen. Ich hatte mich in Annas kleinen Salon gesetzt und schrieb einen Brief an meinen Freund in Amerika, als das Mädchen eintrat und einen Herrn meldete, der mich zu sprechen wünsche. Ich dachte, es wäre einer der demokratischen Herren, die, wie ich gesagt habe, zuweilen kamen, und ließ ihn eintreten, war aber sehr erstaunt, einen mir völlig fremden Menschen zu sehen. Er verbeugte sich sehr höflich, und auf meine Frage, was ihn zu mir führe, erklärte er mir, nicht ohne große Verlegenheit, daß es ein sehr unangenehmer Auftrag sei, indem ihn der Chef der Polizeibehörde beauftragt habe, meine Papiere zu durchsuchen und mich vor das Polizeiamt zu laden. Ich blieb äußerlich so ruhig als möglich und fragte kalt nach der Ursache einer solchen Maßregel. Er entschuldigte sich, indem er sagte, er führe eben nur erhaltene Befehle aus, aber er glaube gehört zu haben, daß ich mit einem gewissen Weigelt in Briefwechsel stehe – dies war, wie ich schon früher erwähnte, der Name unseres Predigers in Hamburg. – Ich lächelte und sagte, da müsse man viel zu tun haben, wenn man die Papiere all der Menschen untersuchen wollte, die mit diesem liebenswürdigen, sanften Manne, der sich gar nicht um Politik bekümmere, korrespondierten. Er fragte, ob das Zimmer, in dem wir uns befänden, das meinige sei. Ich verneinte es. »Aber Sie schrieben doch, als ich eintrat?« sagte er und ging auf den Tisch zu, auf dem meine Schreibmappe mit dem angefangenen Brief lag. Er bemächtigte sich dieser Dinge, indem er sich, wie zur Entschuldigung, gegen mich verbeugte. Der Zorn wallte heftig in mir auf, als ich diese gemeine Hand die Blätter ergreifen sah, auf denen ich Gedanken und Gefühlen Ausdruck gegeben hatte, die man nur der Freundschaft anvertraut. Welche Zivilisation war das, wo solche Barbarei verübt werden konnte! Ich würde die orientalische Sitte vorziehn, wo man dem Menschen, gegen den man Verdacht hegt, freimütig den Strick zuschickt, ohne das Heiligste, was der Mensch hat: die Intimität seiner Gedanken und Gefühle, im Namen der Gerechtigkeit und des Gesetzes zu verletzen.

Der Beamte verlangte mein Zimmer zu sehen. Der äußere Eingang zu diesem war von innen verriegelt, und so konnte man nur durch Annas Schlafzimmer hinein. Da der Beamte mir andeutete, ich dürfe mich nicht aus seiner Gegenwart entfernen, so mußte ich Charlotte rufen, um sie zu bitten, meine Tür von innen zu entriegeln. Sie war natürlich bestürzt über den unerwarteten Besuch, und hatte deshalb wohl leider nicht die Geistesgegenwart, rasch aus meinem Zimmer wenigstens Theodors Briefe zu entfernen und diese teuren Andenken vor der Entweihung, die ihrer wartete, zu retten, während ich mit dem Beamten den Umweg über den Gang machte, um zum äußeren Eingang meines Zimmers zu gelangen. Ich sah mit Empörung und Ironie, daß ein bewaffneter Soldat im Vorzimmer stand, dem der Beamte meine Schreibmappe übergab. Hatte man denn geglaubt, daß ich die friedlichen Boten der öffentlichen Ordnung mit dem Revolver in der Hand empfangen würde? War das die Art, wie die Polizei die Emanzipation der Frau verstand? Es war wohl dieses Irrtums wegen, daß der Polizeibeamte so beschämt, so verlegen war. In meinem Zimmer ging er gerade auf meinen Schreibtisch los und nahm alle darin befindlichen Papiere zusammen, indem er flüchtige Blicke hineinwarf. Unter diesen Papieren befand sich ein Päckchen einzelner Blätter, die Notizen enthielten, die ich während der Vorlesungen in Hamburg zu schreiben pflegte. Ich wußte, daß dabei ein einziges Blatt lag, das einer argwöhnischen Polizei als corpus delicti hätte dienen können, obgleich es nichts enthielt, was die Sicherheit des Staats gefährden konnte. Es war einfach eine Liste der mit den Freunden in Hamburg verabredeten Ausdrücke und Benennungen, durch die wir uns ungenierter Mitteilungen machen konnten, da es bekannt war, daß in den Zeiten, in denen wir lebten, die Wahrung des Briefgeheimnisses für die Beamten ein großes Vergehen gewesen wäre. Ich nahm das Päckchen loser Blätter in die Hand, blätterte sie vor den Augen des Beamten durch und sagte: »Sie sehen, das sind wissenschaftliche Notizen, die mit der Politik nichts zu tun haben.« Er warf einen flüchtigen Blick hin und fuhr fort, die Tischschublade zu leeren. In dem Augenblick schob ich, von ihm unbemerkt, das bewußte Papier in meine Tasche und reichte ihm dann das Päckchen, das er zu den übrigen Sachen tat. Ich war selbst mit meiner Geistesgegenwart in diesen peinlichen Augenblicken zufrieden. Ich glaube, auch der mutigste Mensch kann seiner selbst nicht sicher sein, ehe er sich nicht in irgendeiner Gefahr bewährt hat. Nur die Prahler sind unfehlbar vor der Prüfung.

Trotz dieser Befriedigung sah ich aber doch mit tiefem Schmerz alle diese Blätter und Briefe zusammenpacken, die teuren Andenken glücklicher und unglücklicher, aber gleich heiliger Stunden. Es gelang mir aber, äußerlich ruhig zu bleiben. Nachdem alles zusammengepackt war, verlangte der Beamte ein besonderes Gespräch mit Charlotte zu haben, während dessen ich in meinem Zimmer bleiben mußte. Dann mußte man ihn sogar in das Schlafzimmer der armen Anna führen, deren Kopfweh durch die Aufregung natürlich verdoppelt war. Als er sah, daß sie wirklich krank zu Bette lag, stammelte er eine Entschuldigung und zog sich zurück. Ehe er ging, wiederholte er mir den Befehl, binnen einer Stunde auf dem Polizeiamte zu erscheinen, verbeugte sich tief und sagte mit einiger Bewegung: »Ich bitte Sie als Mensch um Verzeihung für das, was ich als Beamter habe tun müssen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen,« erwiderte ich, »im Gegenteil: ich bedaure Sie. Es muß traurig sein, wenn die Pflichten des Beamten und die des Menschen unter sich in so großem Widerspruch stehen.«

Als er fort war, fand ich Anna in Tränen, die Verwandten, mit denen sie zusammenlebte, in tiefster Bestürzung. Ich war die ruhigste von allen, denn ich hatte meine Geistesgegenwart nötig für das, was mir noch bevorstand. Alle zitterten für mich, dachten an Gefängnis und alle möglichen Schrecken; doch mußte ich gehen.

Ich ging allein und zu Fuß; ich wollte niemand kompromittieren und so einfach als möglich in dieser ganzen Sache bleiben. Am Polizeiamt angekommen, fragte ich nach dem Beamten, der mir als derjenige genannt worden war, mit dem ich zu verhandeln haben würde. Man sah mich mißtrauisch an und öffnete mir in ziemlich grober Weise eine Tür. Ich befand mich nun in einem Saal, wo eine Menge Beamte an Schreibtischen arbeiteten. Alle sahen mich an, lächelten und flüsterten. Ich fragte noch einmal stolz und verachtungsvoll nach dem bezeichneten Namen. Man wies auf eine andere Tür. In dieser Weise mußte ich noch mehrere Gemächer durchschreiten, bis ich mich endlich im Kabinett des bezeichneten Polizeichefs befand. Er empfing mich höflich, bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich daneben auf einen Stuhl, so daß das volle Licht auf mein Gesicht fiel, wenn ich mich zu ihm wandte, während er im Schatten saß – wahrscheinlich eine schlaue polizeiliche Maßregel, um die Anzeichen der Schuld besser im Gesichte der Beschuldigten lesen zu können. Er fing damit an, mir zu sagen, wie unangenehm es für die Regierung sei, eine solche Maßregel gegen eine Dame nehmen zu müssen, die einer allgemein geachteten Familie angehöre, und deren eigner Bruder sich in einer hervorragenden Stellung in Berlin selbst befände. Er fragte mich, wie es nur habe kommen können, daß ich mich so von den Ansichten meiner Familie entfernt hätte, und daß ich einen Weg verfolgte, der mich auf ewig von der Gesellschaft, in der ich geboren und erzogen worden wäre, trennte. Ich fragte ihn dagegen, ob er nicht glaube, daß Frauen auch Überzeugungen und die Energie haben könnten, ihnen zu folgen. Anstatt der Antwort zuckte er die Schultern und begann dann ein förmliches Verhör. Die schlaue und doch dumme Art, mit der er sich benahm, flößte mir eine außerordentliche Geringschätzung ein. Ich gab ihm nur ganz kurze Antworten. Die einfachen und aufrichtigen Zugeständnisse, die ich ihm machte, schienen ihn zu beschämen und zu verwirren. Er fragte, ob ich mit der Emigration in London in Verbindung stehe; ich bejahte ruhig und sagte, ich hätte da Freunde, mit denen ich in Briefwechsel wäre. Besonders schien er wissen zu wollen, wen ich in Berlin selbst kannte und sähe, und nannte mir den oben erwähnten Redakteur. Ich sagte, daß ich ihn kennen gelernt hätte auf Veranlassung eines ihm zugesandten Artikels. Dann sprach er von »gewissen anderen Leuten«, die auch gekommen sein müßten, mich zu sehen. Hier verneinte ich. Die Gespräche mit jenen Herren hatten keinen andern Zweck gehabt, als für die Arbeiter unter der damaligen Reaktion möglich zu machen, was sie nun glücklicherweise am Licht des Tages tun dürfen: sich verbinden zu Zwecken der Bildung, der gegenseitigen Unterstützung, der wahren Solidarität – nicht als eine Klasse der Opposition um jeden Preis, sondern als eine wohlberechtigte Klasse der Gesellschaft, ja zum Teil als deren wahre Grundlage, die ihre Rechte haben muß, damit sie ihre Pflichten üben kann. Ich wollte diesen Plan, der einen Keim der Zukunft für die Arbeiter enthielt, nicht den Mißverständnissen der Polizei ausliefern und beschloß deshalb, die Bekanntschaft mit jenen Herren zu verleugnen, um sie nicht in die Unannehmlichkeiten zu verwickeln, die mir vielleicht bevorständen.

Als der Beamte sah, daß er kein Geständnis irgendeiner Schuld erhielt, daß ich ruhig und fest blieb und nicht das kleinste Zugeständnis machte, änderte er plötzlich den Ton, wurde zutraulich und freundschaftlich, und bat mich, zu glauben, daß dies alles zu meinem Besten geschähe, daß man einer hochstehenden Familie einen Dienst leisten und mich auf den Weg zurückführen wolle, den ich meiner Erziehung und meinem Rang nach gehen müsse. Ich dankte ihm ironisch für diese Vorsorge, bedauerte aber, ihm sagen zu müssen, daß ich keinen andern Weg gehen könne, als den, den mein Gewissen mir vorschreibe. Als er sah, daß auch diese Saite nicht anschlug, versuchte er noch etwas anderes und deutete an, daß ich vielleicht unrecht habe, mich auf die zu verlassen, die ich meine Freunde nannte; daß Charlotte in dem Gespräch, das der Unterbeamte mit ihr gehabt, sich nicht allzu zärtlich für mich gezeigt hätte. Das war der erste Streich, mit dem er wirklich mein Herz traf. Alle Verluste und Gefahren, die mir vielleicht bevorstanden, hatten mich noch nicht erschüttern können, aber daß eine von denen, die meine Einsamkeit teilten und meinen Charakter und meine Schicksale kannten, mich hätte verraten können, das traf. Dennoch antwortete ich ihm kurz, daß ich es nicht glaube.

Endlich, als er sah, daß auch dies nichts half, sagte er: »Ich sehe, daß ich nichts mit Ihnen machen kann. Ich muß mir zuvor neue Instruktionen holen und Ihre Papiere lesen. Übermorgen um dieselbe Stunde müssen Sie sich wieder hier einfinden. Übrigens,« fügte er mit schlauem Lächeln hinzu, »habe ich wohl nicht nötig, Ihnen anzudeuten, daß Sie den Verlauf Ihrer Aufenthaltskarte hier nicht abzuwarten brauchen.«

(Ich hatte, gleich nach meiner Ankunft eine Aufenthaltskarte auf der Polizei geholt.)

Sollte das ein Wink sein, den man mir gab, um mich zu entfernen, damit man der Unannehmlichkeit überhoben sei, ferner gegen mich vorzugehen?

Ich antwortete ihm: »Sie wollen sagen, daß ich Berlin verlassen soll? Das tue ich gern, denn der Aufenthalt hier gefällt mir wenig.«

»Ja, nicht wahr, die dicke, bureaukratische Luft hier ist erstickend?« fragte er mit schlauem Lächeln und rieb sich die Hände vor Vergnügen.

Ich sah ihm fest in die Augen und erwiderte: »Das ist ein Ausdruck, den ich vor kurzem in einem wohl versiegelten Brief an einen Freund in Hamburg gebraucht habe.«

Er blieb etwas verwirrt stehen, denn er hatte mir klar bewiesen, daß meine Briefe erbrochen und gelesen würden. Ich grüßte ihn kalt und ging. Als ich das Polizeigebäude verließ, fühlte ich meine Kräfte schwinden. Ich warf mich in einen Wagen und fuhr nach Haus, wo ich alle in unaussprechlicher Aufregung fand. Anna umarmte mich mit Tränen; sie hatte geglaubt, sie würde mich nicht wiedersehn, man würde mich in das Gefängnis führen. In meiner Seele war nur ein schmerzender Punkt, der Zweifel wegen Charlotten, den jener Mensch hineingeworfen. Das war im Augenblick die Empfindung, die alles andere beherrschte. Ich begriff es da, daß der schmerzlichste Moment im Leiden Christi der sein mußte, von einem Freund verraten worden zu sein. Ich nahm Charlotte beiseite und sagte ihr offen, was jener gegen sie vorgebracht. Es wurde ihr nicht schwer, mich zu überzeugen, daß der Beamte frech gelogen hatte. Alle im Hause waren der Ansicht, daß ich sogleich fort müsse, ohne das zweite Verhör abzuwarten, und ehe der Weg der Freiheit mir vielleicht versperrt würde. Ich war auf diesen Entschluß noch nicht vorbereitet: ich wollte noch bleiben, um meine Unschuld zu beweisen und meine Papiere, deren Verlust mir unerträglich weh tat, wiederzuerlangen. Aber Anna beschwor mich, meine Freiheit nicht auf das Spiel zu setzen. Sie bewies mir mit Recht, daß man aus meinen Papieren hundert Vorwände nehmen könnte, um mich wenigstens einer Untersuchungshaft zu unterwerfen, die nicht nur für meine schwache Gesundheit vernichtend, sondern auch für meine Familie tausendmal schmerzlicher sein würde als eine völlige Entfernung. Ich hielt noch an dem meinem Bruder gegebenen Versprechen fest, aber sie wies mich darauf hin, daß dies Versprechen, für ein freiwilliges Scheiden gegeben, nicht für ein gezwungenes gültig sei. »Die Zeit des freiwilligen, unvermeidlichen Märtyrertums, so wie sie damals war, als Theodor den Artikel schrieb, der zu seiner Verurteilung führte, ist vorüber. Jetzt gilt es, sich gehässigen Verfolgungen zu entziehen und die edeln Kräfte für eine bessere Zukunft zu retten. Das Schicksal, das sich diesmal in die Polizei der Reaktion inkarniert hat, kommt Dir selbst zur Hilfe. Benutze den Wink, den es Dir gibt: geh', um frei in einem freien Lande nach Deinen Grundsätzen zu leben. Kehr' wieder, wenn der Tag der Auferstehung kommt; wenn nicht – Du kannst arbeiten und Du willst es, Du wirst Dir Deine Stellung schaffen. Sehen wir uns nicht wieder – nun, so sind wir doch eine der andern sicher, und wir leben gemeinsam in den Ideen der Zukunft.«

Ich gab ihr recht und beschloß zu gehen. Anna und Charlotte baten mich, ein wenig zu ruhen, nach der furchtbaren Aufregung des Morgens, während sie die Vorbereitungen für mich trafen. Ich warf mich auf das Bett und wollte schlafen, aber es war mir unmöglich. Mein Herz schlug mit solcher Heftigkeit wie in der Nacht, nachdem ich erfahren hatte, daß Theodor eine andere Frau liebe. Das waren in der Tat die zwei entscheidenden Momente meines Lebens. Es war die lange wundersame Kette von Ursachen und Wirkungen, die in diesen Momenten am schlagendsten hervortrat und obgleich aus meinem Charakter selbst hervorgegangen, zum Schicksal wurde, das meinen Weg bestimmte. Ich erhob mich endlich; ich fühlte, daß ich nicht überlegen, sondern handeln müsse. Zum Glück besaß ich durch mein äußerst sparsames Leben eine kleine Summe, die für die Reise nach England auszureichen versprach. Ich nahm zunächst nur einen Reisesack mit den unentbehrlichsten Dingen mit; Anna übernahm es, mir meine übrigen Sachen nachzuschicken. Als die Dämmerung kam, brach ich auf. Alle umarmten mich weinend und gaben mir heiße Segenswünsche mit. Annas Vetter, ein junger Mensch von achtzehn Jahren, gab mir den Arm, und wir gingen ruhig zum Hause hinaus, wie um einen Spaziergang zu machen, denn wir wußten, daß das Haus bewacht wurde. Auf der beliebtesten Promenade der Stadt mischten wir uns in die dichtesten Haufen der Spaziergänger, um, wenn uns etwa gefolgt würde, die Beobachtung irre zu leiten. Endlich, in ziemlicher Entfernung, bogen wir in eine menschenleere Seitenstraße ein, wo wir uns überzeugten, daß wir nicht verfolgt würden. Wir wandten uns dann einem neuen, noch unbelebten Stadtteil zu, wo ein junges Ehepaar wohnte, das ich in Ostende gekannt und seit meiner Anwesenheit in Berlin einige Male besucht hatte. Es waren liebenswürdige, gebildete, demokratisch gesinnte Menschen, aber durchaus nicht kompromittiert. Bei ihnen wollte ich die Nacht zubringen, um am frühen Morgen wegzufahren, was bei Anna nicht unbemerkt hätte geschehen können. Die jungen Leute waren glücklicherweise allein zu Hause und nicht wenig betrübt, als sie die Ursache meines Besuchs erfuhren. Sie boten mir in der liebenswürdigsten Art ihre Hilfe an. Mein junger Begleiter verließ mich, um mich am folgenden Morgen, in erster Frühe, mit dem Wagen abzuholen. Meine lieben Wirte taten alles Mögliche, um mich zu trösten und zu ermutigen. Der junge Mann ging in später Nachtstunde, um einen seiner Freunde (einen bewährten Demokraten, der im Jahre Achtundvierzig für das Volk gekämpft hatte) zu bitten, mich am Morgen zu begleiten, da er es für ratsamer hielt, mir einen erfahrenen männlichen Begleiter mitzugeben. Während seiner mehrstündigen Abwesenheit blieben die junge Frau und ich zusammen sitzen, in Gespräche über die höchsten Probleme des Lebens vertieft, denn keine von uns hatte Lust zu schlafen. Meine ganze Energie war mir zurückgekehrt, und ich fühlte mich wieder stark, mit dem Schicksal zu ringen. Gegen Morgen kamen die zwei Herren. Ich dankte dem mir Unbekannten voll Rührung, daß er eine immerhin mißliche Begleitung der Art übernehmen wolle. Er versicherte mir, das sei nur eine einfache Pflicht der Solidarität der Ansichten, und ich erkannte, daß dies ein edlerer Ritterorden wäre als alle früheren.

Als der Tag anbrach, kam Annas Vetter mit einem offenen Wagen wie zu einer Spazierfahrt. Wir hatten gedacht, es sei besser, bis zu der nächsten Station im Wagen zu fahren, da man mich möglicherweise an den Stationen in Berlin am Fortgehen hätte verhindern können. Ich umarmte meine lieben Wirte mit innigstem Dankgefühl und stieg dann mit meinen zwei Begleitern in den Wagen. Es war gegen Ende Mai und ein ungewöhnlich warmer Frühling. Selbst um diese frühe Stunde war es schon drückend warm, und am Himmel stand ein Gewitter. Die Fahrt wurde angenehm verkürzt durch die interessanten Mitteilungen meines großmütigen Begleiters. An der Station angelangt, frühstückten wir zusammen in einer Laube, während das Gewitter anfing sich zu entladen. Wir waren beinahe lustig und ich sagte scherzend: »Wem gelten diese Donnerschläge – mir oder meinen Feinden?« Als ich im Eisenbahnwagen saß und das Zeichen zur Abfahrt ertönte, da reichte ich meinen Begleitern zum letztenmal die Hand und sagte: »Es galt jenen; ich gehe in die Freiheit.«

Während der Fahrt nach Hamburg empfand ich vollständig das abscheuliche Gefühl der Furcht, das despotische, unreine, argwöhnische Regierungen einflößen, denen gegenüber die Unschuld kein Schutz ist. Ich dachte mit Grauen an alle die edlen Opfer, die in ihre Hände gefallen und durch die Martern durchgegangen waren, die sie zu verhängen wissen; an alle, die ich in den Gefängnissen meines Vaterlands, in dem mörderischen Klima von Cayenne und den anderen traurigen Orten zurückließ, in denen die brutale Gewalt die Intelligenz, die Tugend und den Patriotismus gefangen hielt. Ich sah mißtrauisch auf jeden neu in den Wagen Eintretenden und drückte mich auf den Stationen in die Ecke, um nicht gesehen zu werden.

Endlich kam ich ohne Hindernis an, ging sogleich zu Emilien, die anfangs bestürzt, dann aber über die Wendung meines Schicksals erfreut war. Auch der »Demokrat«, den wir rufen ließen, war Emiliens Ansicht. Die Freunde besorgten schnell alles zur Abreise. Ein englisches Schiff fuhr am folgenden Morgen ab, mein Platz wurde darauf genommen. Meine letzte Sorge war, meiner Schwester zu schreiben, um ihr zu sagen, daß, wenn das Gerücht meiner Abreise sich verbreiten würde, ich schon auf den Wogen des Meeres in Sicherheit sei; ich bat sie, meine Mutter zu trösten und ihr zu sagen, daß ich nicht freiwillig meinem Versprechen untreu geworden wäre.

Um zehn Uhr abends begleiteten mich der »Demokrat« und der brave Tischler, von dem ich früher gesprochen, und den man gleich das Vorgefallene hatte wissen lassen, an Bord des Schiffes, wo ich schlafen wollte, da es bei Tagesanbruch abging. Die beiden blieben bei mir auf dem Deck bis Mitternacht. Über uns schimmerten unzählige Sterne, aber auf der Erde herrschte tiefe Finsternis, wie in dem Geschick des Volkes und des Vaterlandes, das wir liebten. Wir standen da zusammen: der eine ein Mann des Gedankens – der andere ein Mann des Volkes, aber beide tapfere und unerschütterliche Kämpfer, auf der gefangenen Erde zurückbleibend, um ihr Los zu teilen – und ich, eine schwache Frau, hinausziehend in das Exil, einem ungewissen Schicksal entgegen, einzig aufrecht erhalten von der Kraft, die reine Überzeugungen und das Bewußtsein, ihnen treu gewesen zu sein, geben. Endlich schlug es Mitternacht, und sie mußten das Schiff verlassen. Wir reichten uns die Hände. »Wir werden uns nur wiedersehn, wenn das Vaterland frei ist, sonst sterb' ich fern von ihm,« sagte ich ihnen. Sie antworteten nicht, sie waren zu bewegt. Aber ich wußte, daß ich in ihren Herzen leben würde.


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