Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Achtzehntes Kapitel

Reaktion und Gefängnis

Die Jahrestage der Revolution von Paris, Berlin, Wien kehrten wieder. Es war ein Jahr, daß die fortgeschrittensten Völker Europas sich wie von einer gemeinsamen Inspiration bewegt erhoben hatten, um mit lauter Stimme jene Grundsätze zur Geltung zu rufen, die seit der großen französischen Revolution – der Traum aller edlen Herzen und der Schrecken aller Tyrannen gewesen waren. Welches Jahr! Welche plötzliche Blüte und üppige Fülle! Freiheit, Selbstregierung der Völker, Abschaffung der Klassenunterschiede, der Arme zu allen materiellen und geistigen Rechten der Menschen gerufen! Und dies alles verhältnismäßig ohne zu große Opfer errungen! Zwölf Monate waren nun herum, und der Fall war vollständig. Das deutsche Parlament war nicht mehr. In seinem eignen Netz gefangen durch die Wahl des Österreichers an die Spitze der Reichsgewalt, fiel es durch seine Ohnmacht, und die letzten Trümmer, die nach Stuttgart gingen, retteten nichts als ihre persönliche Ehre. Die Wahl eines radikalen Reichsverwesers kam, als kein Reich mehr da war. Die Revolution hatte sich selbst widersprochen; sie hatte nicht mehr die Macht, Gesetze zu diktieren.

Die Insurrektion in Dresden, im Monat Mai, war das letzte Zucken der sterbenden Revolution. Mit welcher tödlichen Angst las ich die Berichte über jenen Kampf! Noch einmal flackerte die Hoffnung auf, daß man aus andern Teilen Deutschlands den Insurgenten zu Hilfe ziehn und dann die wahre Revolution noch daraus entspringen werde, nachdem man eingesehen, was halbe Maßregeln taugten. Während dieser Tage der Erwartung ging ich eines Morgens in das Haus meines verheirateten Bruders. Ich fand niemand von der Familie im Hause, außer dem kleinsten Kinde, das in der Wiege lag und schlief. Ich beugte mich über das unschuldige Geschöpf, und indem ich es ansah, faßte mich ein vernichtender Schmerz. Wie schrecklich war der Kontrast! Auf der einen Seite dieses schlafende Kind, das nichts wußte von dem furchtbaren Kampf, der auch vielleicht seine Zukunft bestimmte: dem Kampf zwischen dem erwachten Bewußtsein, das nach Freiheit schreit, und der brutalen Gewalt, die sie vernichtet. Auf der andern Seite das Volk, das mit seinem Blute diesen Schrei bezahlte. Und ich dabei, ohnmächtig, ohne mit helfen, ohne wenigstens mit sterben zu können! Da stieg aus der Tiefe meines Herzens ein hehres, flammendes Verlangen: das Verlangen zu leben, um der gemordeten Freiheit in den Frauen Rächer zu erziehn dadurch, daß sie fähig würden, eine Generation freier Menschen zu bilden. Es war mehr wie je meine Gewohnheit geworden, jeder tiefen innern Erregung schriftlich Worte zu verleihen. Mein Herz blutete aus zu vielen Wunden, um noch, wie früher, im Rhythmus den geheimen Balsam der Poesie zu finden. Aber ich schrieb zur Erinnerung an diese Stunde bei der Wiege eines Kindes, ehe mir der Ausgang des Dresdener Kampfes noch bekannt war, einen Aufsatz mit dem Titel: »Der Schwur einer Frau« und schickte ihn dem »Demokraten«, der mir darauf schrieb: »Ihr Schwur wird manchen Kämpfer den seinen erneuern lassen.« Dann ließ er ihn in einem demokratischen Blatte drucken.

Das Schicksal des Dresdener Aufstands entschied sich nur zu bald. Die Entmutigung hatte schon die Oberhand gewonnen; man fürchtete, den Aufständigen zu Hilfe zu kommen, man hatte keinen Glauben mehr an den Erfolg der Revolution. Die Masse der Gesellschaft wollte wieder Ordnung um jeden Preis. Die preußischen Truppen kamen, um die sächsische Monarchie zu retten; Dresden wurde bombardiert, und grausame Dinge wurden verübt. Es wurde erschossen, eingekerkert, verbannt. Dann wurde wieder alles still; unten die Gräber und das erstickte Seufzen; oben die neu befestigten Throne und die erhöhte Glorie des Soldatentums. Die Grundrechte des deutschen Volks wurden den Blicken der Sterblichen wieder entrückt in die Tiefe eines verzauberten Berges, bis zu der Zeit, wo einmal wieder ein begnadigter Mensch das: »Sesam, Sesam, tu' dich auf!« sprechen würde.

Ich war fortwährend krank, den ganzen Frühling durch; ein Leiden folgte dem andern, aber ich litt noch mehr moralisch als physisch. Immer unter dem Anathem meiner Familie und der Gesellschaft, fand ich nur Trost und Erholung in meinen Studien; in der Korrespondenz mit einigen der bedeutendsten Männer der Revolution, die ich nie gesehn hatte, von denen ich aber Briefe bekam; bei meinen Armen, die ich noch eifriger besuchte als zuvor und bei denen ich, die Trösterin, getröstet wurde; endlich in meinem Umgang mit der »Kleinen«. Die letztere verließ ihren Vater nie abends, um ihn nicht zu sehr den Verlust der Gattin empfinden zu lassen, aber bei ihr versammelte sich jetzt oft ein kleiner Kreis, in dem ich mich wohl fühlte. Ein gelehrter Astronom, der in der kleinen Stadt lebte, kam regelmäßig zweimal wöchentlich, um der »Kleinen« und mir Vorlesungen über Astronomie zu halten, und indem sich mir das Universum erschloß, kam es mir zuweilen vor, als seien die ephemeren Leiden dieser Erde nicht der vielen Tränen wert, die um sie fließen. Dennoch waren auch jetzt unsere Herzen voll Besorgnis. Theodor hatte, gleich nach Aufhebung des Frankfurter Parlaments, einen Artikel geschrieben, worin er offen dazu aufforderte, die Waffen zu ergreifen und eine neue radikalere Revolution zu machen als die erste. Er war unmittelbar darauf des Hochverrats angeklagt und von der Redaktion suspendiert worden, und wir erwarteten angstvoll den Ausgang seines Prozesses. Eines Abends, als unser kleiner Kreis beisammen war, erhielt die »Kleine« einen Brief von ihm. Als sie einige Zeilen gelesen hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie warf sich in meine Arme. »Er ist zu drei Jahren Festungshaft verurteilt,« sagte sie; sie wußte, daß es mein Herz so schwer traf wie das ihre. Sein Brief war mit großer Ruhe geschrieben; er suchte die Seinigen zu trösten und sagte, er hätte gewußt, was ihm bevorstände, als er den Artikel schrieb; es erschrecke ihn auch nicht, um so mehr, da er nichts mehr zu sagen hätte, nachdem sein Aufruf vergeblich geblieben sei.

Seine Tätigkeit, seine Zukunft waren also für drei Jahre paralysiert! Drei der schönsten Jahre seines Lebens, der vollen Blüte jugendlicher Kraft! Im Augenblick, als alle Träume verflogen, als alle Hoffnungen eines traurigen Todes starben, mußte er, der von Kindheit auf das Vorgefühl des Märtyrertums, zugleich aber auch den brennenden Durst nach Leben, Tat und ernstem Kampf gehabt hatte, sich in die öde Einsamkeit des Kerkers begeben! Ich litt nicht bloß für ihn, auch aufs neue für mich, die ich ihm bei dieser Gelegenheit wieder alle Fülle der Liebe hätte zeigen und durch tausend liebevolle Erfindungen die Härte seines Schicksals hätte mildern mögen. Ich hatte fest beschlossen, mich aus seinem Schicksal auszulöschen, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß das Gefühl, das unsterblich in mir lebte, in ihm gestorben sei. Aber in dem Augenblick konnte ich nicht umhin, ihm mit ein paar Worten meine Sympathie zu zeigen. Jedes reine, tiefe Gefühl hat in sich eine solche Unschuld, daß der Gedanke nicht kommt, man könne es verkennen. Wenn meine Liebe egoistischer, oder wenn ich kokett gewesen wäre, so hätte ich ihm nie wieder geschrieben, hätte den Menschen, der mich so grausam behandelt hatte, mit Stolz verlassen. Aber diese Liebe war die schönste Blüte meines Lebens gewesen, in ihr hatte sich alle Zärtlichkeit der Frau, der Mutter, der Schwester und der Freundin vereinigt, und wenn die Frau ihren heiligen Schmerz stolz in die Tiefe des Herzens verschloß, so blieben die Mutter, Schwester, Freundin, um dem Sohn, dem Bruder, dem Freund, dessen Andenken sich nicht verwischen konnte, helfend und tröstend beistehn zu wollen. Er dankte mir mit herzlichen Worten und schrieb: »Ich wußte es, wie Sie bei dieser Gelegenheit für mich fühlten.«

Ich schrieb ihm dann, meinem Vorsatz getreu, nicht wieder. Aber als Weihnachten kam, ließ ich durch die Güte eines Bekannten, der sich in der Stadt, wo Theodors Gefängnis war, aufhielt, einen Weihnachtsbaum bereiten, mit einer Menge kleiner Gaben daran, und jener Bekannte erhielt die Erlaubnis, ihm den Baum zu schicken. Ich hatte die Freude, zu denken, daß sein Gefängnis am Weihnachtsabend hell erleuchtet sein würde von den Lichtchen am Baum, daß dieser ihn wehmütig freundlich an seine Kindheit, an seine Mutter erinnern würde, und daß die Gewißheit einer unbekannten Sympathie, die ihm in die Einsamkeit des Gefängnisses folge, ein Trost für ihn sein könnte. Er hat nie erfahren, wer ihm den Baum gesandt hatte.

Ich bin hier dem Gang der Ereignisse ein wenig vorangeeilt und kehre zum Frühling 1849 zurück. Die moralischen und physischen Leiden, von denen ich gesprochen habe, hatten mich so sehr niedergeworfen, daß das Leben mir zur Qual geworden war. Ich fühlte, daß ich eine letzte energische Anstrengung machen müsse, um wenigstens die Gesundheit zu stärken und dann zu sehn, was sich tun ließe. Ich erklärte zu Haus, daß ich ein Ende machen wolle mit den vielen medizinischen Mitteln, mit denen man mich gequält und nur schlimmer gemacht hatte, und daß ich Seebäder gebrauchen wolle. Ich hatte gespart und konnte in ökonomischer Weise reisen, ohne ein Opfer zu verlangen. Die »Kleine« wollte auch mit, ebenso die Berliner Freundin, Anna, die das Frühjahr bei der »Kleinen« verlebte. Wie viel Gutes durfte ich mir von der Kur in so sympathischer Gesellschaft versprechen! Die Meinigen waren erstaunt und betroffen durch diese abermalige Extravaganz. Der Arzt zuckte die Achseln und meinte, man solle mich gehn lassen, da ich so viel Vertrauen in die Sache habe.

Der Gedanke, schon für einige Zeit dem Druck meines häuslichen Lebens zu entfliehn und das Meer wiederzusehn, richtete mich etwas auf. Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick beinahe auf uns wirkt, wie ein großes Ereignis – die uns befreien von der Last der persönlichen Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem universellen Dasein vereinen. So ist das Meer. Ich kann nicht sagen, wie oft es mir in meinen Träumen erschienen war, ehe ich es zum erstenmal sah. Ich kannte nun nur das mittelländische Meer und verlangte heiß danach, den Ozean zu sehen. Wir reisten nach Ostende. Im Eisenbahnwagen fand ich mich neben einer jungen Frau, deren sympathisches Äußere mich sehr anzog. Sie war in Gesellschaft eines ältern Herrn und einer älteren Dame. Wir kamen bald in ein lebhaftes Gespräch miteinander, und die Rede kam auf den Kampf, der damals noch in Ungarn geführt wurde. Die junge Dame schien freudig überrascht, als ich meine Sympathien für Ungarn kundgab, indem ich sagte, wie sehr ich wünschte, daß der österreichische Despotismus unterliegen möge. Sie fing von dem Augenblick an, vertrauter mit mir zu sprechen, und da wir eine Menge gemeinsamer Beziehungen und Bekannter fanden, und unsere Ansichten völlig übereinstimmten, so flüsterte sie mir endlich ihren Namen in das Ohr, den eines bekannten ungarischen Patrioten, Franz Pulszky, dessen Frau sie war. Sie ging nach England zu ihrem Mann, der von der republikanischen ungarischen Regierung dorthin geschickt worden war. Natürlich reiste sie mit einem falschen Paß und erzählte mir die Geschichte ihrer Abreise aus Ungarn durch die Reihen der österreichischen Armee, die die Grenze besetzt hielt. Die alten Leute, die sie begleiteten, hatten sie zufällig in der Nähe der Grenze getroffen und, ohne sie zu kennen, ihre Lage nur erratend, unter ihrem Schutz durch das feindliche Lager geführt, indem sie sie für ihre Tochter ausgaben; während der Reise aber hatten sie eine große Zuneigung zu ihr gefaßt und begleiteten sie nun durch ganz Deutschland und Belgien bis nach Ostende, wo sie sich einschiffen wollte. Diese Erzählungen interessierten mich so sehr, daß ich für den Augenblick alles übrige vergaß. Sie hatte ihre jungen Kinder unter dem Schutz eines Freundes, inmitten des vom Bürgerkrieg zerrissenen Landes zurücklassen müssen; das jüngste war in einer Bauernhütte geboren, während der Flucht der Mutter vor den österreichischen Soldaten. Man konnte kaum glauben, daß diese junge, zarte Frau schon so vielen Stürmen, so vielem Ungemach Trotz geboten hätte; aber sie hatte eine starke Seele, die sich nachher, in den schweren Prüfungen des Exils, in ihrer ganzen Stärke zeigte.

In Ostende angekommen, begleiteten wir sie alle abends zum Schiff, das sie nach England führen sollte. Ihre alten Begleiter blieben noch einige Tage in Ostende, in demselben Gasthof, wo wir wohnten, und wir wurden näher mit ihnen bekannt. Der alte Mann war ein deutscher Sozialist, einer der frühen Apostel des Sozialismus, die, weil sie noch zu allein standen, hinüberflüchteten über den Ozean, um in der neuen Welt die Verwirklichung ihrer Theorien zu versuchen. Er hatte sein Vermögen dabei geopfert und war, nach dem Mißlingen seiner Unternehmung, nach Europa zurückgekehrt, woselbst ihn ein Ungar beredet hatte, nach Ungarn zu gehen, als dem geeignetsten Land, sozialistische Ideen zu verwirklichen. Viele Jahre hatte er in Ungarn verbracht und nur dieselben Enttäuschungen erlebt wie in Amerika. Die Revolution und der Krieg hatten schließlich allen Träumen ein Ende gemacht, und er war im Begriff, mit seiner Frau nach Deutschland zurückzukehren, als sie die erwähnte junge Dame trafen, deren Beschützer sie wurden. Ich hatte lange Unterredungen mit ihm über theoretischen und praktischen Sozialismus. Als wir schieden, schrieb er mir in mein Reisebuch: »Alle politischen Revolutionen werden zu nichts helfen, bis man das Mittel gefunden haben wird, den großen Unterdrücker der Menschheit, den Hunger und alles Elend, das sein Gefolge ist, zu bekämpfen.«

Der Aufenthalt in Ostende war für mich eine wirkliche physische und moralische Auferstehung. Einige interessante Bekanntschaften erhöhten noch die Wohltat, die diese Zeit an mir ausübte. Unter diesen Bekanntschaften war eine, die uns besonders fesselte. Wir hatten einen katholischen Priester bemerkt, der immer allein spazieren ging und gewöhnlich wie wir zu den Stunden, wo nicht viel Menschen auf den Spaziergängen waren. Er war uns aufgefallen durch seine außergewöhnliche Schönheit. Eines Tages saßen wir alle drei am Abhang des Damms nahe am Meer, und Anna hielt ihren sehr kleinen und zierlichen Fuß den Wellen entgegen, die ihn spielend mit Schaum bespritzten. Wir waren heiter, scherzten und lachten miteinander, und ganz zufällig wandte ich den Kopf rückwärts und sah den Priester hinter uns stehen, der mit feinem, aber wohlwollendem Lächeln uns zusah. Ehe wir es uns versahen, hatte er sich zu uns gesetzt und, als ob wir uns längst gekannt hätten, fing er ein Gespräch an, das bald von beiden Seiten sehr lebhaft wurde, auf religiöse Gegenstände überging und sich besonders auf den Zustand des Protestantismus in Deutschland und auf die überall entstehenden freien Gemeinden bezog. Diese letzteren, die, unter dem Namen des Deutschkatholizismus, sich von der bestehenden Kirche losgesagt hatten, schienen ihn sehr zu beschäftigen. Er sah sie natürlich als traurige Verirrungen an, da es für ihn nur eine wahre Kirche gab. Als ich ihm den Glauben an die Wunder entgegenhielt und ihn fragte, wie er den verteidigen wolle, erwiderte er, daß der nur ein Mittel sei, die schwachen Seelen und die unwissenden Massen zu stärken; die aufgeklärten Diener der Kirche glaubten selbst nicht daran und er sei gar kein wesentlicher Bestandteil der Dogmen. Er verwies uns an Bossuet und sagte, daß allein durch diesen großen Mann wir den wahren Katholizismus verstehen könnten.

Wir trennten uns, als ob wir alte Bekannte wären, und von nun an begegneten wir uns täglich, gingen stundenlang zusammen und hatten die ernstesten Diskussionen. Ich sprach am geläufigsten französisch von uns dreien, und so war ich es meist, die ihm erwiderte und tapfer das Feld behauptete. Er wandte alle Feinheiten der Dialektik, alle Argumente der Einbildungskraft und des Gefühls an, um uns zu überzeugen, aber er sah, daß es vergebliche Mühe war. Endlich wurde er böse, und eines Abends, als ich ihm gesagt hatte, ich glaube weder an die Gottheit Christi, noch an die Bibel als göttliche Offenbarung, noch an den beschränkten persönlichen Gott, den die Kirche lehre, da rief er zornig: »Also sind Sie nicht einmal mehr Protestantin?«

»Nein,« antwortete ich, »ich habe es Ihnen ja bewiesen, daß es etwas gibt, was über den Protestantismus hinausgeht: der freie Gedanke und das Recht, alles am Lichte der reinen Vernunft zu prüfen.«

»Sie sind verloren und ich bedaure Sie,« sagte er, indem er kaum grüßte und uns eilig verließ. Die folgenden Tage sahen wir ihn nur noch von fern; er vermied uns sichtlich; dann verschwand er ganz. Wir erfuhren nachher, daß er ein belgischer Jesuit war, und konnten nicht umhin zu lächeln bei dem Gedanken, wie unangenehm es ihm gewesen sein mochte, so viele Mühe umsonst verschwendet zu haben. Mir hinterließ diese Begegnung ein Gefühl der Befriedigung, denn es war das erstemal, daß ich die Freiheit meiner religiösen Überzeugungen so völlig ausgesprochen und verteidigt hatte. Der Kampf für eine Idee macht sie uns teuer und macht uns unsrer selbst gewisser.

Unsere Abreise kam heran und zu gleicher Zeit die traurigen Nachrichten der Unterdrückung der badischen Revolution durch die preußische Armee und des Falls Ungarns durch Görgeis Verrat. Es war vorbei mit der Freiheit der Völker und mit meiner individuellen Freiheit. Alles mußte wieder unter das Joch. Auf der Reise führte uns der Zufall in denselben Eisenbahnwagen, in dem ein preußischer Offizier zweien Damen von den Heldentaten der Soldaten in Baden erzählte, von der Strafe, die man über diese »revolutionäre Kanaille« verhängt usw. – Wir waren außer uns vor Zorn, dies ruhig mit anhören zu müssen, und beeilten uns, auf der nächsten Station einen andern Wagen aufzusuchen.

Der Winter, den ich nun zu Haus zubrachte, war noch trauriger als alle vorhergehenden. Meine Gesundheit war besser, aber meine Lage wurde immer schlimmer. Ich wurde ganz wie ein schuldiges Wesen behandelt, und jedes Vertrauen zwischen mir und meiner Familie hatte aufgehört. Mein Schwager richtete kaum noch das Wort an mich; selbst meine Nichten, junge, unbefangene Mädchen, waren zurückhaltend und verlegen in meiner Gegenwart. Ich hatte durch die »Kleine« die Bekanntschaft einer verheirateten Dame gemacht, zu der ich wöchentlich einmal abends ging, um mit ihr und einem jungen, sehr geistvollen Arzt, der auch Demokrat war, die »Philosophie der Geschichte« von Hegel zu lesen. Auch diese Abende waren in meinem Hause nicht gern gesehen. Ich fühlte das Bedürfnis, die Kenntnisse, die ich erwarb, auch für andere nützlich zu machen. Ich fing bei unseren Dienstmädchen an und ging von Zeit zu Zeit, um ihnen, während sie nähten, klarere Begriffe beizubringen, z. B. über die Bewegung der Erde um die Sonne, den Wechsel der Jahreszeiten usw. Sie waren entzückt darüber und sagten: »Ach, Fräulein, wenn doch alle dächten wie Sie, daß wir armen Menschen auch Freude daran haben, etwas zu lernen! Wie würde uns das die Arbeit leichter machen, dabei an so schöne Dinge zu denken.« – In früheren Zeiten würde meine Mutter nicht nur nichts gesagt haben, sie würde im Gegenteil froh gewesen sein, mich so etwas tun zu sehn. Jetzt glaubte sie, ich wolle Propaganda machen für meine extravaganten Ideen, und machte mir Vorwürfe, daß ich den Mädchen die Zeit nützlicher Arbeit verderbe. Ich erwiderte, daß ich nichts wollte, als die Leere der Gedanken während der Handarbeit durch Beschäftigung mit guten Kenntnissen füllen. Sie, die sonst nie streng war mit bezug auf Arbeit der Dienstboten, antwortete mir in harter Weise; ich wurde auch böse, durch ungerechte Vorwürfe verletzt, und sagte ebenfalls harte Worte, die ich sogleich bitter bereute, die aber das unvermeidliche Resultat eines solchen Kampfes der Grundsätze und Ansichten, in einer Zeit harter Konflikte, waren.

Ich fühlte, daß unsere gegenseitige Liebe unter diesen ewigen täglichen Zusammenstößen und Aufregungen untergehn müsse, und daß es nur ein Mittel gäbe, sie zu retten: Trennung.

Zum erstenmal sagte ich es mir ganz klar, daß man sich von der Autorität der Familie befreien muß, so schmerzlich es auch sein mag, sobald sie zum Tod der Individualität führt und die Freiheit des Gedankens und Gewissens einer bestimmten Form der Überzeugung unterwerfen will. Freiheit der individuellen Überzeugungen und ein Leben diesen gemäß – ist das erste der Rechte und die erste der Pflichten eines Menschen. Bis dahin hatte man die Frauen von diesem heiligen Rechte und dieser ebenso heiligen Pflicht ausgeschlossen; nur die Kirche und die Ehe hatten das Mädchen berechtigt, den Platz in der Familie, den ihm die Natur angewiesen, zu verlassen. In der katholischen Kirche erlaubte man der Jungfrau, nicht nur die Familie für das Kloster zu vertauschen, sondern man machte ihr ein Verdienst daraus, und durch die Ehe verließ sie ebenfalls die Familie und folgte dem Gatten. Aber auf den anderen Gebieten der menschlichen Tätigkeit hatte man es den Frauen untersagt, eine Überzeugung zu haben und ihr gemäß zu handeln. Ich sah ein, daß es Zeit sei, dies Verbot aufzuheben, und ich sagte mir, daß ich mich selbst nicht mehr würde achten können, wenn ich nicht den Mut hätte, alles zu verlassen, um meine Überzeugungen durch die Tat zu rechtfertigen. Als mein Entschluß gereift war, dachte ich nur noch an die Ausführung. Ich sah nur ein Mittel vor mir: nach Amerika zu gehn – auf eine junge Erde, wo die Arbeit keine Schmach war wie in Europa, sondern ein Ehrentitel, durch den der Mensch seine Rechte in der Gesellschaft beurkundet. Für meine Existenz zu arbeiten wurde übrigens dann nicht bloß eine Konsequenz meiner Ansichten, sondern auch eine Notwendigkeit, denn mein kleines ererbtes Vermögen hätte höchstens zur Reise und zur ersten Niederlassung dort ausgereicht. Irgendwo in Deutschland als Erzieherin eintreten, wäre eine zu große Prüfung für meine Familie gewesen, und man hätte es mir nicht erlaubt. Außerdem hatte ich auch den Wunsch, dieses alte Europa zu verlassen, wo jeder Versuch, die Freiheit zu verwirklichen, mißlang; wo der Despotismus in Staat, Religion und Familie die Völker, die Gedanken und die Individuen unterdrückte. Ich wünschte es auch endlich deshalb, um mich für immer von dem zu entfernen, dessen Andenken nicht in mir erlöschen wollte, um jenem vergeblichen Weh, daß ich sein Gefängnis weder öffnen noch teilen konnte, ein Ziel zu setzen. Auf dem Boden der neuen Welt wollte ich das Leben neu nach meinen Grundsätzen beginnen.

Der gefaßte Entschluß gab mir eine große innere Ruhe und machte mich weniger empfänglich für die äußeren Verstimmungen. Ich wurde immer nachgiebiger und geduldiger in der Familie, im geheimen Gedanken, sie auf immer zu verlassen. Dieser Gedanke war mir tief schmerzlich, dennoch fühlte ich, daß in ihm die einzige Versöhnung, die einzige Möglichkeit lag, das, was ewig in unserem Verhältnis war, zu retten. Es versteht sich, daß ich nicht von diesen Vorsätzen sprach; man würde sie für Tollheit erklärt und mich an der Ausführung gehindert haben. Nur der »Kleinen« sprach ich davon und schrieb darüber an einen der edelsten Demokraten der Revolution, Julius Fröbel, der bereits seit einiger Zeit in Amerika war, um ihn um Rat zu fragen, da ich mit ihm in brieflichem Verkehr war und ihn hochschätzte. Er antwortete mir: »Kommen Sie!« und ermutigte mich auf alle Weise.

So war ich denn fest entschlossen. Das Leben, das mich umgab, löste sich innerlich von mir ab und ich atmete schon die Luft einer neuen Heimat. Jetzt galt es nur noch, das Mittel zu finden, um die Ausführung meines Vorhabens weniger hart für die Meinen zu machen und mir schmerzliche und unnütze Kämpfe zu ersparen.

Zu der Zeit hörte ich von mutigen und begeisterten Frauen, die, denselben Ideen huldigend, wie ich, in Hamburg eine Hochschule für das weibliche Geschlecht eröffnet hätten, an der den Mädchen dieselben vollständigen Mittel zu geistiger Entwicklung geboten werden sollten, wie dies auf den Universitäten für die jungen Männer der Fall ist. Ganz besonders sprach man mir von der Frau, die an der Spitze der Unternehmung stand und deren energischen edlen Charakter man mir in solcher Weise pries, daß ich große Lust bekam, ihre Bekanntschaft zu machen. Das Mittel des Übergangs schien mir gefunden; ich beschloß zunächst in diese Hochschule zu gehen und von da nach Amerika. Alles schien zusammenzutreffen, um mir diesen Weg zu zeigen. Der Professor, den man mit seiner Frau an die Spitze der Anstalt berufen hatte, war der Bruder des eben erwähnten Freundes, der mich in Amerika erwartete. Ich bewunderte innerlich die Verkettung von Ursache und Wirkung und die Notwendigkeit, mit der die Entwicklung unseres Charakters unser Schicksal wird. In dieser Logik der Dinge selbst erkannte ich die wirkliche Gottheit, die unser Leben regiert, und ich neigte mich demütig vor diesem Mysterium, das mir viel erschütternder erschien, als mir je die Mysterien des Christentums erschienen waren.

Ich nahm meinen Mut zusammen und sagte meiner Mutter, daß ich von diesem Kolleg hätte sprechen hören und mich entschlossen hätte, für drei Monate dorthin zu gehen. Ich fügte hinzu, daß sie wisse, welchen Durst zu lernen ich stets gehabt hätte, und daß ich wünschte, die Lücken meines Wissens soviel als möglich auszufüllen. Auch verhehlte ich ihr nicht, daß ich glaubte, eine Trennung auf einige Zeit werde uns gegenseitig gut tun, um die Gereiztheit zu beruhigen, die sich von der einen und der andern Seite entwickelt hatte, und um der alten Liebe zwischen uns wieder zu ihrem vollen Recht zu verhelfen. Ich war froh überrascht, weniger Widerstand zu finden, als ich gefürchtet hatte. Meine Mutter fühlte selbst, daß mein zweites Argument richtig war; sie hoffte auch vielleicht im stillen, daß ein solcher Wechsel mich beruhigen und zu »gemäßigteren Ansichten« führen werde. Sie erklärte sogar, mich an den Ort meiner Wahl hinbringen zu wollen, um sich zu versichern, ob die Anstalt passend sei. Ich bereitete also meine Effekten zur Reise, mit dem geheimen Gedanken, nicht zurückzukommen. Es schien mir, als mache ich mein Testament. Ich schloß ab mit der Jugend, den Träumen der Vergangenheit und ging entschlossen der Aufgabe des reiferen Alters, der Tat entgegen. Ich wollte meinen Platz im Leben als ein verantwortliches Wesen, das sein Geschick nach seinen Grundsätzen bildet, erobern. Die Ruhe, die jeder mutige Entschluß gibt, der einer Idee entsprossen ist, die unserem Leben zur Richtschnur wird, kam über mich. Ich durchstrich noch einmal all die Orte, wo die Seele des jungen Mädchens zuerst ihre Schwingen entfaltet, wo eine reine Liebe ihr die Welt verklärt hatte. Ich nahm in Gedanken Abschied von dem Gefängnis, wo der lebte, der mir eine Zukunft als Gattin und Mutter unmöglich gemacht hatte. Noch einmal lieben, wie ich ihn geliebt hatte, schien mir unmöglich, und ohne eine solche Liebe schien mir die Ehe eine Entweihung. Ich hatte andere Ziele gewählt; ich diente einer Idee, ich kämpfte für ein Prinzip.

Ich schrieb ihm nicht. Die Entscheidung, die ich getroffen hatte, stärkte mich in diesem Entschluß. Ich liebte ihn noch tief und schmerzlich, aber ich konnte nicht umhin, in dieser wunderbar ausgestatteten Natur eine Klippe zu sehen, an der er vielleicht selbst, jedenfalls aber noch manches andere Herz in bitterem Weh scheitern würde, und die ich nicht anders bezeichnen kann, als wie den Don-Juanismus des Ideals. So wie der sinnliche Don Juan in jeder schönen Form Befriedigung der Sinne sucht, so sucht der andere Don Juan in jeder schönen Seele das Ideal, von dem seine Phantasie erfüllt ist. Er hält den Zug, der ihn zu diesem oder jenem Wesen hinzieht, für die bleibende Liebe, und doch genügt ein Blick, eine Melodie, ein augenblickliches sympathisches Empfinden, um seine Phantasie anderswo zu fesseln. Er ist sicher der Gefährlichere von den beiden, denn die Wunden, die er schlägt, treffen edle Herzen und sind unheilbar, weil man auch in ihm das Ideal geliebt hat.

Ich wußte durch die »Kleine«, daß ihr Bruder nach jener Frau, um derentwillen er mich verlassen hatte, noch mehreren edlen weiblichen Wesen nähergetreten war, ohne daß eine dieser Neigungen sein Leben ausgefüllt und sein Geschick bestimmt hätte. Jetzt, im Gefängnis, schien ihn ein neues Gefühl einzig zu beherrschen. In der ersten Zeit seiner Gefangenschaft hatte er einen überraschend schönen, geistvollen Brief von einer unbekannten Dame erhalten, die ihm die Sympathie, mit der sie stets seine Artikel gelesen, und die Teilnahme, mit der sein Geschick sie erfüllte, ausdrückte, die aber nur ihren Vornamen unterzeichnet hatte, da sie ihm gleichsam eine mythische Person bleiben zu wollen schien. Betroffen von dem Geisteszauber, der ihn aus diesen Zeilen anwehte, hatte er nicht nachgelassen, bis er, durch Poststempel usw. geleitet, die Schreiberin ausfindig gemacht hatte. Von nun an hatte sich ein regelmäßiger Briefwechsel zwischen ihnen gebildet, der das Gefängnis mit Reiz erfüllte. Die Schreiberin zeigte mehr und mehr einen Geist von solcher Fülle, Tiefe und Originalität, daß ihr Bild in des Gefangenen Phantasie sich mit allen Vorzügen schmückte und jede frühere Neigung davor erstarb. Er träumte nur von einer Vereinigung mit ihr, nach Ablauf seiner Gefangenschaft.

Ehe ich dies wußte, hatte ich mehreremal den Gedanken gehabt, ihm anonym zu schreiben und mich nicht eher zu offenbaren, als bis er gefühlt hätte, daß zwischen uns eine unsterbliche Gemeinschaft sei. Nun ich wußte, daß eine andere auf diese Art Besitz von seiner Dichterphantasie genommen hatte, fühlte ich, daß ich eine unübersteigliche Scheidewand zwischen uns ziehen müsse. Mein Trost war, daß nicht ich die Treue, dieses heilige, urdeutsche Gefühl, gebrochen hatte. Der Unterschied unter uns war der: ich hatte ihn mit der großen weiblichen Liebe geliebt, die das ganze Leben umfaßt; er mich mit der Liebe des Dichters, die nur eine Phase seines Lebens ist.

Der Tag der Abreise kam; ich verbarg meine Bewegung, als ich Abschied von meiner Familie nahm; ich glaubte, daß es für immer sei. Die Trennung von der »Kleinen« war tief schmerzlich, denn wir wußten beide, was sie zu bedeuten hatte, aber wir wußten auch, daß wir den gleichen Weg zum gleichen Ziele gingen, und das erhob uns über den Schmerz.

Ein großer Kummer war es mir, meine Armen zu verlassen. Ihnen gehörte meine letzte Fürsorge und Zärtlichkeit. Die letzte, zu der ich vor meiner Abreise ging, war ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, die ganz allein stand in der Welt, beinah blind war und nichts mehr tun konnte als stricken, was sie denn auch den ganzen Tag in einer kleinen, halbdunkeln Stube tat, wo sie von dem geringen Beistand, den ihr die Gemeinde gab, lebte. Ich hatte oft stundenlang bei ihr gesessen, um die Grabes-Einförmigkeit ihres Lebens durch belehrende Gespräche zu vermindern, die ihr Gegenstände des Nachdenkens in ihrer Einsamkeit hinterließen. Als ich sie verließ, in der Meinung, sie nicht wiederzusehn, ließ ich etwas Geld auf ihrem Tisch zurück, als eine letzte Gabe. Doch fand ich vor der Abreise noch einen freien Augenblick, den ich benutzte, um sie noch einmal zu besuchen. Da sagte sie, sie habe mir etwas zu gestehen; sie habe das Geld, das sie auf ihrem Tisch gefunden, einem armen Mädchen vom Lande gegeben, das, durch einen schlechten Menschen verführt, dann von ihm verlassen, nun auch von den übrigen Menschen zurückgestoßen, mit ihrem Kind im äußersten Elend wäre. »Ich dachte,« setzte sie hinzu, »daß sie des Geldes mehr bedürfte als ich; ich habe wenigstens soviel, um nicht Hungers zu sterben, und ich habe kein Kind.«

Mir fiel der Pfennig der Witwe ein; ich beugte leise und gerührt mein Haupt, als die Halbblinde mich zum Abschied segnete, und fühlte, daß mich dieser Segen von der Geringschätzung rein wusch, mit der mich meine Bekannten von ehedem behandelten, denen ich übrigens zum größten Teil gar keinen Abschiedsbesuch machte.


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