Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Sechstes Kapitel

Die erste Revolution

Mein Vater war mit dem Fürsten in ein entferntes Bad gereist, wo der letztere eine Kur brauchen sollte. Plötzlich verbreitete sich die Nachricht, der Fürst sei dort gefährlich erkrankt. Man flüsterte sich zu, die Wirklichkeit sei noch schlimmer als die Nachricht, ja man sprach von Todesgefahr. Das Land war in großer Aufregung. Die Nachrichten über die Julirevolution waren kurz zuvor aus Frankreich gekommen. Ein elektrischer Strom durchzuckte Europa. Alle Elemente der Unzufriedenheit, die seit langem in den Völkern gärten, wollten an das Licht. Ich hörte zum erstenmal das Wort Revolution.

Ich war von dem allem sehr aufgeregt. Ein Vorgefühl von Dingen, die eine bis dahin ungekannte Wichtigkeit ahnen ließen, erfüllte mich. Aber wie es bei Kindern zu gehen pflegt, so hatten meine Gefühle einen ganz persönlichen Charakter: ich fürchtete Gefahren für meinen geliebten Vater. Die Unzufriednen im Lande erhoben ihre Stimme und sagten, der Fürst habe die Reise nur seiner Maitresse zuliebe unternommen, der man die Bäder verordnet hatte. Man klagte deshalb alle an, die sich im Gefolge des Fürsten befanden, und mein Vater war die Hauptperson darunter. Man behauptete auch, die Wahrheit werde verhehlt, um den legitimen Thronerben zu hindern, aus der Verbannung zurückzukehren. Endlich murrte man, daß das Land sich in einem so kritischen Augenblick ohne Regierung befände. Die liberale Partei schrieb den Namen des Thronerben und seiner Mutter auf ihr Banner und verlangte stürmisch deren Zurückberufung.

Meine Familie sah voll Angst die schweren Wolken, die sich mehr und mehr über dem Haupt meines Vaters zusammenzogen. Ich zitterte für ihn, ohne die ganze Tragweite der Ereignisse zu verstehen, und ich erinnere mich sehr wohl des Augenblicks, wo ich, von einer plötzlichen Eingebung erfaßt, mich zu Gott, als dem höchsten Helfer, wendete. Allein, die Augen zum Himmel erhoben, als sollten sie durch die Himmelsräume bis zum Thron des Allmächtigen dringen, richtete ich ein glühendes Gebet an ihn. Ich versprach ihm, die einzige schlechte Neigung, deren ich mir bewußt war, zu überwinden, wenn er das Leben des Fürsten erhalten wolle, von dem, wie ich mir vorstellte, die glückliche Heimkehr und die Ruhe meines Vaters abhing.

Man möge über diesen kindlichen Vertrag lachen, wenn man will, aber es war das doch der Glaube, der Berge versetzen kann, der bittet und sich erhört fühlt. Gott nahm auch meinen Vertrag an. Es kamen bessere Nachrichten, das Leben des Fürsten war außer Gefahr. Aber ehe er so weit hergestellt war, um reisen zu können, waren Unruhen in mehreren Teilen von Deutschland, und auch in unserem Lande, ausgebrochen. Man wünschte die Rückkehr des Fürsten, aber nicht die seiner Maitresse. Sie wurde an der Grenze in so bedrohlicher Weise empfangen, daß sie es für besser fand, umzukehren. Der Fürst kam allein in Begleitung meines Vaters. Es rührte mich sehr, als ich ihn zum erstenmal zu Fuß vom Schloß in das Ministerium gehen sah. Er war blaß, gealtert, sein Gang unsicher, sein Haar ergraut.

Wenige Tage später kehrten seine legitime Gemahlin, der Erbprinz und dessen Schwester zurück. Diese Menschen, durch die engsten natürlichen Bande vereinigt, begegneten sich wieder, nach jahrelanger Trennung, auf den Befehl ihrer Untertanen. Man feierte die Versöhnung, von der die Herzen der Beteiligten nichts wußten, als ein öffentliches Fest. Der Fürst und seine Familie zeigten sich den Volksmassen, die den großen Platz vor dem Schloß bedeckten, auf dem Balkon. Enthusiastische Freudenbezeugungen empfingen sie und steigerten sich bis zum ausgelassensten Jubel, als der Fürst ein zweites Mal auf dem Balkon erschien, umgeben von den Abgesandten des Volks, unter denen sich die fanatischesten Liberalen befanden, und versprach, was das Volk durch ihren Mund verlangt hatte: eine Konstitution.

Mein Vater begab sich nun mit Eifer an ihre Ausarbeitung. Er entwarf sie auf so breiter und freier Grundlage, wie nur möglich. Aber er war tief gekränkt durch die ungerechten Angriffe, deren Gegenstand er fortwährend, trotz seiner reinen Absichten und seines unermüdlichen Eifers, war. Man beschuldigte ihn, im Einverständnis mit der Maitresse gehandelt und bei der Verteilung von Gunstbezeugungen an Leute, die es nicht verdienten, gegen die Fürstin und den Erbprinzen intrigiert zu haben, kurz, das Instrument des Despotismus gewesen zu sein, während er den despotischen Neigungen des Fürsten stets zum Besten des Landes energischen Widerstand geleistet und sich des Beistandes der Maitresse nur bedient hatte, um Akte der Gerechtigkeit und Redlichkeit durchzusetzen.

Wie oft hatte ich nicht meine Mutter mit tödlicher Angst den Ausgang der Szenen im Schloß erwarten sehen, wo mein armer Vater allein gegen die unbezähmbaren Leidenschaften eines Menschen, in dessen Händen das Geschick von Tausenden lag, kämpfte. Ich fing an die zu hassen, die ihn verkannten, als ich sah, wie die Sorge in seinem verehrten Antlitz Furchen zog und wie das wohlwollende Lächeln, das es sonst verschönte, nie mehr darauf erschien. Ich nahm leidenschaftlich Partei für ihn gegen die Revolutionäre, doch wagte ich es nicht, im betrübten Familienkreis dem, was in meinem Herzen kochte, Luft zu machen. Konnte ich aber meinem Zorn nicht mehr gebieten, dann flüchtete ich mich in das Zimmer der Dienstboten und hielt da glühende Reden über die Tugenden meines Vaters und die Bosheit seiner Feinde.

Der Herbst kam; die Aufregung im Volke dauerte fort, und aufrührerische Szenen erneuerten sich von Zeit zu Zeit. Der Fürst hatte sich in seine Sommerresidenz zurückgezogen, die eine Stunde von der Hauptstadt entfernt lag, unter dem Vorwande, daß seine Gesundheit der Ruhe bedürfe, in Wahrheit wohl aber nur, um ferner von dem Sitz des Aufruhrs zu sein. Die älteste seiner illegitimen Töchter, ein junges Mädchen von großer Intelligenz und edlem Charakter, war bei ihm. Die Fürstin und der Erbprinz waren in der Stadt. Mein Vater befand sich bei dem Fürsten in der Sommerresidenz, doch kam er täglich zur Stadt gefahren, um im Ministerium an dem Konstitutionsentwurf zu arbeiten.

Mit Angst erwartete ich jeden Morgen am Fenster den Wagen, der ihn brachte, und es war mir tieftraurig, daß er kaum die Zeit hatte, uns zu begrüßen. Die Besuche, die wir ihm in der Sommerresidenz machten, waren auch wenig befriedigend. Wir mußten stets im geschlossenen Wagen fahren, denn das unwissende Volk schloß in seinen Haß gegen die einzig Schuldigen nicht nur meinen Vater ungerechterweise, sondern auch seine ganze Familie ein, und wir konnten es erwarten, daß man unsern Wagen mit Steinen bewerfen würde, hätte man uns erkannt. Ich hatte gar keine Angst wegen einer persönlichen Gefahr, aber ich fühlte uns alle von einem traurigen, fürchterlichen Schicksal bedroht, und ich war tief beleidigt, daß die Unschuldigen leiden mußten. Der schöne Aufenthalt meines Vaters, in dem ich so viele glückliche Stunden der Kindheit verbracht hatte, erschien mir jetzt wie eine Art Gefängnis, über dem eine düstere Zukunft schwebte.

Eines Tages wurde die Stadt alarmiert durch die Nachricht, daß die verhaßte Maitresse heimlich auf dem Lustschloß angekommen sei, daß man die Flucht des Fürsten vorbereite, daß man die Arbeit an der Konstitution suspendieren wolle, daß man einen Staatsstreich beabsichtige, und was der Gerüchte mehr waren. Das war der Funken, der in die Pulvermine fiel. Im Nu waren die Straßen von tobenden Massen erfüllt, die sich dann, unter der Leitung ihrer Führer, zu einem ungeheuren Zuge ordneten und mit Geschrei und Drohungen der Sommerresidenz zuzogen. Die meisten Bewohner unseres Hauses waren ausgegangen, um die Ereignisse zu verfolgen und die Rückkehr der Volksmassen zu beobachten. Der jüngste meiner Brüder, ein Knabe von sechzehn Jahren, ein Diener und der alte Schreiber meines Vaters bildeten das ganze männliche Personal, das im Hause zurückblieb. Außerdem waren meine Mutter, die alte Tante, meine jüngere Schwester, ich und einige Dienstmädchen zu Haus. Im ersten Stock war die fürstliche Kanzlei mit wichtigen Papieren. Der alte Schreiber saß darin wie ein Soldat auf seinem Posten und erwartete die Ereignisse. Die Stadt war beinah leer, denn die lärmende Prozession, die nach dem Lustschloß gezogen war, brauchte mehrere Stunden, ehe sie zurückkehren konnte. Die übrigen Einwohner blieben still in ihren Häusern. Von unseren Fenstern aus konnte man die lange Straße hinunter bis zum Tor hinsehen, von wo der Weg zum Lustschloß führte. Nach einigen Stunden angstvoller Erwartung hörten wir einen Lärm, dem fernen Rauschen des Ozeans ähnlich. Bald sahen wir eine dichte, schwarze Masse in der Ferne erscheinen, die sich langsam heranbewegte und die Straße ihrer ganzen Breite nach ausfüllte. Ein Mann von ungewöhnlicher Größe ging voraus und schwang einen dicken Stock in der Hand. Dies war ein Bäcker, der das Haupt der Bewegung geworden war. Plötzlich hielt er vor unserem Hause still und mit ihm die ganze Masse, die ihm folgte. Er erhob seinen Stock gegen unsere Fenster und stieß furchtbare Verwünschungen aus. In demselben Augenblick erhoben sich Tausende von Händen und Stöcken und Tausende von Stimmen schrieen und brüllten. Kaum daß wir Zeit hatten, uns von den Fenstern zurückzuziehen, so flogen schon große Pflastersteine gegen die Fenster des ersten Stocks und einige erreichten sogar den zweiten Stock, den wir bewohnten. Zu gleicher Zeit erfolgten heftige Schläge gegen die Haustür. Mein junger Bruder hatte die Geistesgegenwart gehabt, beim Herannahen der Volkshaufen die Türe zu schließen und die inneren Riegel vorzuschieben. Die wütende Menge wollte die Türe mit Gewalt öffnen, und Gott weiß, welches unser Schicksal gewesen wäre, wenn nicht zu rechter Zeit Hilfe gekommen wäre. Zwei junge Offiziere zu Fuß brachen sich Bahn durch die Menge. Es waren der Erbprinz und sein Adjutant. Sie stellten sich vor unsere Tür und der Erbprinz richtete einige Worte an die Aufrührer, befahl ihnen auseinanderzugehen und sich zu beruhigen, und versprach, daß ihre gerechten Wünsche gehört und befriedigt werden sollten. Dieser Beweis von Mut machte einen großen Eindruck. Zu gleicher Zeit sah man langsam eine Abteilung Kavallerie, den gezogenen Säbel in der Hand, die Straße herabziehen. Die Massen fingen an sich zu zerstreuen, indem sie immer noch Verwünschungen und Drohungen ausstießen. Nachdem die Straße gesäubert war, kam der Prinz zu uns herauf, um meiner Mutter sein Bedauern und seine Teilnahme auszusprechen und ihren Dank zu empfangen. Am Abend waren die Zimmer meiner Mutter voller Menschen. Freunde und Bekannte eilten herbei, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen. Mehrere Anführer der liberalen Partei, in der Uniform der Nationalgarde, befanden sich darunter.

So endete die lichterfüllte Zeit der ersten Kindheit unter den Donnerschlägen, die einen großen Teil Europas erschütterten. Die glückliche Sorglosigkeit des ersten kindlichen Alters war vorbei. Ich hatte zum erstenmal eine große tragische Wirklichkeit sich vor mir auftun sehen, und ich hatte leidenschaftlich Partei genommen in einem Konflikt, der allgemeiner Natur war. Natürlich war es für jetzt noch mein Herz, das mein Urteil leitete; es verstand sich, daß die, die ich liebte, recht haben mußten. Aber mein Blick fing an, einen weiteren Horizont zu umfassen. Ich begann Zeitungen zu lesen und den politischen Ereignissen mit großem Interesse zu folgen. Zwar spielte ich noch mit meinen Puppen, doch fühlte ich mich auf der Schwelle eines neuen Lebens. Ich hatte eine zweite Taufe empfangen durch die Hand der Revolution.


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