Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Fünftes Kapitel

Die Familie der freien Wahl

Als ich mich wieder dem Dunstkreis näherte, der über der ungeheuren Weltstadt wie ein dunkler Raubvogel über der zu verschlingenden Beute lauert, fiel mir unwillkürlich der Chor aus Fidelio ein, als die Gefangenen zurück müssen in den Kerker und mit schmerzlicher Wehmut singen »Leb wohl, du schönes Sonnenlicht, nun schwindest du uns wieder.« Für den, der in diesem Weltstrom mitschwimmen will, um das goldne Eiland des Gewinns und des Genusses, nach dem die meisten streben, zu erreichen, oder für den, den die Gegensätze, die das Leben so großer Städte bietet, als Studium interessieren, oder endlich für den, der an einem der großen Zentren des politischen Lebens zu weilen vorzieht, für diese alle mag London ein Eldorado sein, zu dem Herz und Sinne mit Sehnsucht zurückeilen. Wem es aber in der Wiege mitgegeben war, lieber den Offenbarungen zu lauschen, die aus Luft und Wellen, aus Vogelsang und grünem Laubwald tönen, oder da zu weilen, wo im ernsten Kampf der Geister die großen Weltgedanken sich der Nacht des Chaos entringen, das sie unserem sterblichen Auge birgt, dem ist die Rückkehr nach London, wenn er, wie ich, in das Tret-Rad des Stundengebens hinein muß, eine Rückkehr aus der Freiheit ins Gefängnis.

Ich fand nur wenige meiner Schülerinnen vor, da es noch weit vom Anfang der Saison war und die meisten Familien noch auf dem Lande waren. Aber im Herzenschen Hause fing ich alsbald meine Stunden wieder an und freute mich der holden Kinder, die mir wahre Blumen in der Wüste waren. Eines Abends führte mich mein Weg am Hause vorbei, und da ich am Morgen nicht dagewesen war, so ging ich hinein, um zu sehen, wie es den Kindern gehe. Ich traf Herzen mit ihnen unten im Eßzimmer und sah, daß er verstört und traurig aussah. Als ich wegging, begleitete er mich hinaus und brach plötzlich in Tränen aus, indem er mir sagte, daß das häusliche Leben sich nicht organisieren wolle, daß er sich Sorgen mache um die Kinder, daß sein Haus eine Ruine sei, und wiederholte mehreremal: »Ich habe es nicht verdient, ich habe es nicht verdient!« – Es erschütterte mich tief, ihn so zu sehen. Es hat immer etwas Ergreifendes, einen Mann weinen zu sehen, um wieviel mehr einen, der äußerst sparsam ist mit Gefühlsäußerungen und im Weltgetriebe so absorbiert scheint, daß man ihn der Empfindlichkeit engeren Verhältnissen des Lebens gegenüber kaum für fähig hält. Zugleich rührte mich aber auch sein Zutrauen zu mir, und als er sagte: »Geben Sie mir Rat!« versprach ich ihm, darüber nachzudenken, was zu tun sei. Zu Hause überlegte ich lange, was ich raten solle. Schon oft hatten die Kinder und die Bonne gesagt, ich solle doch ganz zu ihnen kommen, und hatten Pläne gemacht, wie schön wir dann leben wollten. Von einer Seite war mir der Gedanke lockend gewesen, wenn ich an ein Zusammenleben mit den Kindern in so freien Verhältnissen und an ein Werk der Erziehung, das edle Früchte bringen konnte, statt des traurigen Stundengebens dachte. Dennoch war ich immer wieder davor zurückgeschreckt, denn ich hatte Angst vor jeder neuen, tieferen Anhänglichkeit an Menschen. Die öde Ruhe meines Alleinstehens schien mir jetzt den Leiden, die Liebe bringen kann, vorzuziehen. Ich hatte diese ja in jeder Form und in ihrer ärgsten Bitterkeit kennen gelernt und ihre zerstörende Macht sattsam erfahren. Mein dermaliger Zustand war wenigstens Ruhe und Geistesfreiheit, wenn auch kein Glück. Er glich dem schmerzlichen Wohlgefühl, das der Schiffer empfinden mag, wenn er nach dem Sturm auf hoher See mit zersplittertem Mast, mit zerrissnen Segeln, mit verlorner Habe sich in der Ruhe des Hafens findet. Sollte ich mich noch einmal den Schicksalen, die das Gefühl über uns heraufbeschwört, aussetzen? – da ich mich kannte, da ich wußte, wie tief und ausschließlich mein Herz sich jeder wahren Neigung hingab, so daß, wenn sie zerrissen wurde, auch ein Teil meiner selbst mit abgerissen und mein Leben gefährdet wurde? Hier konnte ja von keinem Gouvernantenverhältnis die Rede sein, sondern es war der Eintritt in die Familie der freien Wahl, es war die Schwester, die zu dem Bruder ging, um ihm die der Mutter beraubten, verwaisten Kinder zu erziehen. So nur wollte ich wenigstens den Schritt tun, so nur oder gar nicht. Die holden Kinderaugen lockten mich wie Sterne, indem sie mir bei der Arbeit auch der Arbeit Segen verhießen. Das geistige Element, das durch Herzens Umgang wieder in mein Leben treten würde, der Austausch, ja auch vielleicht der Kampf der Ansichten, in den sich aber nichts von der Heuchelei zu mischen brauchte, die man mehr oder minder im englischen Leben üben muß, alles das zog mich an. Dazu kam die Rücksicht, daß meine Gesundheit voraussichtlich einen zweiten Winter so angestrengten Stundengebens nicht würde ertragen können. Ich setzte mich also hin, schrieb an Herzen und sagte ihm, daß mich sein Schmerz sehr gerührt habe, und daß der Wunsch, ihm zu helfen, viele andere Bedenken in mir überwöge; ich bot ihm an, die Erziehung der Kinder ganz in die Hand zu nehmen, fügte hinzu, daß ich dazu natürlich ins Haus ziehen müsse, daß ich es aber durchaus als ein Werk der freien Wahl, als eine Pflicht der Freundschaft ansähe, und daß von dem Augenblick meines Lebens im Hause an jede pekuniäre Verpflichtung zwischen uns aufhöre. Zu dem Zwecke würde ich noch einige wenige Stunden außer dem Hause geben, deren Ertrag für meine bescheidenen Bedürfnisse hinreiche, damit ich dann ungestört eine ideale Arbeit übernehmen könne, deren Gelingen ihr einziger Lohn sei. Ich schloß damit, daß es sich von selbst verstände, daß wir beide diesen Vertrag als freie, gleichberechtigte Menschen eingingen, mit voller gegenseitiger Freiheit, ihn zu lösen, wenn es dem einen oder dem andern so besser scheinen würde.

Ich bekam bald eine Antwort. Er schrieb, daß ihm der Vorschlag schon hundertmal auf den Lippen geschwebt habe, daß aber ungefähr gleiche Skrupel wie die meinen ihn bis jetzt zurückgehalten hätten, nämlich die grenzenlose Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit – das Höchste, was nach dem Schiffbruch des Lebens übrig bliebe, und die Angst vor allen menschlichen Beziehungen, die so leicht die traurige Ruhe der einsamen Resignation, der von unzähligen Kugeln durchbohrten Trophäe, die wir aus dem heißen Streit mitbringen, gefährden. »Ich habe vor allen Angst, auch vor Ihnen,« sagte er, fügte dann aber hinzu, »ja, probieren wir es: Sie tun das Höchste für mich, wenn Sie mir die Kinder retten: ich habe kein Talent zur Erziehung, ich weiß es und täusche mich darüber nicht; aber ich bin bereit, in allem zu helfen, alles zu tun, was Sie für nötig und gut halten.«

Nun die Scheu einmal überwunden war, nun drängte er selbst zur Eile, und nach wenigen Wochen zog ich in das Haus. Ich fand manches zu reformieren in Beziehung auf die Kinder, auf die Organisation des Hauses, ja sogar auf die geselligen Verhältnisse, die Herzen um sich hatte aufwachsen lassen, die ihn selbst drückten und oft gar verstimmten und die er doch nicht die Energie hatte zu regeln und seiner bessern Einsicht gemäß zu gestalten. Denn von vornherein begegnete ich diesem Charakterzug in ihm, daß er, der im Prinzipienstreit kein Haarbreit wich, der felsenfest in seiner Opposition war, der an der freiwillig gewählten Arbeit mit einer Ausdauer blieb, wie nur die es tun, denen die Arbeit die heilige Betätigung der innewohnenden Schöpferkraft und kein Berufszwang ist – daß er, sage ich, in den täglichen Lebensverhältnissen scheu vor jedem Eingreifen zurückwich. Er ließ lieber tausenderlei Unannehmlichkeiten über sich hereinbrechen, ehe er mit kräftiger Hand die Dinge um sich her ordnete, und fand sich dadurch oft als den Sklaven der Umstände, während er seine Unabhängigkeit doch fanatisch liebte. In seinem Hause hatte sich ein wahrer Heuschreckenschwarm von russischen und polnischen Flüchtlingen eingefunden. Sie hatten förmlich davon Besitz ergriffen, fühlten sich darin als Herren, und schalteten und walteten, wie es ihnen beliebte; kein Tag, kein Abend war sicher vor diesen Eindringlingen, jedes Familienleben, jedes Zusammensein mit den Kindern, jede gemeinschaftliche Lektüre wurde beliebig von ihnen gestört. Herzen selbst litt am meisten darunter, und oft artete seine Verstimmung bis zum äußersten Mißmut aus. Ich konnte dies nicht billigen, konnte es besonders in Beziehung auf die Kinder nicht dulden und erklärte dies Herzen offen. Wir hatten lange, lebhafte Diskussionen darüber. Ich sagte ihm freimütig, daß ich gekommen sei, ihm seine Kinder, soweit ich es vermöchte, in die rechte Bahn zu lenken, aber ebenso auch den Kindern den Vater zu erhalten und ihnen mit seiner Hilfe die glückliche Heimat zu schaffen, in der allein die Kindheit gedeiht, in der man im Segen den Samen ausstreuen kann, der einst Blüte und Frucht bringen soll. Mit der außerordentlichen Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, die auch ein Charakterzug in ihm war, und mit der Freimütigkeit, mit der er stets den von ihm erkannten Mangel eingestand, gab er zu, daß es Schwäche sei, diese Zustände nicht zu ordnen, und gab mir Vollmacht, es zu tun. Ich riet ihm, einfach zwei Abende in der Woche zu bestimmen, wo er die Bekannten sehen wollte, am Tag aber und an den übrigen Abenden mit einem strengen Verbot im Hause ein für allemal Ruhe zu schaffen. Er fand, daß es mit einem Abend genug sei, nahm seine Maßregeln, und bald war in dieser Beziehung um uns Frieden. Natürlich zog mir das alsbald einen Haufen von Feinden zu, die ohnehin mein Kommen in das Haus nicht gern gesehen hatten, da sie den von ihnen dort gehofften Einfluß bedroht sahen. Ich sollte auch nicht ungestraft davonkommen.

Es verstand sich jedoch von selbst, daß vortreffliche Ausnahmen unter jenem in seine Schranken gewiesenen Schwarm sich befanden. Diesen blieb der Zutritt unverwehrt; ihrer edleren Natur nach aber machten sie auch eben keinen Mißbrauch davon. Unter diesen waren mehrere, denen ich später in Freundschaft näher treten sollte; zunächst aber fiel mir vor allen ein Pole auf, dessen Märtyrergestalt mich mit Mitleid und Ehrfurcht erfüllte. Es war dies Stanislaus Worcell, ein Mann aus einer der ersten aristokratischen Familien Polens, an dessen Wiege die Deputationen einiger dreißig Dörfer gestanden hatten, um als Untertanen den Eltern zu seiner Geburt Glück zu wünschen. Er hatte als Kind und Jüngling nur von Silber gespeist, war von Dienern umringt gewesen und im höchsten Luxus aufgewachsen. Doch hatte er nicht versäumt, seinen Geist zu bereichern, und vereinigte in sich eine Fülle von Kenntnissen, die bei ihm zur wahren Bildung geworden waren. Dabei aber war er erfüllt von jenem mystisch-fanatischen Patriotismus, den ich später beim Lesen der polnischen Dichter, Mickiewicz und anderen, noch näher kennen lernte. Polen war der mystische Stern, der der großen edlen Seele Worcells auch hinter den trüben Wolken des Exils, das ihm den bittersten Kelch gereicht und keine schmerzvolle Entsagung erspart hatte, verklärend leuchtete. Reich, angesehen, glücklich verheiratet, Vater mehrerer Kinder, hatte er alles unbedenklich für die Unabhängigkeit des Vaterlands eingesetzt, als die große polnische Revolution kam. Nachdem die Übermacht des fremden Herrschers gesiegt hatte, blieb ihm, wie so vielen anderen, nichts als das Exil. Was es ihm aber bitterer machte als anderen, das war der Verrat von Gattin und Kindern, die, anstatt ihm zu folgen, in das Feindeslager übergingen, wo sie natürlich mit Ehren überhäuft wurden, da der Verräter der natürliche Bundesgenosse des Tyrannen ist und ihn in seinen eigenen Augen rechtfertigt. Wie tief dieses Schwert in Worcells Seele gedrungen sein mußte, bezeugten die tiefen Furchen, die der Schmerz in seinem edlen Antlitz, das von ergrautem Haar und Bart umgeben war, gezogen hatte. Doch kam nie ein Wort der Anklage über seine Lippen; er sprach überhaupt nie von denen, die sich im Glanz der kaiserlichen Gnade zu Petersburg sonnten, während er in Armut und Entbehrung lebte. Er hatte den edlen Stolz des Gerechten, der seine Wunden nicht zur Schau trägt; wie er denn überhaupt nie klagte und stets, wenn man ihm begegnete, der feine, geistvolle, tief gebildete Mann war, der alle modernen Sprachen in größter Vollkommenheit sprach, und dessen scharfe Dialektik, dessen philosophischer Geist, aus dem Quell der mannigfaltigsten Kenntnisse schöpfend, die Unterhaltung zu einer wahren Erquickung machten. Er lebte vom Unterrichtgeben in der Mathematik und in Sprachen und unterrichtete in ersterer auch Herzens Sohn, was ihn viel in das Haus führte. Doch kam er auch außerdem oft hin, da Herzen ihn hochschätzte. Er war der erste, der mit wärmster Sympathie Herzen entgegenkam, als in diesem der längst gehegte Plan zur Reife gedieh, in London eine russische Presse zu gründen, um durch diese gegen den Despotismus in Rußland zu operieren. Sich aus tiefem, persönlichem Leid zu retten, in das er nach dem Tode seiner Gattin und vieler geliebter Menschen versunken war, hatte Herzen den Vorsatz gefaßt, dem geknechteten russischen Gedanken im Auslande eine Zufluchtsstätte zu bereiten. Von da sollte er, unumwunden ausgesprochen, zurückkehren in die Heimat, um der Rächer der Unterdrückten, der Verbreiter von Licht und Aufklärung und der Bote einer besseren Zukunft zu werden. So wie Herzen allein diesen Gedanken gefaßt hatte, so gedachte er auch ihn allein mit eigenen Mitteln ins Werk zu setzen. Ein Pole war es, eben Worcell, der die Tragweite dieses Gedankens zuerst begriff und sich ihm freudig anschloß, indem er Herzen die Mittel, über die die polnische Emigration verfügte, um Flugschriften nach Polen und Rußland hinein zu bringen, zur Verfügung stellte. Wie hätte er als edler, großartiger Mensch auch anders empfinden sollen gegen ein Unternehmen, das sich eröffnete mit dem tiefgefühltesten Bekenntnis dessen, was Rußland an Polen verschuldet, mit der Darreichung der Bruderhand an die Unterdrückten, zum gemeinsamen Kampfe gegen den gemeinsamen Feind, den Despotismus, der auf Rußland wie auf Polen lastete? Ich war dabei, als Worcell aus Herzens Hand das erste, in London in russischer Sprache gedruckte Blatt empfing, und teilte die freudige Rührung beider Männer. Ich sah nun doch wenigstens nach einer Seite hin wieder einen Samen der Freiheit aufgehen, den im freien Albion so leicht nichts hindern konnte, zur Blüte zu gelangen. Lange ehe ich Herzen kannte, hatte sich in mir der Gedanke ausgebildet, daß Rußland und Amerika die nächsten Kulturfelder sein würden, auf denen die sozialistischen Zukunftsideen, die in Europa theoretisch geboren, da nur Kampf und Streit hervorriefen, zur Entwicklung kommen würden. Der Blick auf die Karte hatte mir hauptsächlich diese Überzeugung erweckt. Das alte, in viele Fetzen zerrissene, so individualistisch markierte Europa mußte scharf ausgeprägte Völkerindividuen, schroffe Gegensätze, ganz getrennte Staats- und Lebensformen zur Erscheinung bringen. Der offenbare Zug der modernen Geschichte aber, der auf Massenvereinigung, auf Zusammenwirken vieler Kräfte, auf Assoziation und Verbindung weitester Strecken durch Kulturmittel hinausgeht, schien mir einen geeigneteren Boden zu seiner Verwirklichung in den weiten, nicht durch Gebirge, Ströme und gewaltige Meereinschnitte getrennten Strecken der ungeheuren Kontinente von Amerika und Rußland zu finden. Da schien die Leichtigkeit ackerbaulicher und industrieller Unternehmungen wie von selbst die ungehinderte Vereinigung menschlicher Kräfte dazu aufzufordern, die humanen Theorien der Zeit in das Leben zu rufen. Diese Theorien, die zunächst die unerläßlichsten materiellen Lebensbedingungen für alle als Grundlage einer neuen bessern Zukunft verlangten, negierten den Satz des Malthus, daß nicht alle zum Bankett des Lebens berufen seien. Sie stellten im Gegenteil den Satz auf: Wer arbeitet, soll auch genießen. Seit ich Herzen kannte, hatten sich mir durch seine Mitteilungen über die russische Gemeinde diese Ideen befestigt und entwickelt. Es schien mir, als sei in dieser Gemeinde durch den gemeinschaftlichen Besitz der Erde das furchtbare Problem des Proletariats gelöst, das sich über Europa wie eine gewitterschwere Wolke immer drohender zusammenzieht. Wer genug Erde besitzt, um sich und die Seinigen zu ernähren, braucht nicht zu darben. Damit schien mir das Messer an die eiternde Wunde gelegt, die am Marke des alten Kontinents frißt und seine Lebenskraft verzehrt.

Natürlich mußte mir bei solchen Voraussetzungen das großmütige Unternehmen Herzens von äußerster Bedeutung scheinen. Einem Lande, das in den Grundformen seines Lebens die Bedingung gegen das materielle Unglück der Gesellschaft zu besitzen schien, konnte allerdings weiter nichts fehlen, als die Fesseln eines viel plumperen Despotismus wie der europäische zu zerbrechen und mit dem freien Wort und der Erkenntnis alle die gebundenen Kräfte zum Leben zu wecken.

Nicht bloß Worcell, sondern auch viele andere Personen begrüßten Herzens Werk auf das freudigste. Michelet, der französische Geschichtsschreiber, schrieb infolgedessen: »Welcher Haß hat noch das Recht zu existieren, wenn Polen und Russen sich verbinden?«

Nicht alle Polen jedoch waren so sympathisch, so vortrefflich wie Worcell, und ich sollte bald die Erfahrung des kleinlichen Neides und der Intriguensucht machen, die in dieser Emigration herrschten. Eine polnische Familie, die mit Herzen bekannt war und deren Kinder viel mit den seinen verkehrten, hatte sich eng der deutschen Wärterin der letzteren angeschlossen. Man lud sie häufig mit den Kindern ein, behandelte sie ganz als Ebenbürtige und hoffte wahrscheinlich, so einen Einfluß im Hause auszuüben. Im Anfang benahm man sich auch äußerst zuvorkommend gegen mich; man besuchte mich, lud mich ein und hätte mich vielleicht noch lieber ganz für sich gewonnen. Aber die Familie war mir nicht sympathisch; sie hatte nicht die einfache, stumme Würde des Unglücks wie Worcell. Sie trug das ihre mit Ostentation. Ich konnte mich oft nicht enthalten zu lächeln, wenn der Vater und andere ihm verwandte Polen zu Herzen kamen mit geheimnisvollen Mienen, argwöhnisch umherschauend, mit dumpfer Stimme flüsternd, als fürchteten sie Späher-Ohren und als trügen sie ein Geheimnis, von dem die Geschicke der Welt abhingen, mit sich herum; kurz, sie erschienen »drapés dans la conspiration«, wie ich einmal zu Herzen sagte.

Ich hielt mich etwas von ihnen zurück und suchte auch ein wenig den Umgang der Kinder zu beschränken, da er mir keinen guten Einfluß auf die mir Anvertrauten zu üben schien. Natürlich ward diese ganze Clique von da an mir feindselig. Mit der Wärterin war mein Verhältnis im Anfang das allerbeste. Sie war froh, daß noch ein weibliches Wesen im Hause war, mit dem sie sprechen konnte, das ihre Erzählungen mit anhörte und ihre Teilnahme bewies an den Angelegenheiten, die sie innerlich am meisten beschäftigten, wozu auch eine Herzensangelegenheit in der Heimat gehörte, deren Vertraute ich sogleich wurde. Ich gab ihr nie Veranlassung zur Klage; das Leben im Hause wurde für sie heiterer, denn ich veranstaltete zu Geburtstagen, zu Weihnachten, zu Neujahr kleine Feste für die Kinder, an denen sie natürlich teilnahm und wobei sie sich mehr als alle amüsierte. Ein wirkliches Familienleben fing an im Hause zu herrschen, das alle Hausgenossen als Zusammengehörige vereinigte und gemeinsame Interessen, Bestrebungen, Scherze und Arbeiten hervorrief, wie sie eben ein wohlgeordnetes Familienleben zu haben pflegt und worin sein Reiz und das wohltätige Gefühl der Zusammengehörigkeit bestehen. Es wurden auch gerade in diesem Winter mehrere Kinderkrankheiten durchgemacht, wobei ich meine Pflicht mit der Liebe tat, wie sie nur eine Mutter ihren Kindern erzeigen kann, denn schon waren mir diese Kinder, besonders die beiden Mädchen, innigst ans Herz gewachsen. Meine natürliche angeborene Neigung zum Familienleben trat wieder vollständig hervor. Ich dachte viel über die damals überhandnehmende Tendenz nach, die Familie zu zerstören und sie gleichsam als den Tod der Individualität hinzustellen. Dies gilt nur von der Familientyrannei. Die Familie darf sich allerdings jene Autorität nicht anmaßen, die das Individuum in seiner freien, naturgemäßen Entwicklung hemmt, so wenig wie der Staat dies darf. Beide, Staat wie Familie, sollen im Gegenteil das Individuum darin schützen und fördern, sich seiner allereigensten Natur gemäß zu entwickeln. In der Familie im engern, im Staat im weiteren Maßstabe sollen dem Individuum die Mittel gereicht werden, zu schöner und freier Bildung zu gelangen. Nie aber dürfen Familie oder Staat der freien Selbstbestimmung des Individuums hindernd oder zwingend in den Weg treten. Ist eine Familie religiös und will sie den unmündigen Kindern eine religiöse Erziehung geben, so sei sie frei dies zu tun. Aber das selbständig gewordene Individuum zwingen wollen, bei den anerzogenen Ansichten zu verbleiben, oder es im Widersetzungsfall zu verfolgen, ist Tyrannei. Ebenso kann der Staat Religionsunterricht in seinen Schulen verordnen, aber seine Beamten zwingen, in die Kirche zu gehen, ist Despotismus usw. – Eindrücke und Beispiele sollten die Hauptmittel sein, mit denen Familie und Staat auf die Erziehung der Individuen wie der Völker wirken. Den jugendlichen Menschen umgeben mit schönen Eindrücken, ihm vorleuchten mit edlen, erhabenen Beispielen, und im übrigen die Natur ihren Gang mit innerer Notwendigkeit gehen lassen, ohne sie zu stören: das wäre Weisheit. Je mehr mich die übernommene Pflicht wieder mit allem Sinnen und Denken auf das große Problem der Erziehung hinführte, desto tiefer wurde in mir diese Überzeugung, daß Eindrücke und Beispiele die mächtigsten Hebel einer guten Erziehung sein müssen, nicht aber die Dressur, die das gewöhnliche Gouvernantentum, die gewöhnliche Schulmeisterei, das gewöhnliche Staatswesen mit sich bringen. Wodurch wurde das athenische Griechentum so unsagbar schön? Weil bei den Athenern keine Dressur die freie Anmut der Natur in Schranken legte, weil sie umgeben waren von Eindrücken der Schönheit, weil die Natur sie mit ihrem höchsten Liebreiz, mit Anmut und Erhabenheit zugleich umfing, weil die Kunst in immer steigenden Inspirationen sie dazu führte, das ideale Schöne gleichsam in die Form gebannt zu schauen, weil die Alten, Weisen sich liebevoll in den Geist befreienden Gesprächen zu der Jugend niederließen, weil die Beispiele göttlicher Heroen den jungen Seelen Flammen der Nacheiferung in der Seele weckten. In Sparta, wo die Dressur herrschte, kamen starke, regelrechte Menschen zum Vorschein, aber keine Lieblinge der Götter, wie es die Athener waren.

Die sehr originellen Naturen, die ich zu erziehen übernommen hatte, führten mein Nachdenken nun auf spezielle Fälle, und ich suchte ihnen die Theorie so weit es ging anzupassen. Zunächst war es freilich die älteste Tochter, mit der ich mich am meisten beschäftigte, deren Unterricht ich ganz allein übernahm und deren schon sehr ausgeprägte Natur ich mit Sorgfalt studierte. Aber mit grenzenloser Zärtlichkeit schloß ich auch das kleinste Mädchen in mein Herz, die noch zu klein war, um zu lernen, die sich aber auch mir mit einer in einem so kleinen Wesen wunderbaren, fast leidenschaftlichen Liebe anschloß. Dies gab die erste Veranlassung zu Äußerungen eifersüchtigen Mißmuts von seiten der Wärterin, die für dieses Kind, das bis dahin ihr ausschließlich überlassen gewesen war, eine besondere Vorliebe zeigte. Ihr Benehmen gegen mich fing an sich völlig zu verändern. Ich schrieb das zuerst auf Rechnung dieser kindischen Eifersucht. Bald aber sah ich, daß wohl noch mehr dahinter war, und erlangte die Gewißheit, daß jene Polen allerlei Argwohn in ihr wachgerufen hatten, der sich in der traurigsten Art gegen mich kundgab, teils durch Verstimmungen, teils durch Zurückziehen, durch früheres Sich-Entfernen mit den Kindern, die noch nach der ersten Anordnung des Hauses mit ihr zusammenschliefen usw. – Ich suchte anfangs die Sache zu ignorieren und blieb nach wie vor freundlich. Endlich aber wurde auch ich gereizt, da dies Benehmen entschieden anfing, auf meinen ältesten Zögling einzuwirken: sie wurde scheu und mißtrauisch gegen mich, stellte sich auf die Seite der Wärterin, machte ihre Arbeiten schlecht oder unlustig, und wurde, wie ich sehr wohl bemerkte, ebenfalls von den Polinnen beeinflußt. Dazu kam, daß die Wärterin bisher jede Anordnung hinsichtlich der Kinder in Händen gehabt hatte und diese, da Herzen darin durchaus keine festen Bestimmungen getroffen hatte, auch behielt. Sie hatte daher genug Gelegenheit, mir die Kinder zu entziehen und immer noch ihr Leben fast nach ihrer Willkür einzurichten. Ich machte endlich, da ich einsah, daß mein Einfluß auf die Kinder nichtig würde, wenn das so fortginge, Herzen darüber Mitteilungen. Ich verlangte von ihm ein bestimmtes Ordnen der Verhältnisse, ehe das Übel um sich griffe und zu unheilbaren Verstimmungen führe. Wieder trat mir da seinerseits jenes vorhin erwähnte Schwanken entgegen, jene Scheu, in die Verhältnisse zu rechter Zeit einzugreifen, um künftigen Übeln vorzubeugen. Es war dies ein ganz nationaler Zug in ihm, den ich bei vielen Russen wiedergefunden habe. Er verleiht ihrem Leben etwas an den Zufall Hingegebenes, etwas Schwankendes, und macht wohl eine der Hauptverschiedenheiten ihrer Naturen gegen die des westlichen Europas aus, sowie er einer von den Antagonismen ist, die ihnen das deutsche Wesen mit seinem festen, ordnenden Vorbedacht antiphatisch machen. Herzen sah die Sache an, begriff sie nicht, meinte, das würde sich ausgleichen, und ließ es gehen. Leider kam es nicht so. Die unangenehmsten Szenen folgten; die Wärterin fing an Krämpfe zu bekommen, wenn ich mich längere Zeit mit dem kleinen Mädchen beschäftigte und wenn diese, deren lebhafte Phantasie und empfängliches Wesen angezogen wurden durch die Anregungen, die ich ihr gab, in feuriger Neigung sich an mich anschloß. Endlich sah denn doch auch Herzen, daß es nicht mehr ging, und daß er zu wählen haben zwischen ihr und mir. Ich stellte es ihm durchaus frei, unser Verhältnis zu lösen, wenn es ihm schwer falle, die einmal eingewohnte Dienerin zu entlassen. Davon wollte er aber nichts hören, und so entschloß er sich endlich, sie in schonendster Weise gehen zu heißen. Ich stand ihm darin völlig bei, da ich immer selbst tausendmal lieber Opfer brachte, als sie für mich oder um meinetwillen bringen ließ. Es tat mir auch innigst leid, dies Wesen, die jetzt schon reuevoll anfing, ihr Unrecht einzusehen und nach Art beschränkter Naturen einlenken wollte, da es zu spät war, zu betrüben und von den Kindern zu trennen, da sie diese nach ihrer Art liebte. Dennoch fühlte ich, daß hier etwas Höheres auf dem Spiele stand, nämlich das Wohl der Kinder und mein Einfluß auf sie, und so blieb ich fest, wie viel es mich auch kostete. Nach ihrer Abreise nahm ich die Kinder zu mir und richtete mir mein Leben mit ihnen nach meinem Sinn ein. Wieder ward es Frieden um mich her, obwohl in der ältesten meiner Zöglinge jene polnischen Mißtöne noch eine Zeitlang fortklangen und mir manches zu schaffen machten, was ich aber mit der Zeit schon zu überwinden hoffte.

Es trat eben damals in unser engstes Leben ein russisches Ehepaar ein, das zur Zeit, als Herzens Familie noch vollständig war, in Nizza mit ihr zusammen gewesen war. Es waren dies wieder eigentümliche Typen, die aber, er besonders, eine ganze Generation repräsentierten – jene Generation, die schon nach Herzens Entfernung aus dem Vaterland in das Alter der Tat eingetreten war und sich durch mehrere, natürlich mißlungene Verschwörungen bekannt gemacht hatte. Herr E . . . war ein Freund Petrascheffskis, der (nach dem Zeugnis aller, die ihn kannten, ein ausgezeichneter Mensch) als das Haupt einer dieser Verschwörungen gefangen und nach Sibirien geschickt worden war. E . . ., kränklich, bis zur äußersten Reizbarkeit nervös, war einer von den ganz theoretischen Menschen, wie sie auch Herzen schon unter seinen Zeitgenossen gefunden und geschildert hatte. Mit scharfem, zersetzendem Verstand, glänzender Dialektik, philosophischem Scharfsinn begabt, brachte er es mit diesen dennoch durch die gänzliche Lähmung jeder Tatkraft unter dem unsinnigen despotischen Druck zu nichts anderm, als zu bitterer Ironie und zur furchtbarsten Skepsis in allem und jedem. Letztere trat um so unheilbringender hervor, als daneben das Bewußtsein der Befähigung einen gewissen Anspruch erzeugte, den kein Erfolg rechtfertigte. In der Herzenschen Generation war, außer all jenen oben genannten Eigenschaften, eine große poetische schöpferische Kraft, die viele rettete; so, außer Herzen selbst, Turgeniew, Belinski, Lermontoff und andere. Wem es »ein Gott gab, zu sagen, was er leide«, der konnte seinen Schmerz wenigstens hinüberretten in eine reinere Region. Wem das aber versagt war, der mußte ein »traurig freudlos Leben« führen, und es war nicht zu verwundern, wenn die Russen im allgemeinen sich im Lethe des Weins Vergessen tranken, wie es, den Turgeniewschen Novellen nach zu urteilen, allerdings durchgehends auch im Volk der Fall sein mußte. Ich hatte E . . . sehr gern und unterhielt mich häufig mit ihm, weil es eine wahre Gymnastik des Geistes war, mit ihm zu diskutieren oder zu streiten. Sein Witz und Spott amüsierten mich, denn er vernichtete mit diesen scharfen Waffen nur das Vernichtungswerte, aber niemals das Schwache, Hilfsbedürftige. Im Grund seines Herzens war unter allem Hohn und bitterem Zweifel doch ein echt menschliches Fühlen übrig geblieben. Er konnte kein Tier leiden sehen und kannte sich nicht vor Wut, wenn er eines mißhandelt sah. Seine Frau zog mich weniger an; sie war schön, kalt, stolz, klug, positiv und doch mystisch – ein seltsames Gemisch von Eigenschaften. Aber ihr Mann liebte und verehrte sie unaussprechlich. Beide Gatten waren nun die häufigen Gäste im Hause, besonders da sie auch die Kinder sehr liebten und ihnen viel von ihrer Mutter erzählten, die sie gekannt und hoch verehrt hatten.

Außer ihnen kamen jetzt häufig Mitglieder der französischen Emigration, aber nicht des doktrinär-republikanischen Teils, an dessen Spitze Ledru-Rollin stand, sondern der sozialistischen Partei, als deren Haupt Louis Blanc damals angesehen wurde. Dieser gab uns oft Anlaß zum Lachen, indem die kleinste Herzen ihn wegen seiner knabenhaften Gestalt für einen Spielkameraden nahm und ihm deshalb ihre besondere Gunst zuwandte, er aber darüber so geschmeichelt war, daß er sich gleich nach dem Kind erkundigte, sobald er kam und oft halbe Stunden lang mit ihr au volant oder sonst ein Spiel spielte. Ja er war sogar so eingebildet auf diese Eroberung eines drei Jahre alten Mädchenherzens, daß er ernstlich böse wurde, als einer der andern Franzosen ihm einmal spottend sagte: »Mein Gott, Louis Blanc, Sie werden sich doch nicht einbilden, das Kind sei in Sie verliebt? Das gilt ja nur Ihrem blauen Rock mit den schönen gelben Knöpfen.« Er trug nämlich immer einen blauen Frack mit großen gelben Knöpfen darauf. Die kleine Anekdote war sehr bezeichnend für ihn; er war unendlich eitel und glaubte sich einen großen Mann trotz seiner Körperkleinheit. Doch muß man, um gerecht zu sein, sagen, daß er wirklich liebenswürdig war und seine Bedeutung ganz sich selbst verdankte. Er besaß nicht nur ein großes Talent als Historiker, sondern auch eine tiefe, logisch entwickelte Überzeugung, die er zwar stets mit rhetorischem Schwung auch im intimen Gespräch, aber doch ohne jenen Schwall von revolutionären Phrasen vortrug, durch den die meisten seiner Landsleute sich auszeichneten. Auch er war ein Doktrinär und sein System hatte sich bereits als unhaltbar erwiesen, aber er war geistvoll und verteidigte seine Theorie mit großer Gewandtheit und Hartnäckigkeit, wenn Herzen ihm auch oft auf das schärfste ihre Mängel nachwies. In allen diesen oft heißen Verhandlungen blieb er aber stets, trotz seiner doktrinären Rechthaberei, der vollkommene gentleman. und wenn er in der Diskussion heftig und halsstarrig war, so war er unmittelbar nachher liebenswürdig, freundlich und erzählte mitunter ganz reizend die allerkomischsten Anekdoten. In vertraulichen Gesprächen liebte er es sehr, von seinem Leben mit den französischen Arbeitern zu sprechen und Züge von der Liebe zu berichten, die sie ihm stets bewiesen hätten. So unter anderem erzählte er, wie er einmal mit einem Mitgliede der provisorischen Regierung vom Jahre Achtundvierzig spazieren gegangen sei und bemerkt habe, daß ein Mann in einer Bluse ihnen in einiger Entfernung hartnäckig folgte. Welche Wendung des Wegs sie auch einschlagen mochten, der Mann folgte ihr auch. Eine arme Frau trat heran und bat Louis Blanc um ein Almosen. Er suchte in der Tasche und fand, daß er keine Münze habe. Da trat der Mann in der Bluse rasch hinzu, legte ihm einige Sous in die Hand und sagte: »Es soll niemand sagen können, daß Louis Blanc einen Armen ohne Almosen von sich gelassen habe.« Es stellte sich nun heraus, daß immer einer der Arbeiter ihm folgte, wohin er auch ging, um über ihn zu wachen und stets zu seiner Hilfe bereit zu sein.

Einer der wenigen Franzosen, die Louis Blanc trotz aller Anerkennung in der Diskussion entgegen zu treten wagten, wurde bald ein täglicher Gast im Hause. Es war dies Joseph Domengé, ein noch ganz junger Mann, aus dem südlichen Frankreich gebürtig, der Sohn unbemittelter Eltern, der, von diesen in früher Jugend schon in das Chaos des Pariser Lebens entlassen, seinen Weg allein hatte suchen müssen und sich mit dem ganzen Ungestüm einer begeisterten Seele in die Revolution gestürzt hatte. Die Folge davon war auch für ihn das Exil und die Armut. Herzen hatte ihn eines Abends bei einem gemeinschaftlichen Bekannten getroffen und war von dort mit ihm weggegangen, so in Gespräche vertieft, daß sie die halbe Nacht in den Londoner Straßen umhergeirrt waren, ohne enden zu können. Am folgenden Tag erzählte mir Herzen von ihm und sagte: »Unter allen Franzosen, die ich kenne, habe ich noch keinen so freien Menschen und so denkenden philosophischen Kopf gefunden wie diesen.« Ich lernte ihn auch bald darauf kennen, und er machte mir einen so gewinnenden Eindruck, daß ich Herzen vorschlug, ihn für seinen Sohn als Lehrer zu nehmen. Seinem edel schönen Äußeren entsprach auch die hohe Intelligenz, sein mutiger, freier Blick, der ihn über alles konventionelle Denken hinweg hob und vorurteilsfrei die Natur der Dinge betrachten ließ. Er hatte kein philosophisches System a priori angenommen, aber seine ganze Art zu sehen war philosophisch, und mit unerschrockener Kritik begegnete er den Theoremen, mit denen seine Landsleute, jeder in seiner Weise, die Welt von oben herab beglücken wollten. Er hatte studiert und schien mir in jeder Weise geeignet, den heranwachsenden Jüngling zu leiten. Herzen war derselben Ansicht, und Domengé kam von nun an täglich mehrere Stunden in das Haus zum Unterricht. Er blieb dann meist auch zum Essen, wodurch die Unterhaltung immer mannigfaltiger und angeregter wurde.

Ein anderes Mal sagte mir Herzen: »Nun bereiten Sie sich vor, einen sehr merkwürdigen Menschen kennen zu lernen, der mich eben besucht hat, ich habe ihn auf den Abend eingeladen.« Den Namen dieses Menschen hatte ich schon gehört; es war vielfach von ihm die Rede gewesen wegen eines Duells, das er mit einem Anhänger Ledru-Rollins gehabt und in dem er seinen Gegner erschossen hatte. Infolgedessen hatte er vor dem englischen Schwurgericht gestanden, und es hatten sich bei der Verhandlung sonderbare Unredlichkeiten ergeben, die seine politischen Gegner gegen ihn verübt hatten. Sein Name war Barthélemy; er war ein einfacher Arbeiter aus dem heißblütigen Marseille, hatte schon in früher Jugend zu der geheimen Gesellschaft der Marianne gehört, die damals in Frankreich revolutionäre Zwecke verfolgte, war in dieser durch das Los bestimmt worden, Rache an einem Polizeisergeanten zu nehmen, der sich an einem Mitglied der Gesellschaft vergangen hatte, hatte ihn, wie ihm befohlen, getötet, war gefangen genommen und zum Bagno verurteilt worden. Bald darauf brach die Revolution von Achtundvierzig aus. Er wurde aus dem Bagno befreit, kämpfte in den Juni-Tagen mit Löwenmut auf seiten der Arbeiter und entkam nur mit Mühe und unzähligen Gefahren neuer Gefangenschaft und dem Exil in Cayenne, gegen das denn doch das Exil im freien England, trotz Armut und Entbehrung, eine beglückende Rettung war. Ich war wohl begierig, diesen Menschen zu sehen, dem schon in der Jugend so wilde abnorme Schicksale begegnet waren, doch hatte ich auch ein geheimes Grauen vor ihm, dessen Hand schon mehr als einmal den Tod gegeben hatte. Wie war ich erstaunt, als Herzen mir am Abend einen Menschen von feiner, ruhiger Haltung vorstellte, der sich äußerlich in nichts von jedem andern Herrn der Gesellschaft unterschied, und als er mich mit einer Stimme anredete, deren tiefer, musikalischer Wohllaut eine unwiderstehlich sympathische Wirkung ausübte. Dieser Wilde war zurückhaltend, bescheiden, ja fast schüchtern, durchaus edel in Bewegung und Benehmen. Nur in dem dunklen Auge, das in dem melancholischen Gesicht unter der gedankenvollen Stirn hervorleuchtete, blitzte es zuweilen wie das ferne Wetterleuchten eines drohenden Sturmes, der mit vernichtender Gewalt im gegebenen Moment losbrechen wird. Er wurde in der Diskussion nie heftig, schrie nicht wie die anderen Franzosen, deklamierte nicht wie sie, hatte keine akademische Rhetorik des Vortrages, sprach überhaupt nicht viel. Aber wenn er sprach, dann verstummten nach und nach die andern. Die tiefe, wohllautende Stimme tönte allein klar und bestimmt über dem verhallenden Chaos und sprach Meinungen aus, die wie aus Stein gemeißelt schienen, so unerschütterlich schienen sie fest zu stehen. Nur selten zitterte ein ferner Klang der Leidenschaft in dieser Stimme, der es verriet, daß seine Gesinnung nicht nur überhaupt zur Tat werden könnte, sondern auch zu solch rascher Tat, daß sie ihn vielleicht selbst gereuen würde. Ich war so ergriffen von der Bekanntschaft dieses Menschen, daß Herzen, obgleich er ihn selbst sehr bedeutend und anziehend fand, über meinen Enthusiasmus lachte. Noch in Deutschland war ich daran gewöhnt gewesen, mit sehr unterrichteten Arbeitern zu verkehren, die die sozialen Fragen mit Ernst und Nachdenken behandelten; aber eine so harmonische Durchbildung wie bei Barthélemy, ein so völliges Heraustreten aus seiner Sphäre durch Anstand und Benehmen, wie bei ihm, hatte ich noch nirgends gefunden. Er flößte mir eine Achtung vor dem französischen Arbeiterstand ein, die mich berechtigte, anzunehmen, daß alles Heil der Zukunft in jenem Lande lediglich in diesem Stande ruhe. Ich ahnte damals noch nicht, daß es möglich sein würde, daß das Kaiserreich zwanzig Jahre dauern, mit seinem demoralisierenden Einfluß auch diesen Stand gründlich verderben und zu den traurigsten Konsequenzen seiner damaligen Theorie führen könnte.

Außer diesen drei hervorragenden Individuen waren mir die übrigen Mitglieder der französischen Emigration, die zu Herzens Abenden zu kommen pflegten, nicht nur uninteressant, sondern fast unangenehm durch ihre Phrasen, durch ihre ewigen Wiederholungen desselben Themas. Freilich war es ja überhaupt nur immer die Individualität, die in allem den Ausschlag gab. So wie es in all den verschiedenen Nationalitäten, die das Schicksal hier zusammengeworfen hatte, des Gleichgültigen, des Verkehrten, ja des Widerwärtigen genug gab, so gab es auch überall schöne, hervorragende Gestalten, die mit der Menge versöhnten. Darin unterscheidet sich ja überhaupt der Mensch von der Natur; diese letztere interessiert sich nur für die Gattung und ihre Erhaltung, sie wirft das kostbarste Individuum, das körperliche und geistige Schönheit hoch über die andern stellt, mitleidlos in dieselbe Grube mit dem, der sein völliges Gegenteil war – aber dem Menschen ist nur das Individuum hochbedeutend; nach ihm mißt er die Bedeutung der Jahrhunderte, ihm reicht er den Kranz der Unsterblichkeit, in ihm liebt er die Menschheit.

Auch aus der italienischen Emigration wurden mir in Herzens Haus einzelne Persönlichkeiten näher bekannt und lieb. Mazzini sah ich damals nicht, denn er ging abends nie aus, außer in seinen nächsten englischen Freundeskreis, wo ich nicht bekannt war. Dagegen kam sein einstiger Kollege im römischen Triumvirat, zugleich sein Schüler und Freund, Aurelio Saffi, öfters zu uns. Herzen liebte ihn außerordentlich, und Saffi neigte sich immer mehr und mehr Herzens Anschauungen zu, die freilich wesentlich von denen Mazzinis abwichen. Mazzini hatte ein Dogma, allerdings ein schönes, reines, aber doch ein Dogma, zu dem er die Welt bekehren wollte und an dessen Unfehlbarkeit und endliche Verwirklichung er glaubte. Herzen hatte den Fanatismus der Freiheit, er wollte die unbegrenzte Entwickelung aller Möglichkeiten und haßte und negierte deshalb die bestehenden tyrannischen Gewalten, die versteinern wollen. Er würde auch die Republik negiert haben (und tat es schon damals mit der französischen Republik von Achtundvierzig), wenn diese zum bindenden Dogma für den Gedanken hätte werden wollen. Saffi fing auch an einzusehen, daß es eine Unmöglichkeit sei, von der Emigration aus dem Vaterland Gesetze und den Gang seiner Entwicklung vorschreiben zu wollen. Anstatt zu konspirieren, wandte er sich einer bestimmten Tätigkeit im Lande des Exils zu, da ihm seine Vermögensverhältnisse keine Unabhängigkeit boten. Nach einiger Zeit erhielt er einen Ruf an die Universität in Oxford, dem er folgte. Er war ein literarisch hochgebildeter Mensch, eine poetische, träumerisch melancholische Natur. Stundenlang konnte er sitzen, ohne nur ein einziges Wort zu sprechen. Oft erwachte er, wenn man ihn anredete, wie aus einem fernen Traum. Einmal hatten wir ihn lange einem Franzosen gegenüber sitzen sehen, der ihm alte, von uns allen bis zum Überdruß gehörte Geschichten aus der Zeit der Revolution von Achtundvierzig vortrug, ohne daß Saffi auch nur einmal den Mund zu einer Bemerkung geöffnet hätte. Endlich machte die Essenszeit diesem Monolog ein Ende, und Herzen fragte Saffi lachend, ob er nun gründlich über die Angelegenheiten der Mairie des dreizehnten Arrondissements unterrichtet sei? – Saffi sah ihn erstaunt an und sagte: »Ich habe nichts gehört,« was denn natürlich ein allgemeines herzliches Gelächter hervorrief. Trotz dieser Zerstreutheit und Versunkenheit war er aber eine der liebenswürdigsten Erscheinungen in der ganzen Emigration. Er war nicht zum politischen Menschen geboren, der Patriotismus war ihm eine Poesie, und die Erhebung Italiens hatte den Dichterjüngling ergriffen wie ein verkörpertes Ideal. Noch ganz jung mit dem älteren Freund an die Spitze der römischen Republik gerufen, war sein erstes Begegnen mit der Tat der entzückende Traum eines neu auferstandenen Roms gewesen. Der Traum war zerronnen, und als er erwachte, fand er sich einsam im nebelverhüllten Exil. Das tiefe Leid, das seine Seele füllte, zeigte sich, außer in seinem Schweigen, auch dann, wenn er zuweilen im engsten Kreise plötzlich anfing, Verse zu rezitieren; entweder die unsterblichen Terzinen seines großen Landsmanns, auch eines Verbannten und vom tiefen Schmerz des Exils Erfüllten, oder die am Born des Leidens selbst geschöpften Dichtungen des nach Dante größten und edelsten italienischen Dichters, Giacomo Leopardi. Dann war es, als spricht er aus seiner eigenen Seele, und sein ganzes Wesen erwachte aus der Versunkenheit, die ihm gewöhnlich war. Er liebte Herzen mit fast kindlicher Zärtlichkeit und hörte bewundernd zu, wenn bei diesem die Gedanken sprühten und der feurige Geist die Zuhörer mit fortriß in alle Gebiete des Denkens. Nur Herzens sprudelndem Witze war es gegeben, ihm manchmal ein herzliches Lachen abzugewinnen.

Ganz das Gegenteil von Saffi, und doch auch ein echt italienischer Typus, war Felice Orsini, der, mit Herzen auch schon von Italien her bekannt, ihn jetzt in London aufsuchte. Er war das Bild eines Condottiere des Mittelalters, wie ihn sich die Phantasie nicht besser träumen konnte, eine jener Gestalten, wie sie Machiavell vorschwebten, als er, in objektiver Anschauung seiner Zeit, den politischen Typus aufstellte, den man ihm so sehr verdacht und den man fälschlich für sein Ideal genommen hat. Orsini war schön, ganz anders schön wie der blasse träumerische Saffi. Er war der echte Römer mit der scharf gebogenen Nase, den festgeschlossenen Lippen, den dunklen blitzenden Augen und der hohen Stirn. Seine Gestalt war gedrungen, das Bild der Kraft. Er sprach auch wenig, wie Saffi, aber nicht, weil er träumte oder in andere poesieerfüllte Welten entrückt war, sondern weil er beobachtete, plante, sich nie und nimmer gehen ließ, nie erraten ließ, welches eigentlich der Grund seines Gedankens sei. Er war schon mehreremal im Gefängnis gewesen und erzählte mir, daß er im Gefängnis die »Neue Heloise« gelesen, dadurch zu einer höheren Auffassung des weiblichen Wesens gekommen sei, als er sie früher gehabt habe, und daß er sich nun ganz für die Gleichberechtigung der Frauen erkläre, da er sie in jeder Beziehung dem Manne ebenbürtig erachte. Er kam oft des Abends auf eine Stunde zu gemütlichem Gespräch, beschäftigte sich viel mit den Herzenschen Kindern und sprach mit Wehmut von den zwei kleinen Töchtern, die er in Italien zurückgelassen hatte. Diese gemütliche Seite überraschte sehr in ihm, es war mir die erste Offenbarung der tiefen Familienanhänglichkeit, die in den Italienern ein charakteristischer Zug ist und die man gewöhnlich nicht bei ihnen voraussetzt.

In lebhafte Aufregung wurde die italienische Emigration versetzt durch die Ankunft Garibaldis, der mit einem Genueser Schiff, das er als Kapitän befehligte, aus Südamerika zurückkam, wo er für die Unabhängigkeit der Republiken gefochten hatte. Auch ihn kannte ich bereits aus Herzens Schilderungen, der mit ihm in Italien zusammengetroffen war. Mit Rührung hatte mir Herzen oft erzählt, wie nach dem Tode seiner Frau eine unbekannte Dame mit zwei Kindern gekommen sei und ihm gesagt habe, sie wisse wohl, daß er nicht ihren Glauben teile, aber er werde ihr gewiß nicht versagen, mit den Kindern, die auch die Mutter verloren hätten, am Sarge der Geschiedenen zu beten. Die Kinder waren die Garibaldis, und die Dame war ihre Erzieherin. Zu jener Zeit kannte man Garibaldi nur als den Führer des Heeres der römischen Republik, der die französischen Republikaner (die durch diese Expedition eine jener Schandtaten vollbrachten, durch die sich ihr Erscheinen in Italien so oft traurig ausgezeichnet hat) wahrscheinlich damals zurückgeschlagen und so vielleicht die Geschicke Italiens geändert haben würde, hätte nicht Mazzinis Vertrauen in die Reinheit der republikanischen Gesinnung Garibaldi am energischen Vorgehen gehindert. Es war dies ein Idealismus, den Mazzini und mit ihm Italien schwer büßen mußte. Mazzini selbst erzählte mir später mehreremal, daß es ihm unmöglich gewesen sei zu glauben, daß die französischen Republikaner etwas gegen die römische Republik unternehmen könnten. Es war eine der vielen Täuschungen der Revolution von Achtundvierzig, denen die ganze revolutionäre Generation jener Zeit unterworfen war.

Wenn aber auch seine schönsten Lorbeeren ihm damals noch nicht zuteil geworden waren, so war Garibaldis Name schon neben dem Mazzinis der ersten Sterne einer für das freiheitliebende Italien. Seine neuesten Heldentaten in Südamerika hatten einen romantischen Schimmer hinzugefügt, der ihn wie einen Helden der Vorzeit erscheinen ließ, der auf ferne Ritterfahrten, zur Hilfe der Bedrängten, ausgezogen war. Herzen ging gleich ihn zu sehen, und lud ihn zu Tische bei sich ein. Garibaldis Bild ist seit jener Zeit allen, auch denjenigen, die ihn nicht persönlich kennen, so vertraut geworden, daß man es nicht mehr zu beschreiben braucht. Aber wenn sein Äußeres schon, ohne schön zu sein, einnahm, so tat dies noch mehr der sanfte Ausdruck des guten Auges, das milde Lächeln, die ganze einfache und in ihrer Einfachheit doch so würdevolle Persönlichkeit. Seine Erscheinung war wie der stille Zauber eines schönen Tags, nichts Verborgenes, Geheimnisvolles, Aufregendes, kein stechender Witz, keine blitzende Leidenschaftlichkeit, kein hinreißender Schwung der Rede; er flößte aber eine stille freudige Erregung, eine Gewißheit ein, daß hier ein Mensch vor einem stehe, der in allem wahr sei, bei dem nie zwischen Rede und Tat ein Dualismus obwalten werde, der selbst in seinen Irrtümern noch kindlich liebenswürdig blieb. Seine Unterhaltung war frisch, bewegt, voll liebenswürdiger Einfachheit wie sein Wesen und durchweht von einem poetischen Hauch, mit dem er seine Erlebnisse in Südamerika erzählte, den Guerillakrieg, den er da geführt, wie er mit den Seinen unter dem Sternenhimmel geschlafen, wie sie wirklich noch im alten, edlen Waffenkampf dort von Mann zu Mann gekämpft. Man glaubte einen Helden Homers zu hören, und wohl begriff man es, wie seine Anita, von unauslöschlicher Liebe ergriffen, ihm in heldenkühner Treue nachfolgen mußte bis in den Tod. Ganz zu ihm paßte der Lieblingsgedanke, den er uns mitteilte: es war sein Traum gewesen, daß die ganze Emigration von Achtundvierzig sich auf einige Schiffe begeben sollte, um eine segelnde Republik zu bilden, immer bereit, da zu landen, wo es für die Freiheit zu kämpfen gelte. Er meinte, die Idee wäre durchaus nicht unausführbar gewesen; Genua, das ihm sein Schiff gegeben, würde noch mehrere gegeben haben, und so hätte man auf dem freien Meere ein Asyl der Freien gründen können, wie es auf dem Festlande nirgend möglich war.

Nach Tisch kamen mehrere Italiener, die sich von Herzen diese Erlaubnis erbeten hatten, um Garibaldi über seine Ansichten und seine jetzigen Ideen für Italien zu befragen. Er setzte ihnen einfach und klar seinen Standpunkt auseinander. Er befürwortete zunächst, daß er keinem erlaube, an seiner echt republikanischen Gesinnung zu zweifeln, und setzte dann hinzu, daß es ihm klar sei, daß der Weg zur Einheit Italiens nur durch Piemont und die Dynastie Savoyen gehn könne. Seiner Ansicht nach sollte jeder wahre Patriot für den Augenblick die persönlichen Sympathien und Wünsche hintansetzen, um dieses große Ziel zu erreichen. Er war der Meinung, daß Revolutionen ganz unnütz geworden seien und daß nur im Anschluß an die italienische Regentenfamilie, die sich immer den liberal-patriotischen Bestrebungen geneigt gezeigt hätte und leicht auch die Sympathien des übrigen monarchischen Europas für sich haben würde, ein erfolgreiches Handeln möglich sei.

Die übrigen Italiener hörten ihm mit Achtung zu, waren aber nicht alle seiner Meinung. Noch viel weniger war es Mazzini, vor dem er seine Ansichten ebenso klar ausgesprochen hatte. Es stellte sich sogar zwischen beiden damals eine Spannung ein, die erst viel später wieder ausgeglichen wurde. Garibaldi lud uns vor seiner Abreise zum Frühstück auf seinem Schiffe ein. Am bestimmten Tage wurde Herzen durch heftiges Kopfweh verhindert, mitzugehn, und ich ging demnach allein mit Herzens Sohn. Das Schiff lag weit hinaus in dem tieferen Fahrwasser der Themse, und wir mußten vom Ufer aus in einem kleinen Boot hinüberfahren. Beim Schiffe angelangt, wurde mir ein Lehnsessel, mit einem schönen Teppich belegt, vom Bord heruntergelassen, auf dem ich hinaufgezogen wurde. Oben empfing uns Garibaldi in malerischer Tracht; ein kurzes faltiges Oberkleid von grauer Farbe, ein goldgesticktes rotes Mützchen auf dem blonden Haar, Waffen im breiten Gürtel. Seine dunkelbraunen Matrosen, mit den Augen und der Hautfarbe einer anderen Sonne, waren, ebenfalls in malerischem Anzuge, auf dem Verdeck versammelt. Zwei englische Damen, die ich kannte, waren bereits vor mir angelangt. Garibaldi führte uns in die Kajüte, wo ein Frühstück, aus allerlei Seedelikatessen, Austern, Fischen usw. bestehend, serviert wurde. Die herzlichste und liebenswürdigste Unterhaltung herrschte dabei. Zuletzt stand er auf, ergriff ein Glas einfachen Weins aus seiner Heimat Nizza, den er immer bei sich führte, entschuldigte sich, daß er als guter Patriot uns keinen Champagner vorsetze, sagte, er sei ein einfacher Mann und habe nicht die Gabe der Rede, aber er wolle trinken auf das Wohl der Frauen, die mit reiner Hingabe den Männern beiständen, der wahren republikanischen Freiheit den Weg zu bahnen. – Nachher zeigte er uns das Schiff, seine Waffen, die einfachen Gegenstände, die ihn umgaben. Seine Matrosen schienen ihn alle zu vergöttern und man konnte nicht umhin, den poetischen Zauber zu empfinden, der diese Persönlichkeit hier umgab: der schlichte, einfache, freie Held, durch Güte und Gerechtigkeit ein Herrscher über diese kleine schwimmende Republik, die Hilfe seines Arms und seines kriegerischen Talents in ferne Länder zur Erringung der Freiheit tragend, da er dem Vaterland im Augenblick nicht dienen konnte. Kaum hat wohl je ein Mann seit der antiken Zeit sich so mit dem Zauber der Situation zu umgeben gewußt wie er, aber nicht aus Affektation oder um Effekt zu machen, sondern aus der eingeborenen Poesie und Redlichkeit seines Wesens heraus, das allen äußeren Glanz und jede Auszeichnung, die nicht unmittelbare notwendige Folge des inneren Wertes sind, verschmäht, und sich, wie die wahrhaft Freien es tun, immer dahin begibt, wo seine eigenste Natur keine Fesseln zu tragen braucht, sondern im Einklang steht mit der Umgebung. So war er hier auf seinem Schiff, so war er in Südamerika gewesen, so war er später im Kriege und auf Caprera. In dieser Einfachheit und Treue gegen sich selbst liegt der unwiderstehliche Zauber, den er namentlich auf das Volk ausübt und der ihn bereits bei seinem Leben zu einem Helden der Legende gemacht hat. Das Volk in Neapel trägt jetzt schon sein Bild als Amulet, feiert seinen Namenstag nicht mehr um des heiligen Joseph, sondern um seinetwillen und glaubt fest, daß der erste Garibaldi schon lange gestorben ist, daß er aber immer wieder aufersteht und daß es stets einen Garibaldi geben wird.

Es finde hier eine bedeutungsvolle Äußerung Richard Wagners ihre Stelle, die dieser mir später, als die Gunst des Schicksals mir in ihm einen Freund geschenkt hatte, schrieb, nachdem Garibaldi die Einheit seines Vaterlands vollendet hatte:

»Ich hatte mit großem Eindruck wieder im Plutarch Timoleons Leben gelesen, auf das ich ganz zufällig geriet. Dieses Leben hat die ganz unerhört seltene Bedeutung, daß es wirklich vollkommen glücklich zu Ende geht, ein ganz ausnahmsweiser Fall in der Geschichte. Es tut einem wirklich wohl, doch zu sehen, daß so etwas einmal möglich war, ich kann mich aber im Hinblick auf alles übrige Edle nicht erwehren, solch einen Fall eigentlich nur als Lockvogel vom Welt-Dämon aufgestellt zu erkennen. Diese Möglichkeit mußte offen bleiben, um so Unzählige über den eigentlichen Inhalt der Welt in die Irre führen zu können. Stellte diese Möglichkeit sich nirgends einmal dar, so dürfte man fast annehmen, daß es uns möglich sein müßte, auf kürzerem Wege dahinter zu kommen, wohin wir Occidentalen – so scheint es – erst auf sehr langem Umwege gelangen werden. Wie viel Berührungspunkte gab es nun, die mich neuerdings Garibaldi auf Timoleon beziehen ließen. Noch ist er glücklich! Sollte es möglich sein, daß ihm die eigentliche furchtbarste Bitterkeit erspart werden dürfte? Von Herzen wünsche ich es ihm. Doch erschrecke ich oft, wenn ich ihn doch nur als Fliege im großen europäischen Spinnennetze ersehe. Viele Möglichkeiten stehen aber offen. Vielleicht ist die Fliege zu groß und stark.«

Leider war sie es nicht, und auch Garibaldi mußte den bittersten Kelch bis auf die Hefe leeren.


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