Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Vierzehntes Kapitel

Der Süden

Als ich bei meiner Schwägerin angekommen war, machten wir uns auf nach dem Süden. Die Reisegesellschaft bestand aus meiner Schwägerin, ihren zwei schönen, klugen Knaben, deren Erzieher, mir selbst, der Kammerjungfer und dem Diener. Ein großer Reisewagen, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, nahm uns auf; wir waren darin wie zu Haus, unsere eigenen Herren, und konnten anhalten, wo es uns beliebte. Sicher war dies die angenehmste Art zu reisen. Welche Vorteile auch die Eisenbahn bieten mag – um die Reise durch ein schönes Land wahrhaft zu genießen, muß man sie so machen: im eignen Wagen und als sein eigener Herr: nicht gepeitscht von den Furien der Dampfmaschinen, der Kondukteure, dem ewigen Heraus und Herein ganz fremder, oft sehr antipathischer Menschen. Die heiterste Laune herrschte in unserer kleinen Ambulanz. Die Knaben erheiterten uns durch ihr fröhliches Geplauder, ihre Lieder, ihre geistvollen Fragen und klugen Beobachtungen, die Dienstboten durch ihr naives Erstaunen über all das Neue, das sie zu sehen bekamen. Der Erzieher sogar trug nicht wenig zur Heiterkeit bei. Er war ein sonderbares Geschöpf, ein echt deutsches Original. Arm von Haus aus, war er in einem Seminar erzogen worden; dann hatte er es möglich gemacht durch Entbehrungen und strenge Arbeit, an einer Universität Theologie zu studieren. Es gibt nichts Traurigeres als die armen Studenten der Theologie in Deutschland, die, wenn sie ihre Studien vollendet haben, oft acht bis zehn Jahre warten müssen, bis sie eine Pfarrstelle bekommen, die ihnen kaum das nötige Brot gibt. Unser Kandidat wartete auch bereits seit zehn Jahren vergebens. Er hatte sich mittlerweile als Erzieher fortgeholfen, und da er eine vielseitige Bildung und einen untadelhaften Charakter besaß, so hatte meine Schwägerin ihn als Lehrer für ihre Knaben angenommen. Aber neben seinen guten Eigenschaften hatte er etwas unglaublich Linkisches in seinem Benehmen, das um so lächerlicher hervortrat, als ein gutes Teil Eitelkeit ihn sehr empfindlich machte, besonders auf seinem schwachen Punkt, der Idee: ein Dichter zu sein. Er schrieb nämlich fortwährend Verse, nicht bloß für seine eigene Befriedigung, sondern mit Ansprüchen an den Ruhm des Parnaß. Doch war es eine wahre Qual, ihn sie vorlesen zu hören, da man sich des Lachens dabei kaum erwehren konnte.

In Bern sah ich zuerst die Hochalpen. Ich neigte mich vor der Majestät dieser herrlichen Erd-Riesen und fühlte mich immer freier und freudiger, je größer und gewaltiger die Natur um mich wurde. Die Schrecken und dunklen Visionen, die mich sonst umgeben hatten, waren verschwunden. Das einzige, was mich quälte, war, daß ich nicht immer auf meine Weise genießen konnte. Man mußte gewissen Formalitäten huldigen, z. B. eine bestimmte unendlich lange Zeit an der table d'hôte verbringen, während draußen ein herrlicher Sonnenuntergang eine entzückende Landschaft verklärte, oder man noch Zeit gehabt hätte, eine schöne Galerie oder sonstige Sehenswürdigkeit zu betrachten. Ich hätte oft bei einem Gegenstand, der mich anzog, lange verweilen und ihn ganz in mich aufnehmen mögen, aber der Erzieher, der beständig die Uhr in der einen und sein Reisehandbuch in der andern Hand hatte, ließ mir keine Ruhe. Kaum waren wir vor einem sehenswerten Gegenstand angelangt, so sah er auf die Uhr, schrie bestürzt: »Ach mein Gott, wir haben keine Minute zu verlieren!« und eilte mit kleinen Schritten rasch vorwärts zu einem andern im Buche angedeuteten Ort.

Nachdem wir die Schweiz durchreist und die prächtige Rhonefahrt gemacht hatten, langten wir in Hyères in der Provençe an, wo wir den Winter zubringen sollten.

Hyères war damals eine kleine, häßliche Stadt, vom Meer noch eine ziemliche Strecke entfernt. Diese mit Orangengärten bedeckte Strecke verläuft nach einer Seite hin in eine sandige Fläche, in die das Meer nur langsam eindringt und gleichsam wie in Sümpfen stehen bleibt. Es war von dieser Seite, daß ich, da wir die Wege noch nicht kannten, mich dem Meere zuerst näherte. Natürlich machte es mir den traurigsten Eindruck. Ich hatte mich oft in meinen Träumen nach dem Anblick des Meeres gesehnt, es mir als das Sinnbild alles Erhabenen, Unendlichen, Majestätischen gedacht. Jetzt erschien es mir kleinlich und häßlich. – Wir waren im Monat November; das Wetter war unfreundlich; die Landschaft erschien nicht zu ihrem Vorteil; nichts darin traf die Einbildungskraft so mächtig, wie es die Alpen der Schweiz getan hatten. Im Gasthof war es kalt und unangenehm. Der Mangel an Komfort in den Häusern, die Steinböden ohne Teppiche, die Kamine, die ich zum erstenmal sah, mit ihren kleinen Bündeln von Rebenholz zum Brennen, der abscheuliche Mistral, der die ersten Tage ununterbrochen wehte – alles das war entmutigend und versprach nicht viel.

Der Erzieher, der sich mit allen möglichen Mitteln versehen hatte, alles zu sehen und kennen zu lernen, hatte die Vorsicht gehabt, sich auch Empfehlungsbriefe für einige Notabilitäten der Stadt zu verschaffen. Ohne meine Schwägerin zu benachrichtigen, hatte er diese gleich am ersten Tage unserer Ankunft abgegeben, und so kam es, daß am nächsten Tag zwei Damen bei uns erschienen, um uns willkommen zu heißen und ihre Dienste anzubieten. Ungeachtet ihrer Zuvorkommenheit machten sie doch einen unangenehmen Eindruck auf meine Schwägerin. Sie waren vollkommene Typen der Bourgeoisie aus der Provinz; auf eine lächerliche Art angezogen, geschwätzig und neugierig im höchsten Grad, fragten sie uns in indiskreter Weise aus, als wollten sie sagen: Wir haben eine Menge guter Freundinnen, denen müssen wir es erzählen. Indem sie daneben aber auch fortwährend ihre guten Dienste anboten, mußte man vermuten, daß sie die Absicht hätten, recht oft wiederzukommen. Meine Schwägerin, die sehr zurückhaltend war mit neuen Bekannten, war äußerst unzufrieden über diese Invasion und machte dem Erzieher Vorwürfe, die dieser höchst übel nahm. So fing unser eigentlicher Aufenthalt im Süden nicht heiter an, und ich empfand ein tiefes Heimweh, eine verzehrende Sehnsucht nach unserem friedlichen, häuslichen Leben, nach den Freunden und all der Liebe, die mich zu Hause umgab. Während mehrerer Wochen verzehrte mich dieses schreckliche Leiden wie ein heimliches Fieber, und ich dachte, daß die Liebe der wahre Süden für das Herz ist.

Nach und nach jedoch verschwand das peinigende Weh, und der Süden fing an, sich mir zu offenbaren. Wir hatten ein bequemes Logis auf dem sogenannten Palmenplatz gemietet, von wo man eine herrliche Aussicht auf die Ebene mit den Orangenhainen, die sie begrenzenden Hügel, das Meer und die Inseln von Hyères hatte. Das Meer erschien mir nun in einem anderen Lichte wie zuerst. Ich sah seine tiefblauen Wellen sich an malerischen Felsenriffen, die mit üppigem Pflanzenwuchs, mit blühenden Myrten, mit strauchhoher Erike bedeckt sind, brechen. Ich streifte über die Hügel, mit Seepinien bewachsen, deren schlanke Zweige mit den langen Nadeln wie Äolsharfen im Winde rauschen, und zwischen denen sich plötzlich Freiblicke mit herrlicher Aussicht öffnen. Zuweilen wanderte ich landeinwärts über Hügel und durch entzückende Täler, wo die immergrünen Eichen, durch Schlingpflanzen graziös verbunden, ein grünes Dach über dem Blumenteppich der Erde bilden. Oder ich ruhte aus an klaren Bergströmen, die dem Meere zueilen und kleine Inseln umschließen, auf denen rote und weiße Oleanderbüsche wild blühen; wahre Paradiese, in denen ein Friede und eine Stille herrschen, als ob der Mensch mit seinen wilden Leidenschaften nie die Harmonie der Schöpfung gestört hätte.

Jetzt endlich erschien mir der Süden so, wie ich ihn mir geträumt hatte. Was die Bilder meines Lehrers begonnen hatten, vollendete sich mir nun im Anblick dieser Natur. Ich nahm endlich völlig die Idee der reinen Schönheit an, die für sich selbst da ist und sich durch die vollendete Form ausdrückt, so wie der griechische Genius sie begriff, im Gegensatz zu der transzendentalen Idee des Mittelalters, die ich früher allein verehrt hatte. Indem ich fortwährend nach der Natur zeichnete, diese sanften Schönheitslinien, diese zarten Abstufungen des Lichts und der Farbe studierte, verstand ich, wie hier alles das »Maß« predigt – dieses Wort, das eigentlich die Definition aller geistigen und physischen Schönheit enthält. Ich sah im Geiste den Olymp sich bevölkern mit Wesen von einer heiter-ernsten Schöne, ewige Typen, so wie die Phantasie eines Phidias, eines Praxiteles sie hingestellt hat. Ich sah jene wunderbaren Tempel sich erheben, die den Stein selbst zu vergeistigen scheinen und durch ihre Harmonie die Harmonie der Landschaft vollenden, und ich fühlte mich überzeugt, daß der Geist nicht dem Stoff widerstreitet, sondern daß er ihn beseelt und verklärt.

Außerdem knüpfte ich auch angenehme Beziehungen an. Unser unermüdlicher Erzieher fand einen deutschen Musiker aus, der in Hyères seiner Gesundheit wegen lebte, wirkliche musikalische Begabung hatte und schöne Lieder komponierte. Der kam nun oft des Abends zu uns und begleitete mich zum Gesang. Meine Schwägerin liebte die Musik zu sehr, um diesen Besucher nicht gern zu sehen. Diese Abende wurden mir eine Quelle großer Befriedigung, denn der Gesang war mir stets die innerlichste künstlerische Freude gewesen. Das einzig Unangenehme hierbei war, daß der arme Künstler sich aus Dankbarkeit verpflichtet glaubte, zu den Texten seiner Lieder die Verse unseres Pädagogen-Dichters zu nehmen, dessen Muse unter dem Einfluß des südlichen Himmels erschreckend fruchtbar war. Der Dichter war überglücklich, sich in Musik gesetzt zu sehen, und es war unglaublich komisch, seine Haltung zu beobachten, wenn er den schönen Weisen des Musikers, die seine schlechten Verse illustrierten, lauschte. Halb verschämt und doch stolz lehnte er gegen den Kamin, die Hände über dem Leib gefaltet, die Augen niedergeschlagen und auf den Lippen ein befriedigtes Lächeln. Armer Dichter! Wenn er gewußt hätte, wie ich zwischen der Lust zu lachen und dem Zorn über seine Anmaßung schwankte.

Aber sein erobernder Geist hielt noch nicht an. Er hatte sich bei der Frau des Maire, die eine Deutsche war, vorstellen lassen und hatte ihr den Gedanken eingegeben, jeden Sonntag in ihrem Haus einen protestantischen Gottesdienst für Einheimische und Fremde einzurichten, bei dem er predigen und der Musiker den Gesang leiten sollte. Die Frau des Maire war eine strenge Protestantin und entzückt, diesen Anker des Heils in ihrer katholischen Umgebung gefunden zu haben. Die soziale Stellung des Erziehers war begründet. Die Frau des Maire war die erste Dame der Stadt und sehr reich; sie hatte ihn wie einen Messias aufgenommen und feierte ihn so, daß er vor Eitelkeit schwoll. Ein Saal im Hause des Maire wurde zur Kapelle eingerichtet, mit einem Altar und einer Orgel versehen. Die Versammlung war zahlreich. Ich ging fast jeden Sonntag mit den Knaben hin, mehr des Gesanges als der Predigt wegen; meine Schwägerin kam, so oft es ihre Gesundheit erlaubte. Ich machte dabei zunächst die Bekanntschaft der Damen des Hauses, dann die zweier Schwestern aus Straßburg, die wegen der Gesundheit der älteren, einer jungen, schönen Witwe, den Winter im Süden zubrachten. Ich wurde bald innigst für die jüngere eingenommen. Es war schwer zu sagen, was eigentlich sogleich bei ihr fesselte, denn sie war nicht so schön wie ihre Schwester. Aber man fühlte sich unwiderstehlich angezogen, wenn man sie ansah, denn aus ihrem bleichen Antlitz und ihren dunklen Augen sprach eine jener Seelen »der großen Mysterien«, die den, der sie liebt, für das ganze Leben fesseln. Sie war erst achtzehn Jahre alt, gründlich gebildet, eine gelehrte Botanikerin, zeichnete sehr gut und spielte vortrefflich Klavier. Doch stand sie noch inmitten jenes religiösen Kampfes, den ich durchgemacht hatte. Indem ich mich mit ihr verglich, fühlte ich, wie weit ich schon von dem mystischen Seelenzustand entfernt war, der direkte Offenbarungen verlangt. Ihr war ein Buch eines der berühmtesten protestantischen Prediger der Schweiz zu Gesicht gekommen, in dem sie die Wahrheit zu finden geglaubt hatte. Infolgedessen schrieb sie ihm und legte ihre Seele in die Hände dieses strengen, bedeutenden Mannes. Aber ihre Seele hatte, wie die meinige, noch andere mächtige und legitime Bedürfnisse; daher kamen auch bei ihr unablässige bittere Kämpfe. Die zwei Schwestern bewohnten einige Zimmer im Hause des Maire. Pauline, so hieß meine Freundin, hatte freien Zutritt zu den Zimmern des Hauses, wo der Flügel und die Orgel standen und wo sich gewöhnlich niemand aufhielt. Wenn ich kam, sie zu besuchen, fand ich sie oft an dem einen oder dem andern Instrument, die ernsteste Musik, wie Bach und Beethoven, mit seltenem Verständnis spielend. Die Musik ergriff sie so, daß ihre Tränen oft dabei flossen. Zuweilen, wenn ihr Herz zu voll war, fiel sie auf die Knie, verbarg das Gesicht in beiden Händen und weinte heftig. Ich verstand sie ganz in solchen Augenblicken, aber ich liebte sie noch mehr, wenn die Jugend und ihre hohe Intelligenz über diese Abgründe der Sensibilität siegten. Dann war sie eins der anziehendsten Wesen, die man sehen kann. So war sie meist während der langen Ausflüge, die wir miteinander machten. Hatten wir einen schönen Punkt am Meer, auf einem der höheren Berggipfel oder sonstwo gefunden, so lagerten wir uns zu ruhigem Genuß und vertrautem Gespräch, oder wir arbeiteten zusammen, denn wir gingen nie ohne unser Zeichenmaterial aus; und wir genossen in solchen Stunden all das Glück, das die Jugend und eine edle Freundschaft geben. Wie waren sie schön, diese Stunden eines reich erfüllten, wahrhaft freien Lebens!

Wir hatten alles für uns: hohe geistige Interessen, feuriges Streben, entzückende Umgebungen, unbegrenzte Freiheit. Da war nicht einmal ein leiser Schatten jener kleinlichen Nebenbeschäftigungen, die so oft die besten Stunden stören. Wünsche, Unruhe, Zweifel, Reue – alles war verschwunden. Man genügte sich selbst in dem bloßen Gefühl des Daseins, und oft hatte ich nur den einen Wunsch, mich selig aufzulösen in die Harmonie und Unschuld des allgemeinen Lebens.

Die Natur aber hat den Menschen, der hier geboren ist, doch verhindert, sich ganz in Übereinstimmung mit dieser Harmonie zu entwickeln, indem sie in sein Blut die Keime so feuriger Leidenschaften legte, daß es ihn zu wilden Taten und unversöhnlichem Hasse treibt. Ich sah einige schreckliche Beispiele davon. Doch kann man freilich nicht wissen, was eine vernünftige und milde Erziehung aus diesem Volke machen könnte, denn seine Anlagen sind vortrefflich, und ich faßte eine wahre Liebe für dasselbe. Auf meinen einsamen Spaziergängen machte ich Bekanntschaft mit den Landleuten, erkundigte mich nach ihren Gewohnheiten, ihren Bedürfnissen, und bald war ich so gut bekannt in der Umgegend, daß mehr als einmal, wenn ich mich auf unbekannten Wegen verirrt hatte, ich mich beim Namen rufen hörte und ein Kind oder einen Bauer oder eine Frau erscheinen sah, um mich auf den rechten Weg zu leiten. Was mich besonders bei ihnen in Gunst setzte, war, daß ich anfing, ihre Porträts zu machen. Unter anderen hatte ich zwei hübsche Schwestern gemalt und hatte der einen ihr Bild geschenkt, um es ihrem Bräutigam nach Toulon zu schicken. Einige Tage nachher kamen sie und brachten einen großen Korb voll Orangen, oben mit den köstlichsten Blumen bedeckt. Im Norden wäre das ein teures Geschenk gewesen, aber auf dieser gesegneten Erde hat auch der Arme etwas zu geben als Erwiderung auf die Gabe des Reichen. Die liebenswürdigen Mädchen setzten sich durch diese graziöse Handlung auf einen Fuß der Gleichheit mit mir, den ich gern annahm. Ich ging auch sie zu besuchen. Ihre Wohnung war die der Armen des Landes – eine kleine ärmliche Schlafstube und als Wohnzimmer der Hof des Hauses, dem ein Orangenbaum in freier Erde als Schmuck diente. Ich fand die Schwestern im Hofe sitzend und nähend. Es war im Monat Januar, wenn der Proletarier des Nordens auf der gefrorenen Straße, in seinem kalten Dachstübchen oder im feuchten Keller elend friert. Sie waren durchaus nicht verlegen, so unerwartet überrascht zu werden, sondern boten mir mit edlem Anstand einen Holzstuhl an und erzählten mir tausenderlei witzige und kluge Dinge, trotzdem sie mir bekannten, daß sie weder lesen noch schreiben könnten.

Es wurde in unserer kleinen protestantischen Gemeinde beschlossen, das Abendmahl zu feiern. Ein protestantischer Prediger kam von Toulon, um unserem Erzieher beizustehen. Diesmal störte keine Angst, unwürdig an diesem Mahl der Brüderlichkeit teilzunehmen, meine Ruhe. Im Gegenteil, als ich mich nach der Zeremonie in mein Zimmer zurückzog, empfand ich einen solchen Frieden, daß es mir war, als hörte ich entzückende Harmonien in meinem eigenen Herzen.

Der französische Prediger forderte seinen Kollegen auf, einmal nach Toulon zu kommen, um den deutschen Sträflingen im Bagno daselbst zu predigen. Dieser nahm den Vorschlag natürlich mit Freuden an. Es wurde beschlossen, daß Pauline, die beiden Knaben und ich ihn begleiten sollten. Ich hatte den Bagno in Toulon auf unserer Reise nach Hyères besucht und hatte mich tief betrübt und gedemütigt gefühlt, als ich all die Unglücklichen nicht nur durch das Laster degradiert sah, sondern auch durch die menschliche Gerechtigkeit, die mit fein erfundener Grausamkeit das abscheuliche Kostüm von zwei Farben, gelb und rot, gewählt und die Ketten hinzugefügt hat, die oft den nur einer Verirrung Schuldigen und noch jedes Guten Fähigen mit dem entmenschten Verbrecher zusammenbinden. Es war das erstemal, daß ich eine solche Strafanstalt sah, und ich fragte mich, ob die Gesellschaft ein Recht habe, so zu strafen, ob sie nicht selbst die Verbrechen veranlaßt habe, für die sie strafe, und ob diese Art der Strafe wohl ihr Ziel erreiche? Ich hatte kaum gewagt, meine Augen auf diese Unglücklichen zu richten, aus Angst, sie durch einen unvorsichtigen Blick noch mehr zu demütigen, oder ihnen als gemein neugierig zu erscheinen. Ich fühlte ein unermeßliches Mitleid mit ihnen und erwartete daher mit großem Anteil den Akt, dem wir entgegengingen. Die große Kajüte eines alten Kriegsschiffs, das dem Bagno annektiert war zu Wohnungen für die Sträflinge, war zur Kapelle umgewandelt. Dort trafen wir zwischen fünfzig bis sechzig dieser Unglücklichen, zumeist Elsässer. Der Erzieher war sehr gerührt und tat sein Möglichstes, Rührung hervorzubringen. Er hob die schönste Seite des Christentums hervor, indem er diesem Kreis verurteilter Menschen ankündigte, daß es eine Gerechtigkeit gebe, die diejenigen begnadigen könne, die von den Menschen verdammt worden seien, und daß das Mittel, diese Begnadigung zu erhalten, ein Akt zwischen Gott und dem Menschen sei, ganz unabhängig von der Welt; ja daß das Kleid des Sträflings zum Ehrenkleide vor Gott werden könne, wenn ein gereinigtes Herz darunter schlüge.

Bei einigen der Unglücklichen war der Ausdruck des Gesichts, vom Strahl einer reinigenden Hoffnung belebt, äußerst rührend. Nach der Predigt ward uns erlaubt, mit ihnen zu sprechen. Es war da unter andren ein junger Deutscher aus guter Familie, der studiert hatte und mehrere deutsche Professoren, die auch dem Erzieher bekannt waren, kannte. Er hatte in der Fremdenlegion in Algier gedient, und man hatte ihm die Kasse des Regiments anvertraut. In einer bösen Stunde, wie er selbst sagte, hatte er Geld aus der Kasse genommen, in der Hoffnung, es wieder ersetzen zu können; aber noch ehe er dies tun konnte, wurde die Sache entdeckt, und er wurde auf zehn Jahre zum Bagno verurteilt. Fünf Jahre dieser schrecklichen Zeit waren verflossen, und sein Betragen während derselben war so untadelhaft gewesen, daß der Pastor und die Direktoren bereits um Abkürzung seiner Strafzeit in Paris eingekommen waren, da solche Gnade stattfindet, wenn das Verbrechen durch wirkliche Besserung gesühnt wird. Wer aber fünf Jahre im Bagno zubringen kann, ohne noch tiefer zu entarten und sich, im Gegenteil, im Guten befestigt, der muß wahrhaftig der Begnadigung wert sein. Wir unterhielten uns auch mit anderen, deren oft sehr naive Bekenntnisse uns rührten. So sagte uns ein Bauer aus dem Elsaß mit fast kindlicher Einfachheit: »Ich hab' doch nur mal im Zorn so en Weible erschlagen und nun bin ich hier auf Lebenszeit. Ja, und wenn sie mir noch zur rechten Zeit so was Gutes gelehrt hätten, wie Sie uns da sagen, da wär's vielleicht nie geschehen.«

Wir verließen sie endlich, indem wir ihnen versprachen, ihnen deutsche Bibeln zu schicken – das einzige, was wir für sie tun zu können glaubten.

Der Plan, den wir anfangs gehabt hatten, unsere Zeit zwischen Hyères und dem nördlichen Italien zu teilen, wurde aufgegeben, und es wurde beschlossen, die ganze Zeit unserer Abwesenheit von der Heimat in Hyères zu verbringen. Ich bedauerte Italien, aber ich freute mich, in Hyères zu bleiben, wo es mir immer besser gefiel und an das mich immer neue, angenehme Beziehungen fesselten. Eine ältere Dame, die ich kennen gelernt hatte und die mir sehr wohl wollte, führte mich bei einem Franzosen ein, der an demselben Platz wohnte, an dem unser Haus lag. Er war ein Aristokrat von alter Familie, noch jung, aber gelähmt, so daß er nur mit Mühe gehen konnte. Sein großer Reichtum erlaubte ihm, seinen Zustand auf alle mögliche Weise zu erleichtern. Er hatte ein schönes Haus, eine prächtige Bibliothek, einen reizenden Garten, in dem er, von seinem Kammerdiener geführt oder im Rollstuhl gefahren, die Luft genoß. Eine Pariser Dame von feiner Bildung und vielem Geist war seine Vorleserin und machte die Wirtin, wenn er, was er sehr liebte, Besuch hatte. Ich fand in ihm einen der gebildetsten, geistvollsten Menschen, die ich je gekannt habe. Er hatte als junger und noch gesunder Mensch Deutschland bereist, kannte viele der bedeutendsten Menschen daselbst, schätzte die deutsche Literatur über alles und war insbesondere ein Verehrer Goethes, den er noch persönlich gekannt hatte. Ich war entzückt, in Frankreich eine so unbegrenzte Anerkennung des deutschen Geistes und ein so vollkommenes Verständnis für ihn zu finden. Dabei hatte er jene vollendeten Formen, jenen Esprit und jene ritterliche Höflichkeit, die man den Franzosen früherer Zeit nachrühmte, ehe die Herrschaft der Bourgeoisie die französische Liebenswürdigkeit degradiert hatte. Er war außerordentlich gütig gegen mich, stellte mir seine Bibliothek zur Verfügung, sandte mir jeden Tag Blumen aus seinem Garten und bat mich, den Abend so oft wie möglich da zuzubringen. Es versammelte sich bei ihm ein ausgezeichneter kleiner Kreis. Die Hauptzierde desselben war eine junge Französin, die das Unglück gehabt hatte, daß ihr von ihr heißgeliebter Mann wahnsinnig geworden war. Sie lebte nun in Hyères in einer Villa am Meer, mit einem alten Onkel und ihrer kleinen Tochter, deren wildes exzentrisches Wesen das Schicksal ihres Vaters auch für sie fürchten ließ. Die Mutter war ein äußerst anziehendes Wesen und eine treffliche Musikerin. Wir musizierten oft ganze Abende lang bei unserem Kranken, der ein leidenschaftlicher Freund der Musik war. Ich sang, und sie spielte. Es waren genußreiche Stunden, denn sie liebte nur das Beste in der Musik, und mit Verwunderung hörte ich hier, in einem kleinen Grenzorte Frankreichs, von einer Französin Beethoven in einer Vollendung spielen, wie ich ihn selten gehört habe.

Eines Tages erhielten die Vorleserin des Kranken und ich eine Einladung von einer Familie in Hyères, sie zu dem Balle, der in der Admiralität zu Toulon am Geburtstag des Königs gegeben wurde, zu begleiten. Man fuhr damals zu Wagen in zwei Stunden von Hyères nach Toulon. Als wir ankamen, waren die Säle der Admiralität schon voll Menschen. Man drängte sich auf die Balkons und an die Fenster, um ein Feuerwerk zu sehen, das auf dem Platze abgebrannt wurde. Dann kehrte man in die prachtvollen Säle zurück, um zu tanzen. Der Admiral war von äußerster Liebenswürdigkeit gegen uns und beauftragte einen seiner Adjutanten, ganz besonders für uns zu sorgen, uns Tänzer vorzustellen und alles zu tun, um uns das Fest zu einem solchen zu machen. Der Adjutant entledigte sich seines Auftrages vortrefflich und brachte uns so viele Tänzer, daß wir kaum zu Atem kamen. Die französischen Marineoffiziere sehen sehr gut aus in ihrer geschmackvollen Uniform, und es waren feine, gebildete, liebenswürdige Leute darunter, so daß der Tanz mir ein wahres Vergnügen gewährte. Man fing damals in Frankreich kaum an, Polka zu tanzen, und die meisten Damen tanzten sie noch nicht. Ich hatte sie schon in Deutschland getanzt mit allen möglichen Variationen. Zufällig wurde ich von einem Marineoffizier dazu aufgefordert, der kürzlich in Deutschland gewesen war und sie dort erlernt hatte. Die andern Paare, die weniger gewandt dabei waren als wir, hielten an; man bildete förmlich einen Kreis um uns, bewunderte uns und sagte mir die schmeichelhaftesten Dinge. Ich war ein wenig berauscht; der Glanz und die Eleganz des Festes, die Höflichkeit und die Huldigungen, deren Gegenstand ich war, gaben mir ein angenehmes Gefühl der Befriedigung. Endlich, gegen vier Uhr morgens, stiegen wir in den Wagen, ungeachtet der Bitten unserer Wirte und der Tänzer. Die Vorleserin und ich kamen allein zurück, unsere Freunde blieben in Toulon. Meine Gefährtin, eine eifersüchtige und spöttische Natur, neckte mich fortwährend mit meinen »Erfolgen«, wie sie es nannte. Als sie keine Antwort erhielt, schlief sie fest ein. Ich schlief nicht, ich ließ im Geist noch einmal die Stunden an mir vorüberziehen, die eben entschwunden waren, und ich mußte mir selbst sagen, daß ich niemals einem glänzenderen Balle beigewohnt hatte, noch je mehr gefeiert worden war. Aber je langer ich darüber nachdachte, desto mehr erschien mir das alles leer und ohne eigentlichen Inhalt. Der Tanz verlor plötzlich allen Reiz, und die Komplimente, die man mir gemacht hatte, schienen mir fade und nichtig. Wir näherten uns Hyères; die Sonne stieg majestätisch aus dem Meer, das noch dunkel dalag wie »ein eherner Schild«, sich aber nach und nach purpurn färbte, je mehr die Spenderin des Lebens sich strahlenumkränzt daraus erhob. Ich blickte auf dies glorreiche Schauspiel mit halb geschlossenen Augen, unfähig es zu genießen, denn ich war todmüde. Da ging mir klar und bestimmt ein neugewonnenes Resultat auf: daß nämlich die geselligen Freuden, die mich bis dahin angezogen und gereizt hatten, gar keine Bedeutung mehr in meinem Leben hätten, daß ihr Zauber gefallen war, wie die überreife Frucht vom Baume fällt, und daß ich in Zukunft nicht mehr die Freuden der »großen Welt« aufsuchen, nicht mehr tanzen würde.

Pauline, die mich getadelt hatte, weil ich zu dem Ball gegangen war, begriff den inneren Prozeß nicht, der sich in mir vollzogen. Sie sah das Resultat dieses Balles, von dem ich ihr sprach, als einen Sieg des asketischen Geistes über die natürliche Neigung an.

Der Invalide neckte mich sehr über die Erfolge, von denen ihm die Vorleserin erzählt. Ich ließ ihn lächelnd gewähren, denn ich wußte, welche Bedeutung sie für mich hatten. Dabei fuhr ich fort, mich seiner geistvollen Unterhaltung so oft als möglich zu erfreuen.

Mit Trauer sah ich endlich den Augenblick des Scheidens nahen. Meine neuen Freunde, die entzückende Schönheit des Südens, meine Studien nach der Natur, alles das zu verlassen ging mir sehr nahe. Alle Bekannten flehten uns an, die Abreise noch hinauszuschieben, aber meine Schwägerin wollte zu ihrem Mann zurück, und sie verschob nie die Ausführung eines Entschlusses.

Es blieb also nichts übrig, als sich mit der an schönen Erinnerungen so reichen, nun verlebten Zeit zu begnügen. Einige Tage vor unserer Abreise bat mich die liebenswürdige Französin aus dem Zirkel des Invaliden, noch einen Abend bei ihr auf ihrer Villa zuzubringen und die Nacht bei ihr draußen zu bleiben. Ich nahm es mit Freude an, denn diese Frau hatte mir eine tiefe Liebe mit Mitleid vermischt eingeflößt. Ihre Villa war reizend gelegen. Die Wellen des Mittelmeeres schlugen an die Mauern des Gartens an; grüne Hügel umgaben sie von den andern Seiten, so daß sie wie in einem Nest von köstlichen Pflanzen, Duft und Blüten lag, über dem Palmen ihre schlanken Zweige wiegten. Am Balkon des Wohnzimmers, von wo man das Meer und die Inseln sah, rankten sich bengalische Rosen in langen Kränzen, und in den Bäumen sangen unzählige Nachtigallen. Das Zimmer war nur von einer kristallenen Lampe, die von der Decke herunterhing, erhellt, die ihr zartes, geheimnisvolles Licht mit den Düften und den Stimmen der Nacht mischte. Die liebenswürdige Wirtin dieses zauberischen Aufenthalts setzte sich an den Flügel und spielte Bachsche und Beethovensche Musik, dann sang ich Psalmen von Marcello und anderes Herrliches, und bis tief in die Nacht hinein blieben wir in poesieerfüllter, weltentrückter Stimmung beieinander.

Ich verbrachte noch einen ganzen Tag mit Paulinen, einen Abend mit dem Invaliden und dessen Kreis, dann nahm ich tiefbewegt von allen Abschied.

Früh morgens stand unser großer Wagen angespannt vor der Türe. Noch einen Blick warf ich von unseren Fenstern auf das Meer, die Inseln, die Orangengärten, das Haus des Invaliden, Paulinens Wohnung. Das alles prangte im ersten Duft und rosigen Glanz des frühen Morgens. Ein Segen über diese Vergangenheit, ein großes befriedigtes Gefühl inmitten der Wehmut, wie ein tiefinnerstes Gebet – und ich folgte den andern, die bereits einstiegen. Am Wagen stand der Kammerdiener des Invaliden, der mir als letzten Gruß seines Herrn den ausgewähltesten Blumenstrauß überreichte. Fort rollte der Wagen, meine Augen schwammen in Tränen, mein Aufenthalt im Süden war beendet.


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