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XXVI.

Wieder geriet Francine in das Räderwerk der allmächtigen Maschine.

Diesmal betrat sie das Palais von einer anderen Seite, durch ein anderes Portal, und es schien ihr, als würde ihr die Justiz ein anderes Gesicht zeigen.

Senatspräsident La Carrière hatte sie mit größter Liebenswürdigkeit empfangen; entweder gefiel ihm die junge Frau so gut, als ihm Le Hagres Gesicht mißfallen hatte oder die bloße Aussicht, die Entscheidung Trassiers umwerfen zu können, stimmte ihn freundlich.

An die Stelle Herbelots war der beim Appellationsgerichtshof bestellte Anwalt Rowney getreten, eine Größe ersten Ranges. Er war mager, lang und trocken, von scharfer Auffassung und präziser Ausdrucksweise. Alle Fälle reduzierten sich für ihn in abstrakte Rechtsfragen. Sein Händedruck war kalt wie der eines Operateurs.

»Nur langsam!« pflegte er zu sagen. »Eile kann schaden, Vorsicht niemals.«

Le Hagre, den jetzt an Stelle Tartres ein lärmender Südfranzose, der Anwalt Varcher, vertrat, wandte alle nur denkbaren Einwendungen und Schikanen an, um das Verfahren in die Länge zu ziehen.

Die Blätter der Kastanienbäume auf den großen Boulevards waren grün geworden und wieder welk. Die Verhandlung vor dem Appellationsgerichtshofe wurde angesetzt, vertagt und wieder vertagt.

Gräfin Favié hatte diese letzten sechs Monate in schweren Gewissenskonflikten verbracht. Es war ihr unmöglich gewesen, Charlie von sich fernzuhalten und nur mit aller Anstrengung hatten sie vermocht, den Bann nicht zu brechen, den sie künstlich zwischen sich errichtet hatten. Ihre Blicke, ihre Hände, ihre Lippen brannten einander entgegen.

Inzwischen nahm Gräfin Favié an Gewicht ab und ihre schönen Augen umzogen sich mit dunklen Ringen. Francine war tief besorgt.

Marchal, der wieder einmal einige Tage in Aygues-Vives verbracht hatte, schüttelte melancholisch den Kopf. Gewiß, sagte er sich, diese Tugend hat etwas Ergreifendes. Und doch wäre es mir lieber, wenn sich Gabriele über ihre Prinzipien und Vorurteile hinwegsetzte! Wäre ihr vielleicht auch wirklich nur ein Glück von kurzer Dauer bestimmt, so hätte sie doch wenigstens ihr Leben gelebt …

Für Francine hatte er eine gute Nachricht gebracht: er hatte auf der Rückreise von Vichy Gelegenheit gehabt, seine alten Beziehungen zu La Carrière aufzufrischen und wiederholt freundschaftlich mit ihm über den Fall Le Hagre zu sprechen. Der Präsident hatte ihm zugesagt, die Verhandlung so bald als möglich anzusetzen und die Entscheidung zu beschleunigen.

»Bald sind Sie frei, kleine Francine«, sagte er. »Übrigens, wie geht es unserem Freunde Éparvié? Noch immer in Sizilien?«

Nach den Gerichtsferien kam der Scheidungsprozeß Le Hagre an die Oberfläche und tauchte wieder unter. November und Dezember vergingen … Endlich wurden für die ersten Jännertage die definitiven Schlußverhandlungen anberaumt. La Carrière zeigte sich immer geneigter und Francine hatte die besten Aussichten, diesmal wirklich ihr Recht zu bekommen. Da erkrankte der Präsident und wurde binnen wenigen Tagen von einer zu spät erkannten Blinddarmentzündung dahingerafft.

»Ein rechtes Unglück«, sagte Herbelot phlegmatisch. »La Carrière wird schwerlich einen so angenehmen Nachfolger erhalten.«

Und er behielt recht. Der neue Senatspräsident, Malouve, begann seine Tätigkeit damit, daß er die Reihenfolge der angesetzten Verhandlungen willkürlich änderte, und Francine mußte es erleben, daß ihre Verhandlung von Monat zu Monat vertagt wurde. Trotzdem gab sie noch nicht alle Hoffnung auf.

Der Gesundheitszustand ihrer Mutter beunruhigte sie mehr und mehr. Gräfin Favié brach unter der Last ihres Schicksals zusammen. Francine konnte nicht länger stumme Zuseherin bleiben, und eines Abends in der Dämmerung, bevor das Licht angezündet wurde, begann sie, von Mitleid übermannt, zu ihrer Mutter zu sprechen:

»Warum heiratest du ihn nicht trotz allem?«

Sie sah, wie Gräfin Favié, die jeder Auseinandersetzung ausweichen wollte, in wortloser Ablehnung den Kopf schüttelte, und fuhr leise fort:

»Er liebt dich … Ihr leidet … Warum diese Qual verlängern?«

Die Antwort blieb ein klagender Laut, der wie ein sanftes Schluchzen klang.

»Du bist niemand Rechenschaft schuldig, bist unabhängig und frei … Es gibt ein Glück, dessen Freud und Leid nur uns selbst berührt …«

»Du verletzest mich … du zerreißt mir das Herz …!« antwortete endlich eine leidende Stimme. »Ach, du tust mir weh …«

»Ich will dich befreien … ich, dein Kind Francine, das dich schätzt, achtet und hebt. Charlie ist dein, hab doch den Mut, ihm anzugehören … Dein ganzes Leben war Verzicht … Du hast das Recht, glücklich zu sein …«

»Es ist zu spät.«

Im Zimmer war es längst dunkel geworden. Kaum konnte man noch die Silhouetten der beiden Frauen unterscheiden.

»Niemals ist es zu spät …!«

»Und morgen bin ich eine alte Frau!«

»Du wirst wenigstens geliebt haben …«

»Francine, wie kann ein Kind so zu seiner Mutter sprechen? Was würdest du von mir denken?«

»Nur Gutes, nur Gutes, du Liebe …!«

Und Francines Stimme klang weich und schmeichelnd, als würde ihr Herz in zärtlichem Gefühl vergehen.

»Schweig still, mein Kind … wenn du wüßtest, was ich in diesem Moment empfinde … wie ich mich schäme … Oh, mein Gott, ich möchte sterben …!«

»Mama, arme kleine Mama …«

An jenem Abend fühlte Francine, daß ihre Mutter ihr entglitt. Mit tränenüberströmtem Gesicht hatte sich Gräfin Favié gegen die Türe gewendet. In ihrem Zimmer brach sie bewußtlos zusammen. Als sie wieder zu sich kam, wußte sie, daß es so nicht weitergehen könne … Sie schob den Riegel vor und schrieb an Charlie einen letzten Brief:

»Charlie, ich komme zu Dir, ich fliehe zu Dir, rette mich! Gott ist mein Zeuge, daß ich gegen meine Leidenschaft gekämpft habe! Ich kann nicht mehr, ich bin gebrochen. Mein Freund, ich bin Dein, ganz Dein, und wenn Du es verlangst, werde ich Dir morgen gehören. Aber Du wirst es nicht verlangen! Du wirst großmütig sein! Du wirst diese Gabriele, die Du liebst und die Dich liebt von Anbeginn an, nicht unglücklich und verächtlich machen wollen. Denn ich kenne mich nur zu gut … Niemals würden wir glücklich sein können! Du weißt es so gut wie ich, sag' nicht nein! Ich bin zu spät gekommen! Zu spät, Charlie! Dieses furchtbare Wort würde unseren Glücksrausch vergiften … Ich bitte Dich, ich flehe Dich an, Einziggeliebter, bringe den Mut auf, den ich nicht habe, und verzichte als ein Mann auf diejenige, die Dir mehr gibt als ihren Leib, ihre unsterbliche Seele! Die nur für Dich und nur durch Dich lebt! Wir wollen Abschied nehmen und ohne mich schämen zu müssen, werde ich an Dich denken können wie an ein allzusehr geliebtes Kind … Leb' wohl!

Gabriele.«

In Trauer vergingen die folgenden Wochen, in denen Gräfin Favié, erschöpft wie nach langer Krankheit, durch die Zimmer ging und Francine den Kelch ihres Leidens leeren mußte.

Anfangs Juli kam es zur Entscheidung. Die Beisitzer des Senates waren von beiden Seiten bearbeitet worden und man wußte nicht, wie das Urteil ausfallen würde … Präsident Malouve eröffnete die Verhandlung mit teilnahmsloser und gleichgültiger Miene. Du Foudray plaidierte voll feuriger Beredsamkeit. Sépale schien nicht in Stimmung. Marchal und Herbelot beobachteten die Richter, suchten aus jeder ihrer Bewegungen Schlüsse zu ziehen, nickten einander aufmunternd zu. Im Moment als der Vertreter der Staatsanwaltschaft das Wort ergriff, fühlte Marchal, wie eine Hand die seine berührte. Éparvié hatte leise den Verhandlungssaal betreten und sich an seiner Seite niedergelassen.

»Zurück?« fragte der alte Anwalt. »Seit wann?«

»Ich komme vom Bahnhof.«

Was auch immer eintreten mochte, er wollte zur Stelle sein.

Der Staatsanwalt formulierte seine Meinung objektiv und klar. Er nahm die Versöhnung als nicht erwiesen an und stellte sich bedingunglos auf die Seite Francines. Präsident Malouve nickte mehrmals wie zustimmend mit dem Kopfe.

Marchal war überzeugt, daß seine Freundin den Sieg davontragen würde.

Und trotzdem kam es anders.

Francine und Gabriele saßen im Salon und warteten. Schritte ertönten in der Halle. Stimmen. Das Tor knarrte. Blaß und bestürzt trat Éparvié, gefolgt von Marchal, ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er seinen Hut auf den Tisch und streckte der Freundin beide Hände entgegen.

»Mein armes Kind …«

Francine entfuhr ein Schmerzenslaut:

»Man hat es gewagt?«

»Mut, meine Freundin«, wiederholte Éparvié und preßte ihre Hände, als ob er sie zerdrücken wolle.

Bleich wie der Tod rief Gräfin Favié:

»Ist es denn möglich? Ist es denn wirklich möglich?«

Marchal nickte schweigend und wandte sich, von Mitgefühl überwältigt, ab.


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