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XXI.

Gräfin Favié blieb nur achtundvierzig Stunden in Verdun. Trotz des herzlichen Zuredens der Familie Cometroy, obwohl Charlies Augen flehend an ihr hingen und die gute Frau de Bouvières ihre Abreise lebhaft bedauerte, beeilte sie sich zu fliehen. Jede Minute, die sie an Charlies Krankenbett verbrachte, war ein Geständnis, mit jedem Blicke gab sie sich preis. Sie konnte den schützenden Abscheu vor der Sünde nicht mehr aufbringen und war erschrocken, mit welch unwiderstehlicher Gewalt die Liebe wieder von ihr Besitz ergriffen hatte. Charlies Zustand, noch so ferne von völliger Genesung, schloß zwar eine momentane Gefahr aus; aber es hatte keinen Sinn, eine Situation heraufzubeschwören, die sie nur allzusehr fürchtete. Sie verständigten sich ohne zu reden durch die geheimnisvolle Sprache von Blick und Lächeln, durch die stumme Gebärde seiner Dankbarkeit, seiner Anbetung, mit der er allen ihren Bewegungen folgte, durch die stille Andacht, mit der er ihr gehorchte, damit sie an seiner Seite bleibe, ihm zu trinken gebe und seine Kissen aufrichte.

Nur in tiefster Ergriffenheit konnte sie daran denken, daß Charlie sich allmählich wieder erholen würde. Die Angst, die sie um sein Leben ausgestanden hatte, trieb ihr noch einmal die Tränen in die Augen und eine wahnsinnige Freude ergriff sie, daß er lebend und ruhig atmend in diesem Bette lag, nicht kalt und tot, daß sein Blick leuchtete und nicht für ewig erloschen war …

Und auch er fühlte mit Inbrunst und Entzücken seine Wiederkehr ins Dasein. Gab es etwas Schöneres auf dieser Welt als zu leben? Die Sonne ließ in ihren Strahlen den Staub in goldenen Punkten tanzen, beruhigend schritt eine geliebte Frau durch das Zimmer, ihr Kleid rauschte, sie wählte die schönsten dunkelroten Kirschen aus einem Körbchen und seine Lippen fühlten die Frische der köstlichen Frucht … Sie sahen sich beide eingesponnen in den Zauber des Lebens unter diesem blauen Sonnenhimmel, der durch das Grün des Laubwerkes strahlte. Gabriele war sich ihres Rauschzustandes bewußt, sie hatte Angst vor ihm, vor sich selbst, vor den Verlockungen des leuchtenden Tages, der traulichen Dämmerung, vor den Fiebern schlafloser Nächte.

Wo war ihr Selbstvertrauen, der Schild ihres Glaubens, ihre Sicherheit? Nur wie im Traume erinnerte sie sich noch daran und fühlte, wie nun die Liebe sie beherrschte und sie gefügig machte wie ein Kind. Ein Rest ihres Stolzes ließ sie hoffen, daß wenigstens er nicht, und niemand, bemerkte, wie es um sie stand, wie schwach und hilflos sie geworden war.

Als Francine sie zur Begrüßung umarmte und ihr mit Zärtlichkeit offen in die Augen schaute, errötete sie wie auf einer Schuld ertappt. Die Idee, daß ihre Tochter irgend eine, wenn auch noch so zartfühlende Anspielung machen könnte, war ihr unerträglich. Aber Francine hütete sich wohl, an das Geheimnis dieser armen Seele zu rühren, der die Liebe ein Verbrechen schien. Sie vertiefte sich in eine lebhafte Schilderung aller Scherereien, in die sie ihr Ausflug nach Aygues-Vives verwickelt hatte, und erzählte, wie Le Hagre fest entschlossen gewesen sei, sich bei Gericht zu beschweren, und daß er nach wie vor alle Mittel anwende, um die Scheidung zu verhindern.

»Übrigens lassen sich alle Leute scheiden,« berichtete sie. »Marchal hat recht. Wenn beide Ehegatten einverstanden sind, geht alles ganz glatt. Nach den Maubrées sind jetzt die Suchets auseinandergegangen … Der Mann hat sich mit einer Statistin vom Olympiatheater erwischen lassen. Das ganze Verfahren hat nicht einmal drei Monate gedauert. Und da die Männer alles so eingerichtet haben, wie es für sie am bequemsten ist, kann er schon nächste Woche die schöne Frau Jumieges heiraten, die selbst eine geschiedene Frau ist. Ja, andere haben es leicht …«

Übrigens hatte sich Le Hagre durch seinen Anwalt überzeugen lassen, daß es unklug und nicht in seinem Interesse wäre, neue Differenzen zu provozieren. Er begnügte sich also damit, seiner Frau strafweise die Alimente einzustellen. Überdies erzwang er bei dieser Gelegenheit ihre Zustimmung, Josette im August in ein Seebad mitnehmen zu dürfen. Er fühlte sich jetzt so sicher, daß er, zur größten Verzweiflung des Notars Charmois, daranging, den gemeinsamen Besitz wie einen frei schlagbaren Forst auszunützen und sich in Geschäfte einzulassen, die nur für ihn von Vorteil waren, während sie seine Frau materiell schädigten. Und wenn Herr Charmois die Hände rang und verlangte, daß Francine durch das Gericht einen Kurator zur Wahrung ihrer Interessen bestellen ließe, zuckte Herbelot philosophisch die Schultern und sagte:

»Ja, wollen Sie denn, daß dieser Prozeß niemals zu Ende geht? Es wäre ohnedies schon mehr als ein Wunder, wenn es noch vor den Gerichtsferien zum Zeugenverhör käme.«

Es kam aber trotzdem, dank der Bemühungen Fomettes, den Broussin erweicht hatte, noch dazu. Unter großem Aufwand von gestempelten Schriftsätzen wurde der Termin für Ende Juli angesetzt.

Die Ratschläge Herbelots wurden dringlicher und deutlicher.

Er behauptete, nichts sei so flüchtig wie die Wahrheit und man müsse alle Mittel anwenden, daß sie einem nicht zwischen den Fingern entweiche.

»Sind alle unsere Zeugen in guter Form? Hat keiner irgend ein Bedenken oder die Neigung, zum Feinde überzugehen? Haben Sie keine Ahnung, gnädige Frau, wie die Dienerschaft des Herrn Le Hagre aussagen wird? Nein? Die Leute haben sich also nicht etwa an Sie gewandt, um sich bestechen zu lassen? … Schade! Und Sie haben Ihrerseits natürlich nichts derartiges versucht? …. Es ist sehr bedauerlich, daß unsere Nachforschungen über den Verbleib von Fräulein Lieschen ergebnislos geblieben sind.«

Lächelnd fuhr er fort:

»Sie müssen sich mit Geduld und Kaltblütigkeit wappnen, so peinlich die ganze Geschichte für Sie auch sein mag. Es ist unbedingt notwendig, daß Sie der Einvernahme gleichzeitig mit Ihrem Gatten persönlich beiwohnen, daß Sie den Aussagen der von ihm geführten Zeugen, auch wenn sie gegen Sie sprechen, mit größter Ruhe die Stirne bieten. Alles hängt vom guten Willen Fomettes ab, der das Beweisverfahren leitet, und wir müssen uns daher hüten, ihn zu verstimmen. Jede störende Unterbrechung, jeder Zwischenruf wird vom Richter als ein Angriff auf seine Würde aufgefaßt, ja es kommt sogar vor, daß man allzu aufgeregte Parteien abführen läßt. Die Zeugeneinvernahme muß sich in freundschaftlichen Formen abwickeln.«

Natürlich dachte Herbelot, wie alle seinesgleichen, hauptsächlich an seine eigene Ruhe. Er liebte keine Szenen und fühlte sich seinen Kollegen und den Richtern gegenüber für von seiner Klientin hervorgerufene Zwischenfälle verantwortlich.

»Vor allem,« schärfte er ihr ein, »keine Tränen, keine Nervenanfälle! Obwohl es natürlich auch Richter gibt, auf die derlei Eindruck macht.«

Aber Fomette wäre ein korrekter und objektiver Funktionär, erfahren und abgehärtet. Übrigens durchaus kein bösartiger Mensch.

Francine mußte alle ihre Courage zusammennehmen, um die Angst zu unterdrücken, die ihr die feierliche Vorbereitung des Verhörs bereitete. Es war ihr peinlich, ihrem Gatten gegenübertreten zu müssen, denn durch die schmählichen Angriffe, die Sépale als sein Vertreter gegen sie gerichtet hatte, war der Haß zwischen ihnen nur noch gewachsen. Alle die ungerechten Vorwürfe, Verdächtigungen, Verleumdungen und lügenhaften Nachreden, die im Laufe des Verfahrens an den Tag gekommen waren, der ganze aufgewühlte Schmutz des Scheidungsprozesses hatten den Abgrund, der sie trennte, immer mehr erweitert.

Trotzdem hatte sie sich in der Gewalt, als der entscheidende Tag kam. Während des Mittagessens bemühte sich Marchal, sie zu trösten und mit gutgemeinten, wenn auch zynischen Bemerkungen zu unterhalten.

»Seien Sie nett, kleine Francine. Geben Sie sich natürlich und liebenswürdig wie Sie sind, seien Sie nicht spröde, damit der Richter einen möglichst guten Eindruck von Ihnen bekommt Sehen Sie, Trassier zum Beispiel hätten Sie leicht für sich gewinnen können, wenn Sie nur gewollt hätten … Es hätte Sie so wenig gekostet! Ja, machen Sie kein beleidigtes Gesicht! Wenn Sie meine Worte auch chokieren …. Alles, was ich sage, ist gut gemeint. Das können Sie mir glauben.«

»Ich weiß,« sagte Francine und ihre Augen nahmen einen leidenden Ausdruck an. »Ich weiß, verzeihen Sie mir! Aber gerade, daß ich eine Frau bin, daß ich nichts als eine Frau bin, erniedrigt mich so sehr vor diesen Männern. Und ich finde es noch beschämender, wenn ich mich, auch ganz unschuldig, meiner Mittel als Frau bediene. Ich kann nichts dafür, ich kann gegen diese Empfindung, die mich verletzt, nicht ankämpfen. Denn nicht als Frau verlange ich beurteilt zu werden, sondern als ein Mensch, dem Unrecht geschehen ist. In solchen Momenten möchte ich ein Mann sein, die Kraft eines Mannes zur Verfügung haben. Die Richter dürften mich doch nicht als Weib betrachten! Gewiß, ich weiß, daß es zu nichts verpflichtet, ich kann Trassier auch keinen Vorwurf machen, kann kaum eine Tatsache, einen Eindruck anführen. Er hat nichts Ungehöriges gesagt, hat mich kaum angeblickt, und doch, lieber Freund, lag in seinem Benehmen etwas, was mich verletzte und anwiderte …«

Marchal lächelte voll Güte und Mitleid.

»Armes Kind,« seufzte er, »Sie haben es schwer, mit Ihrer Empfindlichkeit, mit Ihrem Stolz …«

Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:

»Nehmen wir an, ich hätte nichts gesagt … Obwohl der gute Fomette wirklich nicht sehr gefährlich ist …«

Francine fuhr fort:

»Gerade das Bewußtsein der Schwäche meines Geschlechtes ist mir eine Qual, diese niedere Einschätzung der Frau, die sie zwingt, sich zu verstellen, zu lügen, zu gefallen, schön zu tun, wie Sie selbst es verlangen, sich durch Blicke, durch ihr Lächeln, durch ihr Schweigen, durch ihre Haltung mehr oder weniger zu prostituieren, um auf diese Weise, mit oder ohne Hintergedanken, Vorteile zu erreichen. Nein, ich will nicht zu solchen Niedrigkeiten meine Zuflucht nehmen!«

»Sie haben mich nicht richtig verstanden«, sagte Marchal. »Das ganze ist nur eine Frage der Nuancierung.«

»Doch«, entgegnete Francine und sah ihm offen in die Augen. »Doch, ich habe Sie vollkommen verstanden. Und gerade diese Nuancierung lehne ich ab. Das ist alles.«

Gräfin Favié suchte das Gespräch abzulenken, denn derlei Auseinandersetzungen bereiteten ihr Verlegenheit. Sie selbst war so sehr Weib, ihrer Wirkung so sicher, daß sie in dem Respekt, in der Nachgiebigkeit und Galanterie, mit der man der Dame in der Gesellschaft entgegenkam, instinktiv eine ihr selbstverständlich gebührende Entschädigung für die untergeordnete Stellung betrachtete, die das weibliche Geschlecht im allgemeinen einnahm. Trotzdem teilte und billigte sie die Bedenken ihrer Tochter zu sehr, um sie tadeln zu können.

Die Tafel wurde aufgehoben. Und als der alte Jean mit schweigendem Lächeln die Türen in den Salon öffnete, erhob sich eine bleiche Gestalt aus einem Fauteuil und trat ihnen, von Floß freudig begrüßt, entgegen.

»Charlie! Mein Gott, welche Unvorsichtigkeit!« schrie Gräfin Favié auf, in einem Tone, der ihre freudige Überraschung und ihr Bangen verriet.

Es war abgemacht gewesen, daß er nicht zur Verhandlung kommen und seine Aussage schriftlich machen sollte.

»Lieber Freund«, rief Francine, der er die Hand küßte, nachdem er Gräfin Faviés Finger lang und innig an seine Lippen gepreßt hatte. »Ich bin gerührt, daß sie sich dieser mühevollen Reise unterzogen haben. Aber Sie hätten Ihre Gesundheit nicht so gefährden sollen …«

»Fürchtet nichts, es geht mir viel besser. Eure Freunde müssen euch heute zur Seite stehen …«

Er sah schlecht aus und war abgemagert. Übrigens hatte er sich in Uniform geworfen, um seiner unter Offizierswort gemachten Aussage größeres Gewicht zu verleihen.

Marchal betrachtete ihn mit melancholischer Zärtlichkeit und benützte die allgemeine Überraschung, um sich kurz zu verabschieden. Wenn sie nur den Mut hätte, ihn zu lieben, dachte er.

Im Wagen, zwischen den beiden Frauen, fühlte sich Charlie selig. Sein mattes Lächeln, das Aussehen eines Rekonvaleszenten, der mit umflorten Augen und kaum erloschenem Fieber zu früh ausgeht, kleidete ihn nicht schlecht. Vor dem Charlie aus gesunden Tagen hätte sich Gräfin Favié mehr Zwang auferlegt; nun empfand sie für ihn ein überströmendes Mitleid, das sie schwach machte. So kam es, daß er, während Francine sich gegen das Fenster wandte, ganz vorsichtig Gabrieles Hand zu ergreifen wagte … Sie leistete ein wenig Widerstand und glühende Röte überzog ihre Wangen. Die Gegenwart ihrer Tochter beschämte sie …

Und doch mischte sich in ihre Empörung ein Gefühl tiefer Wollust, das ihr beinahe weh tat. Es gelang ihr nicht gleich, ihm die Hand, die er festhielt, zu entwinden. In diesem Moment sah sich Francine um und lächelte ihnen voll liebevoller Freundschaft, voll Mitleid zu. Gräfin Favié zog leise ihre Hand zurück. Eine Bewegung des Wagens preßte ihre Knie aneinander und sie erblaßte unter dieser Berührung. Charlie fühlte sich berauscht von dem zärtlichen Ausdruck ihres Gesichtes, doch sie fand, daß er ihre Teilnahme mißbrauche und flüsterte ihm, ohne ihn anzusehen, zu:

»Das werde ich dir niemals verzeihen …«

Aber sofort bereute sie diese Worte; denn er sah sie todestraurig an und schwankte beim Aussteigen so, daß sie Angst bekam und ihm ihren Arm bot.

Herbelot erwartete sie in Talar und Barett. Er führte sie in das Zeugenzimmer, in dem sich zwei Gruppen gebildet hatten. Le Hagre und seine Mutter konferierten eifrigst mit Tartre. Francine erkannte die weiße Haube der Schwester Ambrosia, die langen Haare von Doktor Larive. Er sah sie an, zögerte, kam herüber, um sie zu begrüßen, und kehrte wieder in das feindliche Lager zurück. Weder Le Hagre noch seine Mutter hatten irgend ein Zeichen des Erkennens gegeben; man hätte sie für Fremde halten können.

Von den Dienstboten begrüßte sie nur Nanette, die Gräfin Favié in ihren Dienst genommen hatte. Die Morlands hatten rote Köpfe, das Ehepaar de Guertes schien verlegen. Charlie fixierte Le Hagre, denn er glaubte, gesehen zu haben, daß dieser unverschämt lächelte. Durch Frau de Bouvières hatte Charlie erfahren, welche Verleumdungen über Gabriele in Umlauf gebracht worden waren, und wenn er nicht gefürchtet hätte, sie zu kompromittieren, wäre es ihm ein Vergnügen gewesen, diesen Kerl zu stellen.

Eine leichte Bewegung ging durch die Menge, die Anwälte lüfteten ihre Kopfbedeckungen und, umgeben von Erwartung und Neugierde, erschien Fomette in der Richterrobe und begab sich in den Verhandlungssaal. Hierauf führten Herbelot und nach ihm Tartre ihre Klienten mit einem gewissen Zeremoniell hinein und an den grünen Tisch. Fomette neigte grüßend seine rote ungeheure Stirne, von der man nicht wußte, ob sie von Gedanken erfüllt oder leer war. Mit gutmütigem Lächeln im grauen Barte forderte er die Parteien auf, Platz zu nehmen. Aber der Schriftführer ließ auf sich warten.

»Wo bleibt er denn?« fragte Fomette und sah sich um.

Dieser kleine Zwischenfall nahm der Situation ein wenig ihre Feierlichkeit, wie eine Zwischenstunde in der Schule. Fomette beugte sich zu Herbelot vor und beklagte sich über die Hitze im Saale; sie nahm ihm den Appetit und machte ihn schwindlig. Im Gespräch musterte er flüchtig die feindlichen Ehegatten. Da er gewohnt war, seine Urteile in der Regel nach der Aktenlage und schriftlich zu fällen, störte ihn die Anwesenheit der Parteien und ihrer Vertreter. Er war von Haus aus eine schüchterne Natur und gab sich um so mehr Mühe, selbstbewußt und würdig zu erscheinen … Der Schriftführer ließ wirklich zu lange auf sich warten! … Tartre erbot sich, ihn suchen zu gehen, als endlich ein kleiner Mann mit einem Fuchsgesicht, die Aktentasche unter dem Arme, hereinstürzte.

»Also, also!« sagte Fomette. »Endlich!«

Und ohne auf die lebhaften Entschuldigungen des Schriftführers zu reagieren, vereidigte er ihn rasch. Der kleine Mann ordnete hierauf mit großer Geschwindigkeit die Akten, daß die Bogen nur so flogen, äugte ins Publikum und blinzelte die Rechtsanwälte spöttisch und vergnügt an.

Francine entging kein Detail der bitteren Komik dieser Szene. Sie bemerkte, wie Tartre mit entschiedenen Bewegungen die Falten seiner Robe glättete, wie Le Hagre sich in entschlossener Haltung zu Angriff und Verteidigung vorbereitete und wie Herbelot mit halb geschlossenen dicken Augenlidern einer großen Katze auf der Lauer ähnlich sah. Sie fühlte, daß ihr Schicksal sich hier entscheiden würde, daß es von den Aussagen ihrer Zeugen und der Zeugen ihres Gatten abhing, von dem Eindruck, den sie machen würden.

Fomettes Züge drückten den Ernst seines Berufes aus. Jede Falte seines Wesens war Würde und Macht. Die Atmosphäre des Saales war mit Strenge erfüllt, die die Luft verdrängte. Peinliche Ungewißheit lag in der Stille.

Der Richter diktierte dem Schriftführer eine Reihe von altertümlichen Formeln, die dunkel und gefährlich klangen und die der Schriftführer monoton wiederholte.

Nach Erledigung dieser Zeremonien, die endlos zu währen schienen, ordnete Fomette an, daß der erste Zeuge aufgerufen würde.

Charlie de Bréars trat militärisch ein, grüßte den Richter achtungsvoll und verbeugte sich dann sehr tief vor Francine.

Fomette fand, daß er den Unterschied allzusehr betone und stellte ihm die übliche Frage, ob er mit einer der Parteien verwandt oder verschwägert, oder von ihr abhängig sei.

»Pardon«, sagte Charlie, »ich habe die Ehre, ein Cousin dritten Grades der Frau Le Hagre zu sein.«

»Ah, Cousin?« sagte Fomette, den der übertrieben respektvolle Ton ein wenig ärgerte. »Heben Sie die Hand und schwören Sie, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.«

»Ich schwöre«, erklärte Charlie schärfer und schneidiger als vielleicht nötig gewesen wäre.

Der Ton, in dem Fomette die Worte »ah, Cousin?«, übrigens ohne jede böse Absicht, wiederholt hatte, mißfiel ihm. Infolge der Übermüdung durch die Reise begannen seine Augen fieberig zu glänzen, er litt sichtlich und als Tartre und Le Hagre flüsternd die Köpfe zusammensteckten, warf er ihnen eine irritierten Blick zu, der Fomettes üble Laune verstärkte.

Diese jungen Leute, dachte er, sind doch immer die gleichen: voreingenommen, parteiisch, eingebildet. Er hatte ein Vorurteil gegen die Jugend, denn sein erwachsener Sohn vertrug sich nicht mit ihm und beleidigte durch sein Verhalten immer wieder seine väterliche Eigenliebe.

»Bitte, erzählen Sie uns, was Sie wissen.«

Charlie wußte eine Menge. Aber er war nicht darauf vorbereitet, in Gegenwart dieser feierlichen schwarzen Talare, der unglücklichen Francine und dieses unsympathischen Kerls von Le Hagre wie bei einer Prüfung eine zusammenhängende Darstellung zu geben. Sein Gehirn war leer.

»Ich ersuche Sie, mir Fragen zu stellen«, stammelte er.

»Wir könnten den Zeugen fragen …« wollte Herbelot suggerieren.

Aber Fomette war entschlossen, diesen jungen Offizier, dessen kränkliches und hochmütiges Aussehen ihm ganz einfach mißfiel, seine Macht fühlen zu lassen.

»Nein, nein«, beharrte er entschieden. »Ich denke, daß der Zeuge, der zu diesem Zwecke hier erschienen ist, wohl imstande sein wird, uns zu sagen, was er weiß.«

Der Stolz zweier einflußreicher Kasten prallte aneinander. Charlie begann:

»Ich kenne Frau Francine Le Hagre seit ihrer Kindheit …«

»Seit welchem Jahre?« fragte Fomette.

Er war sonst ein friedlicher Mensch, aber Charlies Verhalten hatte seine Eitelkeit verletzt.

Die Jahreszahl? Charlie mußte nachrechnen. Wer denkt an solche Dinge? Endlich fiel sie ihm ein. Er fuhr fort, aber ohne Nachgiebigkeit, gereizt und trocken. Er versicherte, daß Francine, vor deren Charakter alle ihre Freunde die größte Achtung hätten, in der Ehe ein wahres Martyrium ausgestanden hätte …

»Das ist eine Annahme«, unterbrach ihn der Richter. »Ich wünsche Tatsachen zu hören. Aber bevor wir weitergehen, möchte ich feststellen, ob Ihnen bei genauem Nachdenken die Worte ›eheliches Martyrium‹ nicht etwas übertrieben vorkommen?«

»Nein, ich drücke mich so milde als möglich aus«, erklärte Charlie energisch.

»Sie wünschen also, daß ich diese Worte protokollieren lasse? Ja? Bitte: ›ein wahres eheliches Martyrium!‹«

»Ich habe es gesagt und wiederhole es«, bestätigte Charlie lebhaft und blickte auf Francine. »Ich lege Wert darauf, daß meine Worte protokolliert werden.«

Fomette machte eine Handbewegung, die, ohne die Aufrichtigkeit des Zeugen in Zweifel zu ziehen, das Vertrauen in seine Behauptung ein wenig abzuschwächen schien. Dann ließ er durch den Schriftführer das Protokoll vorlesen.

»Richtig so? Stimmt es?« fragte er dazwischen.

Es war ungefähr das, was Charlie gesagt hatte. Aber die Intensität, der feurige Ton seiner Aussagen hatte sich in den Sätzen des Protokolls abgeschliffen und entfärbt. Er mußte sich damit zufrieden geben.

»Bitte, fahren Sie fort«, sagte Fomette, lehnte sich in seinen Fauteuil zurück und fuhr sich mit großer Geste über Nacken, Schädel und Wangen, bis in den Bart.

Charlie, der seine volle Selbstbeherrschung gefunden hatte, sprach nun fließend. Fomette konnte ihm kaum folgen und machte sich Notizen. Es war die Stunde, um die er schläfrig wurde. Sein Mund verzog sich in unterdrücktem Gähnen. Wie heiß war es nur wieder in diesem Saale.

»Warten Sie,« sagte er mit Anstrengung, »damit wir zusammenfassen können.«

Er diktierte und die Feder des Schriftführers arbeitete. Eine feierliche Langweile, trauriger als jeder Kummer, trostloser als der Schmerz, sank über die Gruppe von Personen, die wie versteinert um den Gerichtstisch saß. Nur das spitze Gesicht des Schriftführers und seine hämischen Augen lachten und das einzige Geräusch war das Kratzen seiner Feder auf den großen, weißen Bogen.

Fomette ließ seine Blicke über die Anwesenden gleiten: Herbelot rührte sich nicht, Tartre fing mit unschuldiger Miene eine Fliege, Francine und Le Hagre warteten. Die Züge des Richters drückten ein schläfriges Erstaunen aus, das zu sagen schien: Was zum Teufel wollt ihr hier? Was für einen Sinn hat das alles? Wollt ihr euch wirklich scheiden lassen? Dabei diktierte er mechanisch das Protokoll und alle hatten die Empfindung, daß dieser Nachmittag nie zu Ende gehen würde.

Während Charlie erzählte, wie Francine mit ihrem Töchterchen und den gefundenen Briefen nach Aygues-Vives gekommen war, gab Tartre seiner gefangenen Fliege die Freiheit, lächelte unverschämt und stellte in artigem Tone die Frage:

»Hat der Herr Zeuge jemals einer Szene zwischen der Klägerin und ihrem Gatten beigewohnt?«

Charlie fuhr fast erschrocken herum und antwortete brüsk:

»Nein, ich war bloß Zeuge der Empörung und des Schmerzes der Frau Francine Le Hagre …«

»Sie haben nur mit mir zu sprechen«, rief Fomette, »und mit niemand anderem!«

Es wurde festgestellt, daß Charlie niemals ehelichen Szenen, Drohungen oder schweren Beleidigungen beigewohnt hatte, denn Charlie blieb in seiner Ehrlichkeit natürlich bei der Wahrheit, obwohl er das Gefühl hatte, damit der Freundin nicht viel zu helfen.

Seufzend fragte Fomette:

»Ist das alles?«

»Ich glaube, damit meine Verachtung für diesen Menschen gerechtfertigt zu haben,« sagte Charlie, »für einen Menschen, der …«

»Halt!« schrie Fomette und das Blut schoß ihm in die Stirne. »Sie haben hier nichts zu rechtfertigen …! Sonst werde ich Sie ersuchen, sich zu entfernen …! Warten Sie, ich muß Ihnen Ihre Aussagen noch vorlesen lassen …«

Nach der Verlesung des Protokolls fragte der Schriftführer:

»Verlangen Sie die Zeugengebühr?«

Herbelot hob protestierend die Hand: es war doch selbstverständlich, daß Herr von Bréars sie nicht verlangte …

Charlie geruhte nicht zu antworten. Fomette wiederholte ärgerlich und erstaunt:

»Also, Sie verlangen keine Gebühr?«

»Nein, Herr Richter«, sagte Charlie feierlich.

»So … Dann können Sie sich zurückziehen.«

Fomette war sehr unzufrieden. Dieser junge Mann hatte es an Achtung vor dem Gerichte fehlen lassen. Offenbar hatte er sich eingebildet, ihm durch seine Uniform zu imponieren. Francine fühlte, daß Charlie keinen günstigen Eindruck gemacht hatte. Le Hagre betrachtete interessiert den Plafond.

»Der nächste Zeuge!« rief Fomette würdevoll und klopfte mit dem Finger auf den Tisch.

Es war Oberst Morland. Fomette musterte ihn mißvergnügt … Schon wieder eine Uniform! Die Art und Weise, wie er den Eid mit emphatischer Geberde leistete, seine kräftige Stimme, seine Don-Quichote-Nase reizte den Richter, der schon bei den ersten Worten dieses Zeugen dessen parteiische Ergebenheit für Francine feststellte.

»Ja, ja, ja,« rief Fomette ungeduldig, »Tatsachen, bitte, Tatsachen!«

»Tatsachen? Mein Gott, natürlich …« der Oberst stotterte, behauptete ganz im allgemeinen, daß Francines Ehe eine unglückliche gewesen sei, mußte aber zugeben, daß auch er niemals einer Szene zwischen den Gatten beigewohnt habe … Seine Angaben waren vage und blieben eindruckslos. Tartre brachte ihn durch Zwischenfragen in Verlegenheit und Herbelot versuchte vergebens, ihm zu Hilfe zu kommen. Ohne zu wissen wie, hatte er seine Aussagen unterschrieben und stand abgefertigt wieder im Zeugenzimmer.

»Man hat mich nicht zu Worte kommen lassen«, behauptete er wütend.

»Der nächste Zeuge!« seufzte Fomette resigniert.

Sein Magen zog sich zusammen, er hatte Kongestionen. Es wurde spät, aber die Pflicht … Vor sieben Uhr war an kein Ende zu denken.

Gräfin Favié trat in den Saal, blaß vor Aufregung und Seelenschmerz.

Sie hatte ihren Schwiegersohn seit Beginn des Prozesses nicht gesehen.

»Bitte, sagen Sie uns, was Sie wissen!«

Gabriele sprach sehr lange, sehr ausführlich und gemäßigt, mit einer Beredsamkeit, die zum Herzen ging. Tartre unterbrach sie mit Zwischenfragen, Herbelot sekundierte ihr. Fomette diktierte mit monotoner Stimme das Protokoll, stützte die ungeheure Stirn in die Hände, langweilte sich und hatte Kopfschmerzen.


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