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XVIII.

In diesen letzten drei Nächten waren Sépale und Tartre Francine sogar im Traum erschienen. Die Voreingenommenheit des Präsidenten Trassier machte sich immer deutlicher bemerkbar. Francine hätte ihre Sache am liebsten selbst vertreten und die Richter durch das Argument ihrer Aufrichtigkeit überzeugt. War es ihr nicht gelungen, Broussin für sich zu gewinnen? Er glaubte an sie, und Marchal hatte ihr bestätigt, daß er sich warm für sie einsetzen würde. Sie hatte seine Skepsis besiegt, durch ein Nichts, durch den Ton ihrer Stimme, der ihm zu Herzen ging, durch die Wirkung einer zufällig glücklich gewählten Stellung, durch den Charme ihrer selbstbewußten Haltung. Sie hatte ihm gefallen, und der günstige persönliche Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, würde ihr mehr helfen als die Gerechtigkeit ihrer Ansprüche und die Unparteilichkeit des Richters. Wie merkwürdig war dies alles …!

Übermorgen. Morgen … heute …

Es schlug Mittag, es schlug ein Uhr. Da drüben im Justizpalais, im Getriebe von Stimmen und Schritten, zwischen Zeugeneinvernahmen und Plaidoyers wurde jetzt ihr Name aufgerufen … Die Uhr im Salon tickte wie gewöhnlich, aber die Zeit schien stehenzubleiben. Francine saß neben ihrer Mutter, die die halbe Nacht im Gebete verbracht hatte, und zählte die endlosen Minuten. War es möglich, daß sich jetzt wirklich ihr Schicksal entschied? Seit Oktober hatte sie diesen Moment ersehnt. Und jetzt ging der März seinem Ende zu.

Sie blickte durch das Fenster, auf die Bäume des Bois, an deren Spitzen sich die ersten Knospen zeigten. In Aygues-Vives war die Natur wohl noch kaum aus dem Winterschlaf erwacht.

Wie schön wäre es, auf dem Lande leben zu können! Francine sah sich mit Josette durch die kahlen Alleen des Parkes schreiten, im Glanz der ersten Frühlingssonnenstrahlen. Was hatte die junge Frau, die in kurzem Frühlingskleid, mit hellen Augen und elastischer Figur zwischen den dunklen Tannen einherwandelte, mit jener Frau Le Hagre zu tun, deren Zukunft vom Scharfsinn oder Wohlwollen alter Gerichtsräte, von der Überzeugungskraft ihres Anwaltes abhing? Wie kam es, daß das Urteil über ihr Glück oder Unglück von Worten entschieden wurde, die ein Fremder vor einem neugierigen oder übelwollenden Publikum in einem öffentlichen Verhandlungssaal aussprach, von der Zustimmung oder Ablehnung einiger gleichgültiger Herren, die sie kaum kannten? Trassier, den sie zweimal gesehen hatte, Broussin, mit dem sie sich einmal eine Stunde lang unterhalten hatte! Unpersönliche Wesen, die ihr fremd waren wie mythologische Figuren. Gerade jetzt sprach ihr Advokat. Er schilderte jedem, der es hören wollte, wie und mit wem ihr Gatte sie betrogen hatte. Erzählte von Lieschen, leuchtete in alle Winkel ihres Hauses, in ihr Schlafzimmer, in alle Falten ihres Bettes … Es schien ihr unbegreiflich und ungehörig, daß sich die Öffentlichkeit in diese Intimitäten einmischte.

Sie setzte sich neben Josette und las ihr eine Geschichte vor. Aufmerksamkeit ließ die schönen Augen der Kleinen erglänzen und zauberte liebliche Reflexe auf ihr blütenfrisches Gesichtchen. Josette war, mit ihrem noch immer nicht ganz beweglichen Arm und von ihrem Vater verlassen, mit Leib und Seele Francines wahres Geschöpf geworden. Klar und vertrauensvoll suchte das Kind den Blick der Mutter.

Francine fühlte, daß Josette bald begreifen würde, daß sie vielleicht schon verstand, und sie wünschte, daß die Situation sich rasch klären möge.

Um halb fünf stürmten zuerst die Morlands, dann die de Guertes herein.

»Du Foudray war großartig!« rief der Oberst begeistert, denn der Erfolg seines Vetters fiel schließlich auch auf ihn. »Ich habe es ja gewußt! Er hat Sépale niedergedonnert.«

Herr de Guertes berichtete kühl und artig:

»Der Saal war voll wie bei einer Première. Frau Pustienne saß, wie es sich gehörte, in der ersten Reihe. Ich habe drei Reporter und den Zeichner Flûte im Publikum erkannt. Unzählige Advokaten! Du Foudray wurde von allen umdrängt …«

»Ja,« setzte Henriette fort, »man hörte nichts wie: Glänzend, teurer Meister, fabelhaft! Sépale selbst hat ihm gratuliert. Und es ist noch nicht aus! Morgen hat du Foudray das Schlußwort. Welch ein Bild hat er von dir entworfen … und von Gräfin Favié! Ich schwöre euch, es war rührend! Ein Erfolg, ganz ohne Zweifel, ein Erfolg.«

»Ich mache ihm nur einen Vorwurf,« sagte Frau Morland, »er hat Ihren Mann nicht genug hergenommen!«

Francine eilte zu Herbelot, der ihr Bericht erstattete: man mußte sich noch in Geduld fassen. Tartre hatte die Abweisung des Scheidungsbegehrens beantragt, Francines Vertreter beharrte dabei, daß keine Versöhnung stattgefunden habe.

»Es wäre von Wichtigkeit,« führte er aus, »daß du Foudray diesen Gesichtspunkt betonte. Er spricht gut, sehr gut; der Gerichtshof hat ihn mit größter Willfährigkeit angehört … obwohl Fomette später seine Schläfrigkeit nicht verbergen konnte und Broussin Männchen auf das Löschpapier zu zeichnen begann … Von mir selbst will ich gar nicht reden. Saint Hélier schien gepackt; er hat eine kleine Schwäche für advokatorische Beredsamkeit. Aber inwieweit uns das nützen wird, läßt sich nicht absehen. Präsident Trassier blieb die ganze Zeit aufmerksam und brummig … Du Foudray hatte wirklich glänzende Momente; während er die Briefe Lieschens vorlas, ließ er seine tiefe Stimme in überzeugender Mißbilligung erzittern. Der ganze Verhandlungssaal war ergriffen, wie er berichtete, daß Sie dieses undankbare junge Mädchen als Waisenkind aus Deutschland mitgebracht und mit Wohltaten überhäuft hätten …«

Erstaunt sah ihn Francine an: Lieschen? für ein Waisenkind war sie mit ihren dreißig Jahren reichlich erwachsen gewesen, und davon, daß sie sie aus Deutschland mitgebracht hatte, war ihr nichts bekannt … Das mußte wohl ein Irrtum sein. Ach, Francine hätte sich noch mehr gewundert, wenn sie der Verhandlung beigewohnt hätte! Sie hätte ihre eigene Geschichte nicht erkannt, die du Foudray, in ein phantastisches Melodrama verwandelt, in wohlgebauten Phrasen zum Vortrag gebracht hatte. Er ließ sie als christliche Märtyrerin auftreten, als verfolgte Heldin, so daß man hätte glauben können, daß er sie zu verteidigen habe. Er behauptete, daß schon ihr Vater – der doch gewiß mit der Sache nichts zu tun hatte – ein strahlendes Vorbild ehelicher Treue gewesen sei und daß sich diese Grundsätze in der Familie der Grafen von Favié seit jeher weitervererbt hätten …!

Offenbar war das die Art, die auch Herbelot für nötig hielt, um eine Sache richtig aufzuzäumen.

Francine suchte Torson du Foudray in seinem Hotel auf. Erhitzt von Anstrengung und Begeisterung über seinen Erfolg hatte der Advokat das Hemd gewechselt und war eben im Begriffe, sich bei einem Gläschen Malaga mit Biskuits zu stärken. Der Reporter des »Matin« hatte ihn interviewt und Flûte hatte ihn von der Seite, von rückwärts und im Dreiviertelprofil skizziert. Er streckte Francine beide Hände entgegen und zog sie väterlich in seine Arme.

»Mein Kind,« rief er, »Sie können mit mir zufrieden sein! Ich habe mich selbst übertroffen …«

Als sich am nächsten Tage Sépale, elegant und fahl, erhob und seinen spitzen Kopf kriegerisch emporreckte, lief ein Schauer der Neugierde durch den Verhandlungssaal. Alle Advokaten, die frei waren, hatten sich eingefunden, um ihn reden zu hören, und eine Unzahl schöner Frauen erfüllte die Reihen. Unmittelbar hinter ihm hatte sich Frau Pustienne niedergelassen, die viele für die Schwiegermutter Le Hagres hielten, weil sie der Verhandlung mit so persönlicher Anteilnahme folgte. Sépale wandte sich um und verbeugte sich respektvoll vor ihr, was sich sehr gut machte.

Unter den Anhängern Le Hagres bemerkte man, korrekt und taktvoll, das Ehepaar Lurat. Auf der anderen Seite Frau de Guertes, die zu Ehren ihrer Freundin einen reizenden Frühjahrshut zum ersten Male zur Schau trug, ihren Gatten, das Ehepaar Morland und die charakteristische Figur des alten Marchal.

Die Mitglieder des Gerichtshofes setzten sich bequem zurecht. Präsident Trassier stützte sich auf die Ellbogen, Fomette spielte mit einem Papiermesser, dessen Spitze er sich in den Daumenballen zu bohren pflegte, wenn ihn das Verdauungsschläfchen zu übermannen drohte, Broussin blinzelte Marchal freundschaftlich zu. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft, Resne, bereitete seinen Notizblock vor. Der Schriftführer leckte sich erwartungsvoll die Lippen …

Sépale begann zu reden: Es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören; seine Diktion war klar, die Betonung scharf und nuancenreich. Er trat ein wenig von seinem Sitze weg und führte, während er wie ein Jongleur die weiten Ärmel seiner Robe immer wieder mit raschen Bewegungen hinaufschob, seine Argumente vor, improvisierte geistreiche Pointen, fing im Flug mit halbem Ohr Daten und Namen geschickt auf, die ihm sein Sekretär soufflierte. Mit großen und ironischen Gesten wendete er sich an seinen »hochverehrten Herrn Gegner« und baute aus dem Stegreif sein brillantes Plaidoyer.

Alles, was raffinierteste Bösartigkeit, genialste Verleumdungskunst erfinden konnte, brachte er spielend und effektvoll zur Geltung. Er lieferte Francine und ihre Mutter der Lächerlichkeit aus. Le Hagre, »diesen vollkommenen Gentleman« machte er mit einigen warmen Worten interessant und sympathisch. Der ganze Prozeß, versicherte er, wäre abscheulich, wenn er nicht eine gewisse Komik hätte … Er behauptete, daß die angeblichen Briefe Lieschens gefälscht und nachträglich in die vorgefundenen Kouverts praktiziert worden seien, während man die Originalschreiben, kurze und unverfängliche Berichte des Kinderfräuleins über das Befinden Josettes an ihren Vater, zum Verschwinden gebracht hätte. Man möge doch, wenn man dazu imstande sei, vor allem die Authentität der kompromittierenden Schriftstücke beweisen! Aber, von all dem abgesehen, wenn Le Hagres Position der Sache nach auch diskutabel sei, so stünde ihre Rechtslage doch klar und unerschütterlich fest …

Bei diesem Zauberwort spitzte Trassier das Ohr. Saint Hélier kreuzte wie ein Mönch die Hände über dem Bauch und selbst Broussin setzte sein Augenglas auf, um diesen unverschämten Sépale genauer sehen zu können …

»Ja, die Rechtslage! Wir wollen einmal bereitwilligst annehmen, Fräulein Lieschen habe sich in einer bedauerlichen Aufwallung, hingerissen von dem persönlichen Charme, von dem vornehmen Charakter ihres Herrn und Protektors, des Grafen Le Hagre, wirklich mit ihm vergessen …! Nehmen wir an – nur für einen Moment! – daß sie die fraglichen Briefe wirklich geschrieben hätte! Würde selbst das, meine Herren die unerhörte Tat der Gräfin Le Hagre rechtfertigen, die nicht davor zurückschreckte, den Schreibtisch ihres Gatten gewaltsam zu sprengen und sich gegen seinen Willen seiner Privatgeheimnisse zu bemächtigen …?«

Aus der Tatsache, daß Francine in gerechter Empörung die Briefe an sich genommen hatte, machte er eine Geschichte von Diebstahl und Erpressung, ausgeführt von einer tückischen und hysterischen Ehefrau. Im Gegensatz zu der tadellosen Aufführung Le Hagres, einem wahren Musterbild aller männlichen Tugenden, schilderte er den unerträglichen Charakter dieser jungen Frau in den lebhaftesten Farben. Sie sei so widerspenstig gewesen, daß sie – er bedaure es aufs tiefste, daß man ihn zwang, den Schleier von derartigen Intimitäten zu heben – daß sie sich seit zwei Jahren ihren ehelichen Pflichten entziehe und dadurch ihren rücksichtsvollen Gatten wahren Tantalusqualen aussetze.

Diese Feststellung löste allgemeine Heiterkeit aus. »Aber die wahre Schuldige«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »ist anderswo zu suchen. Es ist die ewige Feindin jedes häuslichen Glückes, die klassische Figur des Lustspiels und leider oft auch des Trauerspiels, die Schwiegermutter! Gräfin Favié ist die typische Verkörperung dieser Art Geißel Gottes. Die Scheidung ist ihr Werk, von ihr angestiftet, und ihr unglaublicher Einfluß zwang ihre Tochter zu diesem Schritte, obwohl ihr eigenes Herz gern verziehen hätte. Ich weiß, daß Gräfin Favié, abgesehen von ihrem herrschsüchtigen Charakter, eine Dame von unantastbarem Rufe ist, die in der besten Gesellschaft, der sie angehört, sich mit Recht der höchsten Wertschätzung erfreut …«

Und sofort begann er mit einer kühnen und unerwarteten Wendung den guten Ruf Gabrieles, den er soeben verkündet hatte, zu zerpflücken, zu untergraben und zu zerstören. Die Argumente, deren er sich bediente, waren glaubhaft, einleuchtend, auf der Hand liegend.

Rot vor Empörung rissen die Morlands die Augen auf. Wenn sie ihre Freundin nicht so gut gekannt hätten, hätten diese Angriffe sogar auf sie Eindruck gemacht.

Marchal erfaßte sachliche Bewunderung: Ein Virtuose! Die Richter lauschten mit offenem Munde. Es war empörend, daß die geheimsten Schmerzen Francines, wie die so vieler anderer, statt in aller Stille und so schnell als möglich geheilt zu werden, nur einen Anlaß zu schrankenlosen rhetorischen Kunststücken gaben. Die Eitelkeit der Advokaten produzierte sich zum größten Vergnügen des Publikums im Verhandlungssaale wie auf einem Kampfplatz. Die Galerie zählt die Punkte, der Gerichtshof wird mitgerissen. Und ärger ging es noch vor dem Geschwornengerichte zu. Die überhitzte Atmosphäre, der Kampf der öffentlichen Meinung übte einen unheilvollen Einfluß auf das Urteil. Leben und Tod eines Menschen hing von einem Wettstreit von Reden ab. Gewiß war das Recht der freien Verteidigung anzuerkennen. Aber es wurde allmählich notwendig, Leuten wie Sépale ein wenig auf die Finger zu klopfen, denn was sie sich im Bewußtsein ihrer Unverletzlichkeit herausnahmen, überschritt schon jedes zulässige Maß …

Sépale überblickte mit bösem Lächeln das Publikum, das er in seiner Gewalt hatte, und den Gerichtshof. Er fühlte sich siegessicher. Warum, zum Teufel, hatten sich diese schönen und gewiß sehr anständigen Damen nicht zuerst an ihn gewendet? Er wäre mit demselben Feuer, mit denselben Mitteln ebenso gerne für sie wie gegen sie aufgetreten …

Unter allgemeiner Bewegung begann er eine Lobrede auf die Freuden der Ehe und zählte alle Beweise zartfühlender Liebe, die Le Hagre seiner Gattin gegeben hatte, auf. Er kam auf die biblische Liebe zu sprechen, diese erhabene Vereinigung der Menschen, die Gott, der Herr, selbst eingesetzt hatte, und Frau de Guertes drückte in heimlicher Zärtlichkeit die Hand ihres Gatten. Er schilderte in drastischen Worten die Schädlichkeit, die Ungehörigkeit der Scheidung, dieser gewaltsamen antisozialen Trennung zweier Personen, die geschaffen waren, sich zu verstehen und zu lieben, und die ein geringfügiges, kleines, lächerliches Mißverständnis auseinander führe … Er beklagte Josette, der das Schicksal eines Waisenkindes bevorstehe, wenn man sie ihrer bewundernswerten väterlichen Großmutter entziehe … Frau Pustienne führte gerührt ein Fläschchen mit Riechsalz an ihre Nase und erfreute sich an der Teilnahme aller jener, die sie für die Mutter Le Hagres hielten.

»Was will diese junge Frau?« rief Sépale hingerissen. »Diese junge Frau, die im ehelichen Heim ein wolkenloses legitimes Glück erwartete! War sie sich doch selbst darüber so klar, daß sie, übermannt von Erinnerungen an schöne Tage, freiwillig zurückkehrte, als ihr das Gewissen zurief: Dein Gatte erwartet dich, er breitet die Arme aus, er wird dich zärtlich und liebevoll an seine Brust ziehen! Bleibe, o bleibe, unter dem schützenden Dache deines Glückes!«

Mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers behauptete er, daß Francine selbst die Versöhnung durch eine Umarmung besiegelt hätte, in der sie durch Le Hagres Mutter und die geistliche Pflegeschwester überrascht worden wäre … Und jetzt wolle sie diesen schönen Zug ihres Herzens leugnen, wolle die Rückkehr in das Haus ihres Gatten durch unwahrscheinliche Ausreden erklären? Wer sollte das glauben!

Marchal schüttelte den Kopf. Die Art Sépales machte es eigentlich jedermann unmöglich, einen Scheidungsprozeß zu führen, wenn man sich nicht Schimpf und Spott preisgeben wollte. Es war unbegreiflich, daß der Gerichtshof nicht den Ausschluß der Öffentlichkeit verfügte. Errötete denn niemand bei diesem Waten im Schmutze? Gesetze, Prozeßordnung und Verfahren waren grausam und veraltet. Dieser ganze Justizpalast war eine zweite Bastille, reif, erstürmt und demoliert zu werden …

Sépale hatte seine Rede beendet. Er trat zurück, fächelte sich mit einem Taschentuch Luft zu und machte ein bescheidenes und gutmütiges Gesicht, während ihn Journalisten, Kollegen und rosig gepuderte Kokotten beglückwünschend umringten. Sein Sekretär hüpfte vor Eifer von einem Bein auf das andere, Tartre rieb sich zufrieden die Hände. Selbst Torson du Foudray schüttelte ihm, zur Empörung des Obersten Morland, in großmütiger Aufwallung die Hand.

Marchal suchte Broussin auf und kam deshalb spät zu Francine. Es war der Besuchstag der Gräfin Favié und ihr Salon war von Freunden erfüllt. Das Ehepaar Morland hatte Alarmnachrichten gebracht: Dieser Sépale war ja ein Verbrecher! Überdies grollten sie Francine, denn sie hatten die Absicht, zu Ehren ihres Vetters du Foudray eine Soiree zu geben, und Francine, die als Heldin des Dramas dabei vorgeführt werden sollte, hatte die Einladung abgelehnt.

Henriette de Guertes machte sich Vorwürfe, daß sie sich bei Sépales skandalösem Plaidoyer so gut unterhalten hatte.

»Es läßt sich nicht leugnen,« erklärte ihr Mann, »daß Sépale seine Sache versteht.«

Von allen Seiten wurden Francine und ihrer Mutter Details der schändlichen Lügen zugetragen, deren Zielscheibe sie gewesen waren. Jeder hielt sich für verpflichtet, ihnen einen aufrichtigen Bericht zu erstatten.

Marchal gab dem Gespräch mitleidig eine andere Wendung.

»Ich war bei Broussin«, sagte er leise zu Francine. »Der Gerichtshof hat sich über Sépales Unverschämtheiten amüsiert und neigt, als Kompensation dafür, Ihnen gegenüber zu Wohlwollen. Sépale hat den Bogen überspannt, indem er Lieschens Briefe als Fälschungen ausgab. Trassier und Fomette sind von Le Hagres Ehebruch überzeugt. Ohne diese unglückselige »Versöhnung« hätten wir höchstwahrscheinlich, mit zwei Stimmen gegen die von Saint Hélier, die sofortige Scheidung bewilligt bekommen. Jedenfalls steht Ihre Sache nicht schlecht. Bitte, haben Sie Mut!«

Acht Tage später stellte der Staatsanwalt seine Schlußanträge. Resne hatte einen klaren Blick und pflegte seine Meinung offen auszusprechen. Er betrachtete die Versöhnung als nicht stattgefunden, beurteilte Le Hagre, wie er es verdiente, und beantragte die Scheidung. Wieder acht Tage später sollte das Urteil bekanntgegeben werden.

Francine und die Gräfin Favié konnten vor Herzklopfen nicht mehr schlafen. Broussin gab Hoffnung, daß man um die Ausschreibung eines Zeugenverhöres herumkommen würde. Da es den Anschein hatte, daß sich das Ministerium bis über die Neuwahlen halten würde, zeigte sich Trassier gutgelaunt und milde. Die Entscheidung hing an einem Faden. Aber am Tage der Urteilsverkündigung war Fomette erkrankt, was eine neuerliche Vertagung um eine Woche zur Folge hatte. In der Zwischenzeit wurde das Ministerium gestürzt. Broussin bemerkte sofort, daß Trassier wieder Bedenken kamen: die Sache mit der Versöhnung bedurfte doch noch einer gründlicheren Aufklärung …

Und am Tage der Sitzung verkündigte der Präsident die gefällte Entscheidung: Der Gerichtshof ordnete die Durchführung eines Zeugenverhöres über die von Francine Le Hagre vorgebrachten Tatsachen an und bestimmte gleichzeitig die Einvernahme von Zeugen über die von Le Hagre behauptete Versöhnung. Die Führung des Gegenbeweises wurde beiden Parteien bewilligt.

Du Foudray kam, um sich zu verabschieden. Er hatte mit Sépale und einigen anderen ebenfalls eingeladenen Persönlichkeiten bei Paillard gespeist, was er Francine aus Zartgefühl verschwieg.

»Jetzt reise ich nach Hause«, sagte er herzlich, »und trete erst wieder auf den Plan, wenn die Schlußverhandlung ausgeschrieben ist.«

Die Vorbereitung des Zeugenverhöres war Sache des Anwaltes Herbelot, der sich sofort gewissenhaft an die Arbeit machte. Es galt, den Zeugen ihre Rollen beizubringen, ihnen zu erklären, welche Punkte wichtig waren, und sie gegen alle Fragen zu wappnen, die sie in Verlegenheit bringen konnten. Man mußte ihnen kaltes Blut und Entschlossenheit einflößen, denn viele Menschen werden durch das Milieu eines Verhandlungssaales eingeschüchtert, schwächen ihre Angaben ab oder entschuldigen sich aus Ängstlichkeit wegen Krankheit. In der freundschaftlichen Absicht, seiner Klientin zu nützen, sagte er:

»Wir wollen die Liste der zu führenden Zeugen einmal durchsehen: Ihre Frau Mutter, selbstverständlich … Marchal? er ist klug und erfahren genug; um ihn brauchen wir uns nicht zu kümmern. Charlie de Bréars, Herr und Frau de Bouvières … Gut! Lieschen … diese Dame wird wohl nicht aufzutreiben sein. Schwester Ambrosia, die Krankenpflegerin. Doktor Dutoil … Die Dienstboten dürfen nicht vergessen werden: Nanette, Céline, Eugen …«

Francine wurde rot; wie schrecklich, wie erniedrigend, wie häßlich war das alles.

»Die Morlands natürlich!« fuhr Herbelot fort, »Man muß nur genau feststellen, was sie wissen und was sie aussagen sollen.«

Und unbefangen aber in der deutlichen Absicht, richtig verstanden zu werden, erklärte er:

»Die Zeugen müssen sich selbstverständlich an die Wahrheit, an die reine Wahrheit halten. Trotzdem ist es wichtig, die Wahrheit gerade in der richtigen Fassung vorzubringen, damit sie wirkt … Alles hängt von der Art und Weise ab, wie eine Aussage gemacht wird. Wenn ich zum Beispiel der Oberst Morland wäre, ein Ehrenmann, alter Haudegen, offen und ungeniert – nicht wahr? – würde ich mich etwa so benehmen …«

Er zeichnete in groben Strichen, was und wie Oberst Morland auszusagen hätte. Ebensolche Verwaltungsmaßregeln stellte er für Charlie de Bréars und die übrigen Zeugen auf.

Francine wußte, daß seine Ratschläge gut gemeint waren, fühlte aber gleichzeitig erschrocken, wie zwischen der unbeugsamsten Rechtschaffenheit und einem weiten Gewissen nur ein Schritt lag.


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