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XIX.

Le Hagre hatte bekanntgegeben, daß er verreise, und daß es unnötig sei, Josette zu ihm zu bringen, bevor er eine diesbezügliche Weisung erteile. Francine und Gabriele benützten mit Josette diese Gelegenheit, ihre Sehnsucht nach reiner Landluft zu stillen, und fuhren für einige Tage nach Aygues-Vives.

Es war Mai. Schwertlilien schossen am Rande des Teiches aus dem Boden. Der Flieder blühte und die Mauern des Parkes waren mit Glyzinen bedeckt, in deren violetten Dolden schon die Bienen summten. Im frischen Grün des jungen Rasens standen Primeln und unter den Bäumen blühten die Veilchen. Alles drängte mit neuer Lebenskraft und Freude unwiderstehlich dem Lichte entgegen; aber im Herzen der beiden Frauen herrschte Trauer und Mutlosigkeit.

Sie brauchten einige Tage, bis der wohltuende Frieden der Natur und ihr lächelnder Glanz auch auf sie zu wirken begann. Auf der Terrasse, wo einst Gräfin Favié, dann Francine als Kinder gespielt hatten, saß nun Josette zwischen ihnen, sah unter demselben Frühlingshimmel den gleichen Fluß dahinströmen und blickte mit ihnen in die Pracht des Sonnenunterganges.

In der Seine, die wie immer um diese Zeit aus ihren Ufern getreten war, spiegelte sich das letzte Licht des Tages in goldigen und rosenroten Reflexen. Langsam versank die Sonne hinter leuchtenden Wolkenketten. Die Fähre, mit einem Karren beladen, zog langsam und dunkel durch dieses Meer von Licht. Das Wasser sprühte, wie in tausend glühenden Funken, die allmählich erloschen. Die Sonne verschwand und ein kühler Abendwind strich durch die Bäume. Der Glanz des Flusses verblaßte zu Silber, erlosch mehr und mehr und verging endlich, sich mit den Schatten der Ufer vermischend. Die erhabene Harmonie der Dämmerung, die still herniederglitt, ergriff Gabriele und Francine aufs tiefste. Das Kind zwischen sich, sahen sie sich mit Tränen in den Augen an.

»Bleiben wir immer hier?« fragte plötzlich Josette.

»Warum, Liebling?« entgegnete Gräfin Favié.

»Ach, hier ist es viel schöner als in Paris …«

Und nachdenklich fügte sie hinzu:

»Kann mich Papa hier auch abholen lassen?

Gabriele erzitterte und Francine fragte:

»Weshalb, mein Kind, willst du das wissen?«

»Weil ich dich nicht verlassen möchte …«

Das Gesicht der Mutter leuchtete im Dunkel auf. War diese kleine Seele wirklich schon zum Bewußtsein erwacht? Josette weinte oft, wenn sie zu ihrem Vater mußte, und wenn sie zurückkam warf sie sich mit solcher Inbrunst an die Brust ihrer Mutter, daß diese die Empfindung hatte, das Kind suche bei ihr Hilfe und Schutz. War das nur blinde Zärtlichkeit oder entfremdete sich die Kleine instinktiv einem Vater, der ihr nur aus Überlegung schmeichelte, und einer Großmutter, die sie zwar liebte, deren Zärtlichkeit aber nicht an die der Gräfin Favié heranreichte? Fühlte sie schon den Unterschied der ganzen Atmosphäre, wenn sie in die reine Luft kam, die in der Umgebung ihrer Mutter herrschte?

Das arme Kind hatte unter dem Drucke der ungerechten gerichtlichen Entscheidung zu leiden, die ihr die Gesellschaft eines schlechten Vaters aufzwang. Vielleicht durfte man hoffen, daß sich diese fatale Situation von selbst klären würde, denn schon schien es sich, wie eine junge Pflanze, dem Lichte zuzuwenden. Es war notwendig, daß ihr Herz diese Entscheidung unbeeinflußt und in voller Freiheit traf.

Josette wunderte sich über das lange Schweigen ihrer Mutter. Francine beugte sich zu ihr nieder und sprach ernst:

»Solange du nicht groß bist, mußt du deinen Vater besuchen …«

»Und wenn ich groß sein werde?«

»Dann gehst du nur zu ihm, wenn du willst; dann bist du frei!«

Josette seufzte erleichtert auf und dachte über dieses Wort nach, während Gräfin Favié, mit diesem Gespräche nicht ganz einverstanden, in die nächtliche Landschaft starrte.

In den nächsten Tagen übte der erfrischende Zauber der Natur eine immer zunehmende Wirkung aus. Die Nerven der beiden Frauen beruhigten sich, sie fühlten die Mißverständnisse, die sie getrennt hatten, schwinden und hatten die Empfindung, daß sie sich täglich inniger liebten. Wie in einem heilsamen Bade verflüchtigten sich Leiden und Sorgen. Niemals war ihnen Aygues-Vives so schön vorgekommen und die bekanntesten Stellen des Parkes schienen ihnen neu und interessant. Der Winter mit seinen traurigen Ereignissen lag wie ein böser Traum hinter ihnen.

Beide empfanden die Einsamkeit als Wohltat, jede suchte sich selbst und fand sich verwandelt. Der Frühling mit all seinen Düften erfrischte ihre Lebenskraft und zog sie in den Bann seiner ewigen Gesetze: ihre Herzen schlugen lebhafter, ihre Sinne waren wach.

Gräfin Favié erschrak über die heißen Blutwellen, die durch ihre Glieder fluteten, die ihre Brust höher hoben. An jedem Morgen bezeugte ihr der Spiegel, daß sie niemals schöner gewesen war. Ihre Wangen zeigten die zarte Farbe voll erblühter Rosen. Sie freute sich, noch jung zu sein, und gab sich dabei alle Mühe, es zu bedauern.

Sie kam nicht zum Beten, fühlte sich zu zerstreut, um ernste Betrachtungen anzustellen. Die Scheu vor der Sünde, die Angst vor dem Tode verging im hellen Scheine der Sonne, der Bäume und Wiesen segnend in seinen Frieden hüllte. Stundenlang konnte sie dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen der Quellen, die sich durch den Park schlängelten, lauschen. Sie seufzte tief aus übervollem Herzen, denn sie war glücklich und wußte nicht warum.

Auch Francine hatte ihre mädchenhafte Lebenslust wiedergefunden, fühlte sich nicht mehr unter dem Drucke einer unsichtbaren Sklavenfessel. Eine kleine Änderung ihrer Frisur, der Toilette, Rückkehr zu dem Geschmack vergangener Tage waren äußere Anzeichen dieser Veränderung. Sie setzte sich wieder an ihr Klavier und las mit Freude die Bücher ihrer ersten Jugend. Die Last böser Jahre fiel von ihr ab und auch sie lächelte, wenn sie vor dem Spiegel stand, über ihre klaren Augen unter der ernsten gedankenvollen Stirne. Ihr junger Körper reckte sich elastisch unter leichteren Kleidern und alles in ihr war Drang zu leben.

Sie hatte nicht mehr die übertriebenen Vorstellungen des frühreifen Kindes, das sie gewesen war, sondern ihre Sehnsucht war die der wissenden und vernünftig gewordenen Frau, die trotz aller Enttäuschungen, die ihr das Leben gebracht hatte, nicht an Verzicht dachte, sondern ihr Recht auf Glück durchzusetzen entschlossen war. Sie war nicht verliebt, aber sie dürstete nach Liebe.

Unwillkürlich kehrten ihre Gedanken immer öfter zu jenem Manne zurück, der sie einst geliebt und zur Ehe begehrt hatte … Sie hatte im Ministerium Informationen über ihn eingeholt, bei der Geographischen Gesellschaft und bei seinen wenigen Freunden. Aber sie hatte nur erfahren, daß Éparvié, seit er den Tanganjikasee überschritten hatte, kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte und daß seine letzten Briefe achtzehn Monate alt waren. Francine errötete, wie ein ertapptes Kind …

Nein, sie fürchtete sich nicht vor der Zukunft. Noch fühlte sie den ganzen Zauber der Jugend in sich. Noch glaubte sie an sich und betrachtete das Leben als ein beglückendes Märchen, das kennenzulernen und zu genießen ihr heißer Wunsch war. Vor ihren Augen nahmen alle Möglichkeiten immer neue Formen an, wie Wolkenlandschaften, die sich in schimmernde Paläste und seltsame Fabelwesen verwandeln können. Das Unbekannte hatte keine Grenzen. Sie fühlte sich als ein Teil des Universums; alles war gut und schön. Ihre Kräfte schienen ihr unerschöpflich, sie stellte sich vor, daß sie niemals altern würde und daß der Tod eine Unmöglichkeit sei.

Eines Tages nach dem Frühstück, während Floß vorsichtig Zuckerstückchen aus den weißen Fingern der Gräfin Favié nahm, öffnete Francine die Morgenpost, die ihnen aus Paris nachgeschickt worden war.

»Sieh da, die Schrift der guten Frau de Bouvières … Aus Verdun! Wie kommt sie dorthin? … Oh, mein Gott! … Charlie!«

Sie sah, wie ihre Mutter erbebte.

»Nein,« fügte sie rasch hinzu, »fasse dich! Er lebt … Ein Unglücksfall …«

Und in der Verwirrung las sie den Brief, der nur für sie bestimmt war, laut und rasch vor.

Charlie hatte nach einem scharfen Ritt mit einem Kameraden die Meuse zu Pferd traversieren wollen. Er glaubte, eine Furt gefunden zu haben, aber der Fluß, durch lang andauernden Regen angeschwollen, hatte eine scharfe Strömung, so daß sein Pferd den Boden verlor. Mit Müh und Not und in größter Lebensgefahr hatte er das andere Ufer in total durchnäßtem Zustand erreicht. Obwohl die Kameraden ihm zuredeten, war er nicht dazuzubringen, seine Kleider in einem Bauernhause trocknen zu lassen. Das Ergebnis war ein schrecklicher nächtlicher Fieberanfall. Am nächsten Morgen ging es ihm so schlecht, daß Leutnant de Cometroy an Frau Bouvières telegraphierte, die sofort erschien. Inzwischen war eine Lungenentzündung konstatiert worden, und da Charlie sich weigerte, sich in ein Spital bringen zu lassen, pflegte ihn Frau Bouvières in einem Häuschen nächst dem Schlosse von Cometroy. Aber das Fieber stieg in besorgniserregender Weise und der Arzt fürchte das Äußerste. Wenn Francine und Gabriele könnten und wollten, möchten sie eiligst kommen.

Gräfin Favié starrte wie versteinert vor sich hin und in ihren Augen flackerte ein düsteres Feuer, das Francine erschreckte. Sie traf daher die einzig mögliche Entscheidung, deren Durchführung Gräfin Favié auch einige Ablenkung bot.

»Wir reisen sofort«, erklärte Francine. »Ich telegraphiere an Frau de Bouvières und wir können ihre Antwort in Paris auf der Durchreise vorfinden.«

Mit rascher Entschlossenheit traf sie alle nötigen Vorkehrungen zur Abfahrt und packte selbst die Koffer. Ohne Tränen und wortlos saß Gräfin Favié da, wie ein vom Sturme verschlagenes armes Vögelchen.

Charlie, Charlie, den sie glücklich glaubte, von dem sie annahm, daß er sich entschlossen hatte, sie zu vergessen, und für den sie durch ihre Beziehungen in der guten Gesellschaft heimlich nach einem jungen Mädchen Ausschau hielt, das ihm eine würdige und liebe Lebensgefährtin werden sollte, Charlie, um den sie so viel gelitten, um den sie so viel gebetet und geweint hatte … war in Gefahr zu sterben. Nein, das durfte nicht sein, das war unmöglich!

Immer wieder hatte sie den fatalen Brief gelesen. In zwei Stunden würden sie Aygues-Vives verlassen und in Rembleuse den nächsten Zug nach Paris nehmen … Der Schmerz, den sie empfand, war trocken, scharf und unerträglich. Zwischen ihr und der Welt lag ein schwarzer Vorhang; der strahlende Tag, der Park im Sonnenschein, Blüten und Blätter existierten nicht mehr für sie. Wachte sie oder träumte sie einen bösen Traum?

Sie bäumte sich gegen die Vorstellung auf, daß Charlie sterben könnte .., Nein, das würde Gott nicht zulassen! Diese Ironie des Schicksals, dieser höhnische Zufall wäre zu unmenschlich …

Unter diesem schrecklichen Erwachen brach ihr ganzes künstlich aufgebautes Leben zusammen, die Scheu vor dem Urteil der Welt; Vorurteile und Grundsätze, selbst die Stimme des religiösen Gewissens verstummte: Sie war nur mehr ein Weib, das einen schönen jungen Menschen über alles liebte, ein Weib, das duldete und litt. Ihre erstickte, unterdrückte, geknebelte Liebe lebte mit der unwiderstehlichen Gewalt einer Springflut wieder auf.

Gabrieles Schweigen und ihre fiebrige Hast bewiesen eine derartige Gewalt der Leidenschaft, daß Francine es nicht fassen konnte. Gefühle von solcher Tiefe und Macht waren ihr fast unbegreiflich und verwirrten sie wie ein unlösbares Rätsel. Vor diesem Schmerz, für den es keinen Trost gab, ergriff sie achtungsvolles Staunen und die Empfindung der Größe dieser Liebe verdoppelte ihre Zärtlichkeit für ihre Mutter. Ein Gefühl, intensiver in seiner Menschlichkeit und Weiblichkeit als alles, was sie jemals empfunden hatte, süß und schmerzlich, töchterlich ergeben und fast geschwisterlich, zog sie zu Gabriele.

Während sie den Wagen bestiegen, wurde eine Depesche gebracht. Trotz ihres Mutes konnte sich Francine kaum entschließen, sie aufzumachen, denn sie befürchtete eine neue Unglücksnachricht.

»Von Herbelot!« rief sie. »Was mag mein Gatte noch von mir wollen!«

Der Anwalt beschwor sie, sofort nach Paris zurückzukehren. Sie hätte den ihr vom Gerichte zugewiesenen Wohnort eigenmächtig verlassen und Le Hagre habe diesen Umstand sofort amtlich feststellen lassen. Mit Berufung darauf weigere er sich nicht nur, die vom vorigen Monate rückständigen Alimente zu zahlen, sondern drohe auch die Anzeige bei Gericht zu erstatten.

Francine wurde wieder daran erinnert, daß das Joch ihrer Ehe noch nicht gebrochen war, daß ihr Mann noch immer das Recht und die Pflicht hatte, sie zu überwachen. Unter der Annahme, daß es noch immer zu einer Versöhnung kommen könne, verlangten die Vorschriften, daß die Frau ihren Wohnort nur mit Zustimmung des Gerichtes wechsle, denn wenn irgend eine amtliche Zuschrift ihr daselbst nicht zugestellt werden konnte, mußte der Prozeß neu begonnen werden; Zeit, Geld und Mühe waren verloren.

Francine hatte nicht daran gedacht, welche Folgen diese kurze Erholungsreise für sie haben könnte. Es war schrecklich, gerade in diesem Moment an ihre Unfreiheit erinnert zu werden. Sie konnte keinen Schritt machen, keine Bewegung, ohne beobachtet, verfolgt und kontrolliert zu werden, denn es bestand kein Zweifel, daß die bezahlten Agenten ihres Mannes ihr bis nach Aygues-Vives nachgespürt hatten. Durfte sie ihre Mutter wirklich nicht nach Verdun begleiten? Die Zeit drängte, die Minuten waren wertvoll und ihr wurde zugemutet, durch ihren Anwalt erst eine formelle Erlaubnis einzuholen … Charlie lag im Sterben, war vielleicht schon tot – und Herr Le Hagre lebte, ging vergnügt spazieren und hatte keine andere Sorge als die, seine Frau zu quälen, zur Verzweiflung zu treiben, zu zerbrechen … Bei Gott, es gab keine Gerechtigkeit!

Aber diesmal war sie entschlossen, nach ihrem Gutdünken zu handeln. Wenn sie wirklich rechtlos war, um so schlimmer! Sie hatte genug! Was konnte sie tun …? Sie wußte es nicht. Ihre Empörung war und blieb machtlos.

Am Bahnhof Saint Lazare wartete die Equipage der Gräfin Favié, telephonisch von Rembleuse bestellt. Es war noch keine Nachricht aus Verdun eingetroffen. Sie begaben sich in ihre Wohnung und wußten nicht, welchen Entschluß sie fassen sollten. War es richtig, trotz allem abzureisen? Herbelot war unerreichbar. Endlich um sechs Uhr abends, als Gräfin Favié sich eben entschlossen hatte, allein auf die Bahn zu fahren, um den Schnellzug zu erreichen, traf ein Telegramm von Frau de Bouvières ein.

Es lautete: Hoffen Charlie retten zu können.

Gräfin Favié, die in diesen wenigen Stunden sichtlich gealtert war, starrte die Depesche zuerst verständnislos an. Dann zog sich ihr Gesicht schmerzlich zusammen. Endlich begriff sie: Charlie würde leben …

Jetzt erst konnte sie weinen.


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