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IV.

Gräfin Favié, die nachts nur bei offenem Fenster schlafen konnte, schob den Vorhang beiseite und blickte träumend hinaus in den Mondschein, der bläulich-hell über Terrassen und Rosenhecken, Alleen und Rasenplätze floß. Tausend Sterne funkelten am Himmel. Hinter den dunklen Tannen glitzerte in der Ferne silbern der Fluß. Das Rauschen der Brunnen drang durch die klare Luft.

Sie versuchte sich zu sammeln. Noch immer quälte sie, wie jeden Abend, jenes tiefe unerklärliche, unpersönliche Angstgefühl, das nicht einmal der schmale Lichtstreif zu bannen vermochte, der jenseits ihres offenen Toilettekabinetts, unter der Türe von Charlies Tür durchschimmerte. Floß, ängstlich und nervös wie seine Herrin, hatte den Schlafraum durchschnuppert und rollte sich nun am Fußende des Bettes zusammen.

Draußen rührte sich kein Zweig, kein Schatten. Gabriele ließ den Vorhang fallen und empfand plötzlich ein grundloses Bangen beim Anblick ihres traulich beleuchteten Zimmers. Das niedere Bett war für die Nacht bereitet. In der Ecke stand der bequeme Fauteuil neben dem Lesepult, wo zwischen den neuesten Magazinen und Tolstois »Auferstehung« eine abgenützte kleine Ausgabe der »Nachfolge Christi« lag. Ein deutliches Vorgefühl nahenden Unheils ließ sie erbeben. Sie dachte an Francine, an Josette … Ach, wie oft hatte sie sich umsonst Sorgen gemacht …

War Charlie nach der Spazierfahrt nicht ganz verändert gewesen? Er hatte eine Migräne vorgeschützt und hatte sich zeitlich zurückgezogen … Aber sie kannte seine Stimme, sein Wesen viel zu gut, um nicht besorgt zu sein. Hatte sie durch irgend etwas sein Mißfallen erregt? Waren ihm die beiden Lurat auf die Nerven gegangen? Wenn sie nur Gelegenheit gehabt hätte, ihn zu fragen … Ruhelos schritt sie auf und ab. Ein bequemes Hauskleid aus dunklem Samt ließ, tief ausgeschnitten, ihren blendend weißen Nacken sehen.

Der Lichtstreif unter Charlies Türe bedeutete die Grenze, die Konvention und Erziehung ihren Wünschen zog. Das Bewußtsein seiner Nähe erfüllte sie mit fast mütterlicher Zärtlichkeit. Der gute, große Junge! Mochte ihm das Glück auf seinem Lebenswege leuchten! Noch unter weißen Haaren würden alle ihre Wünsche, ihr Sorgen und Lächeln ihm gelten. Sie kniete neben Floß nieder und küßte ihn in überströmendem Zärtlichkeitsbedürfnis auf die kühle Schnauze.

Kein Geräusch drang aus Charlies Zimmer. Was machte er? Was dachte er? Konnte sie, sollte sie anklopfen? Sie sah sein blasses Gesicht und seine feurigen Augen vor sich und gab sich darüber Rechenschaft, daß sie sich hier, wo sie herangewachsen war, wo sie geliebt und gelitten hatte, viel mehr, viel intensiver mit ihm beschäftigte als in Paris. Wie nahe war er ihr und doch so fern … Wenn er hier, an ihrer Seite still sitzen könnte, seine Hand in der ihren, wäre alle Angst und Unruhe von ihr genommen …

Die »Nachfolge Christi« kam ihr in die Hände. Oft hatte sie Rat und Trost in dem Feuer dieser leidenschaftlichen Ergüsse einer einzigartigen Seele gesucht und gefunden. Ihre Finger zitterten. Sie öffnete das Buch aufs Geratewohl und las:

»Es ist ein eigen Ding um die Liebe und sie ist ein Gut, erhaben über allen anderen Gütern … Und oft kennt die Liebe kein Maß und keine Grenze und wallt über wie kochendes Wasser im Kessel …«

Das Buch sank auf ihre Knie. Eine unbekannte Erregung ergriff sie wie ein Schwindel, wie ein Rausch und ihr war, als läse sie diese Zeilen zum ersten Male. Sie bezog sie nicht mehr auf die himmlische Liebe, auf die Liebe zu Gott, sondern auf ein anderes, neues Gefühl, das ihr Herz fremd und ungestüm erfüllte, das wuchs und anschwoll und es zum Bersten zu bringen drohte … Vor ihren Augen wurde es hell, und heiße Lebensfreude durchströmte ihre Adern. Gierig las sie weiter:

»Wer aber nicht bereit ist, alles zu erleiden und sich schrankenlos hinzugeben dem Willen des Geliebten, der weiß nicht, was es heißt, zu lieben … Lasset mein Herz sich erheben in der Liebe, damit ich fühle bis in seinen tiefsten Grund wie süß es ist, zu lieben und in der Liebe zu vergehen …«

Mein Gott, das war es! Sie liebte ihn! Sie liebte ihn! Ein Glücksgefühl ohne Grenzen erfaßte sie. Nun war alles klar, Zweifel, Bangen, Qualen … Sie liebte ihn!

Das kleine Buch glitt ihr aus den Händen. Hastig fing sie es auf und ihr Blick fiel auf eine aufgeschlagene Seite:

»Und also ist das Ende von allem der Tod und der Mensch geht dahin wie ein Schatten …«

Kalter Schauer ergriff sie. Das Nichts … Nein, schlimmer. Die Schreckgebilde der Höllenstrafen nach dem Tode malten sich mit grauenhafter Deutlichkeit in ihrer gläubigen Phantasie. Erbarmungslos und ohne Ende für die arme Sünderin, die liebte, wo sie nicht lieben durfte … Und doch, wem tat sie damit ein Unrecht? Eine andere Stimme, die Stimme des Lebens, der Natur, aller ungesättigten Instinkte ihrer verblühenden, geopferten Jugend riefen sie zu ihm, den sie liebte, auf den sie nicht verzichten konnte. Taumelnd erhob sie sich und schritt gegen die Türe, die sich plötzlich lautlos öffnete. Charlie stand vor ihr.

Abwehrend hob sie die Arme.

»Ich muß mit dir reden«, stammelte Charlie.

Er hatte mit sich gekämpft. Die Vorstellung, daß Gabriele nicht das kalte, unnahbare Ideal war, für das er sie gehalten hatte, brachte ihn zur Raserei. Auch sie hatte geliebt und gelitten! Gewiß tat dies ihrer Verehrungswürdigkeit keinen Abbruch … Aber ihr Bild veränderte sich, kam seinem Sehnen näher … Er mußte das Rätsel lösen, ihr Geheimnis erfahren, er mußte sprechen! Doch ihr Anblick, die ungewohnte Intimität ihres Schlafzimmers brachte ihn völlig in Verwirrung.

»Gabriele,« stieß er hervor »ich liebe dich ..! Du mußt es erfahren: Ich bin sehr unglücklich ..!«

Sie starrte ihn an als sei er verrückt geworden. Seine Worte trieben ihr heiße Röte ins Gesicht. Sie wollte nur den letzten Satz gehört haben. Er war unglücklich … Von Rührung überwältigt streckte sie ihm beide Hände entgegen.

»Oh, Charlie!« seufzte sie zagend.

Der merkwürdige Zwiespalt ihres Wesens bewirkte, daß das plötzliche Erscheinen des Mannes, den sie im Innersten herbeisehnte, vor allem ihre Prinzipien, ihre Vorurteile, ihren Stolz verletzte. Es schien ihr, daß seine bloße Anwesenheit zu dieser Stunde und sein Geständnis schon ein nicht mehr gut zu machendes Vergehen sei.

Charlie stand, selbst bestürzt über seine Verwegenheit, da, wehrte Floß ab, der ihn begrüßend umsprang, und murmelte hilflos und leise:

»Gabriele, wenn du wüßtest ..!«

»Geh, geh! Du mußt gehen …« bat sie ängstlich und besorgt.

Aber er war entschlossen, diese Minute nicht zu versäumen. Obwohl er sich seiner Gedanken schämte, empfand er es als Ungerechtigkeit gegen seine Person, daß sie vielleicht einen anderen geliebt hatte … Und er hatte sie für unnahbar gehalten, er hatte nicht gewagt, die Hand auszustrecken …! Hätte nicht er der Glückliche sein können? Er sträubte sich gegen den Zauber, der von ihr ausging, aber er sah nur ihre klagenden Augen, ihren süßen Mund, ihre königliche Gestalt. Sie war für ihn das Glück und die Schönheit der Welt. Mit sanfter Gewalt hatte er sie an den großen Fauteuil geleitet. Nun ließ er sich zu ihren Füßen auf einem Schemel nieder und gestand ihr, zärtlich und stürmisch, wie seine Liebe zu ihr entstanden, wie sie von Jahr zu Jahr, von Stunde zu Stunde gewachsen war.

»Alles, was ich bin,« rief er, »danke ich dir! Du bist mein Schutzengel gewesen, Gabriele, mein Gewissen! Kein Tag vergeht, an dem ich mir nicht vor deinem Bilde in meinem Zimmer sage, daß keine andere Frau wert ist, dir die Schuhriemen zu lösen … Ich liebe dich, ich liebe dich!«

Beglückt und entsetzt versuchte sie, ihm ihre Hände zu entziehen.

»Sprich nicht weiter! Um Gotteswillen, laß mich ..!« Ihr Flehen, ihre Schwäche berauschte ihn. Er demütigte sich, klagte sich an, gestand seine Eifersucht, zu der er kein Recht hatte, warf sich alle seine niedrigen Gedanken vor und verstummte schließlich vor ihrem traurigen Blick.

Da er alles wissen wolle, solle er es wissen. Sie habe keine Geheimnisse … Ja, Ligneul habe sie sehr geliebt. Und sie habe sich vergeblich bemüht, ihm durch ihre mitfühlende Freundschaft Trost zu bringen … Erhobenen Hauptes gewährte sie Charlie Einblick in die schmerzensreiche Vergangenheit, auf die sie voll Bedauern, aber ohne etwas bereuen zu müssen, zurücksah.

Sie verzieh Charlie, daß er ihr schon jetzt Leid verursachte. Aber sie fühlte sich nicht verletzt, denn da er sie liebte, da sie ihn liebte, schien es ihr, daß er fast das Recht habe, die verborgensten Wunden ihres Herzens zu kennen.

Versöhnt, dankbar und glücklich bat er sie um Vergebung. Seine Eifersucht verlor ihre Bitterkeit. All das lag ja jetzt so ferne. Die Vergangenheit war versunken. Für sie beide gab es in diesem Moment nur die Gegenwart.

Das Glück, die Gewißheit, sich zu lieben, blendete sie. Sie sahen sich an, nannten sich beim Namen und fühlten nichts anderes. Langsam neigte er sich zu ihr nieder. Sie empfand: ich falle … aber sie hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Zärtlich zog sie seinen Kopf an sich, und er küßte sie, innig und feierlich, auf die geschlossenen Augenlider.

Floß, der sich, wie ein Hüter ihrer Versunkenheit, quer vor die Türe gelegt hatte, sprang plötzlich auf und meldete durch seine Unruhe, daß sich jemand auf dem Korridor nähere.

Schritte. Ein Geräusch. Vorsichtiges, dann energischeres Klopfen.

»Wer ist da?« hauchte Gabriele, die sich aus Charlies Armen freigemacht hatte, mit zitternder Stimme.

»Ein dringendes Telegramm!«

Es war Jean, der alte Kammerdiener.

Gräfin Favié bedeutete Charlie mit einem Blick, sich hinter der spanischen Wand zu verbergen, und nahm durch den Spalt der geöffneten Türe die Depesche aus der Hand des Dieners.

Sie las:

»Ankomme morgen 1O Uhr mit Josette. Zwischen mir und meinem Mann alles zu Ende. Entschlossen Scheidung einzuleiten. Francine.«

Wortlos reichte sie Charlie das schicksalbedeutende Papier. Sie hatte die Katastrophe vorhergefühlt. Er sah, daß seine Trostesworte keinen Eindruck auf sie machten und zog sich in sein Zimmer zurück.

Gleich darauf klopfte es wieder. Frau Lurat, die durch das Läuten des Telegraphenboten geweckt worden war, kam, sich zu erkundigen, ob irgend ein Unglück geschehen sei.

Charlie wartete, bis sie sich wieder entfernt hatte. Dann drückte er vorsichtig die Klinke zu Gabrieles Toilettezimmer nieder.

Aber der Riegel war vorgeschoben.


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