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XIII.

In fieberhafter Erregung, aber äußerlich vollkommen beherrscht, stand Francine vor dem Präsidenten. Er ließ sie im vollen Lichte Platz nehmen und begann mit liebenswürdigem Ernst:

»Nun, gnädige Frau, haben Sie es sich überlegt? Beharren Sie noch immer darauf, daß jede Wiederannäherung unmöglich ist?«

»Unmöglich!«

»Eine Verzeihung würde über Ihre Kräfte gehen?«

»Ich verzeihe meinem Gatten alles, was er wünscht; aber ich kann, ich will nicht mehr mit ihm leben.«

»Diese Entscheidung ist unwiderruflich?«

»Unwiderruflich!«

Die kurzen, abgerissenen und präzisen Antworten behagten dem Präsidenten nicht. Francine begriff sehr wohl, daß es gefährlich war, ihm vielleicht zu mißfallen; aber sie hatte ihm bei der ersten Vorladung schon alles so genau und eindringlich auseinandergesetzt, ihren Standpunkt, ihren Schmerz. Sie konnte doch nicht alles wiederholen! Sie fühlte instinktiv, daß sie ihm nicht unsympathisch war, aber sie wünschte Gerechtigkeit, kein Mitleid, kein zweideutiges Wohlwollen. Ihre Miene nahm einen verschlossenen und ablehnenden Ausdruck an.

Er verstand, und sein Ton wurde kalt und sachlich.

»Ich muß Ihnen sagen, daß mir Herr Le Hagre einen Besuch abgestattet hat. Ich konnte ihm diese Unterredung um so weniger abschlagen, als er sich nicht so sehr an den Richter als an den Familienvater wandte, und mich bat, meinen Einfluß dahin geltend zu machen, Ihre Gefühle zu erweichen. Er machte auf mich einen verzweifelten Eindruck und scheint die vorliegenden Mißverständnisse aufrichtig zu bedauern. Er versicherte seine Liebe zu Ihnen, gnädige Frau, in Ausdrücken, die überzeugend klangen.«

»Nein!«

»Nein?« wiederholte der Präsident erstaunt und dachte: Ein wenig trocken, diese junge Dame …!

»Er kann nicht aufrichtig sein, er lügt!«

»Hm …« machte Trassier. »Ihr Gatte nimmt an, daß Sie unter dem Drucke gewisser Einflüsse stehen, die gewiß legitim, gewiß entschuldbar sind; das Herz einer Mutter …«

»Pardon,« wandte Francine ein, »meine Mutter ist unbedingt gegen die Scheidung.«

»So, so …? Nun, es wäre immerhin nicht unbegreiflich, wenn Ihre Frau Mutter Ihren Standpunkt teilte …«

Das immerwährende Widersprechen begann ihn zu ärgern; die hübsche Frau Le Hagre war wirklich nicht leicht zu behandeln! Der Senator Morot hatte nicht so unrecht gehabt, als er ihm gesprächsweise erzählt hatte, daß die Gattin seines armen Neffen Fernand Le Hagre eine nichtgezähmte Widerspenstige sei …

Er schlug andere Töne an.

»Die Aussicht auf langwierige und peinliche Verhandlungen schreckt Sie nicht ab?«

»Ihr Gerechtigkeitsgefühl, Herr Präsident, wird sie abzukürzen verstehen.«

Ein schiefes Lächeln verzog seine Lippen: seine Eitelkeit war und blieb verletzt. Die leichte Voreingenommenheit, die ihm beigebracht worden war, begann Gestalt anzunehmen. Gewiß war er entschlossen, den Fall gründlich zu prüfen und unparteiisch zu entscheiden, aber sein Urteil war schon durch gewisse kaum fühlbare Imponderabilien beeinflußt, verstärkte sich zum Vorurteil, so daß er die Sache nicht mehr objektiv betrachten konnte.

Seine Stimme klang ernst und neutral.

»Ich habe also nur mehr Ihren Herrn Gemahl vorzurufen.«

Und zu Le Hagre, der eintrat, gewandt, fügte er hinzu:

»Ich fürchte, daß Ihre Bitten ebenso ergebnislos bleiben werden, wie die meinigen. Die gnädige Frau will nichts hören.«

»Francine!« rief Le Hagre dramatisch aus, »soll ich mich dir zu Füßen werfen? Kannst du mich wirklich so hassen? Ich schwöre dir, daß ich unschuldig bin! Aber du weißt es ja so gut wie ich! Willst du mich zugrunde richten, du, die ich über alles liebe? Und wie glücklich könnten wir mit unserer geliebten Josette leben!«

Er näherte sich ihr, streckte die Hände aus und gab seinem Gesicht einen überzeugten Ausdruck. Sie drückte sich voll Widerwillen in die Ecke ihres Fauteuils.

»Sie sind sehr streng, gnädige Frau«, sagte der Präsident vorwurfsvoll.

Er dachte: Die ganze Geschichte ist mir völlig egal, aber dieser Mann hat bei ihr gewiß kein bequemes Leben.

Und mürrisch erklärte er:

»Ich muß also Frau Le Hagre ermächtigen, den Scheidungsprozeß einzuleiten und Sie vor Gericht zu zitieren.«

»Oh, noch nicht«, flehte Le Hagre, dem alle Finessen des Verfahrens geläufig waren. »Sie können eine letzte Frist gewähren … Vielleicht gelingt es mir doch noch, ihr Herz zu rühren. Ich bitte Sie inständigst, sprechen Sie die Vertagung aus!«

»In der Tat,« sagte Trassier, von dem Tone Le Hagres angenehm berührt, »ich habe das Recht, die Einbringung der Klage auf zwanzig Tage zu verschieben. Bis dahin bleibt Ihrer Frau Zeit, nachzudenken.«

Und wie zweifelnd fügte er hinzu:

»Aber versprechen Sie sich davon einen Erfolg?«

»Vielen Dank, vielen Dank, Herr Präsident!« stammelte Le Hagre.

»Nun zu den einstweiligen Verfügungen: die Rückstellung der der Gesuchstellerin gehörigen Effekten versteht sich von selbst …«

In Wahrheit dachte Le Hagre nicht daran, Francine ihr Eigentum zukommen zu lassen. Auch hatte er es verstanden, die Dienstboten als Zeugen auf seine Seite zu bringen.

Der Präsident fuhr fort:

»Bezüglich der vermögensrechtlichen Auseinandersetzung besteht Einigkeit? Gnädige Frau, Sie begehren eine Alimentation?«

Ein beschämender Handel begann. Francine, die den Geiz ihres Mannes kannte, hatte als Minimum eine Rente von zwölftausend Francs angenommen. Le Hagre protestierte verzweifelt, behauptete, daß sein Vermögen immobilisiert sei, übertrieb seine materiellen Verpflichtungen und wagte es schließlich, ihr eine Monatspension von fünfhundert Francs anzubieten.

Trassier schüttelte den Kopf und machte einen Vermittlungsvorschlag auf achthundert Francs monatlich. Francine war mit allem einverstanden.

»Inbegriffen den Unterhalt meiner Tochter!« rief Le Hagre rasch.

»Richtig,« erinnerte sich der Präsident, »Sie haben ja ein Töchterchen … Besteht Einigkeit über den Verbleib des Kindes?«

Sowohl Le Hagre wie Francine verlangten das Kind.

»Ich lasse an das Recht meiner väterlichen Gewalt nicht rühren!« ereiferte sich Le Hagre. »Solange mein angeblich ungehöriges Verhalten nicht bewiesen ist, gelte ich als unschuldig und behalte meine Vaterrechte!«

»Das Kind gehört mir!« entgegnete Francine. »Nur ich kann es betreuen! Es ist sechs Jahre alt, bedarf der Überwachung, der Pflege, der Zärtlichkeit, einer weiblichen Hand.«

»Meine Mutter kann sich Josettes annehmen«, bemerkte Le Hagre.

»Das werde ich niemals dulden! Niemals!« Sie war aufgesprungen, um ihre Mutterrechte zu verteidigen. »Nur ich habe für sie gelitten! Habe an ihrem Krankenlager gewacht! Für dich war sie nie etwas anderes als ein Spielzeug. Ich will nicht, daß es bei dir bleibt, daß deine Maitressen es liebkosen …«

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau, beruhigen Sie sich!« rief Trassier laut und energisch.

Diese Wendung war ihm unerwünscht Der Präsident liebte es, wenn sich alles in Ruhe und Ordnung abspielte. Trotzdem war er ein wenig gerührt, denn er dachte an Melie, seine kleine Enkelin, die im gleichen Alter stand und die er zärtlich liebte. Der Gedanke, daß sie in einem moralischen bürgerlichen Milieu aufwuchs, von vernünftigen Eltern erzogen, beruhigte ihn und brachte sein Mitgefühl zum Schweigen. Trotzdem neigte er zu der Ansicht, daß die Pflege des Kindes der Mutter anvertraut werden solle.

Le Hagre schlug vor, das Kind an einem neutralen Orte, in einem Kloster unterzubringen und beiden Eltern das Recht des Besuches zuzugestehen.

»Das ist deine väterliche Liebe!« schrie Francine außer sich. »Du würdest unser Kind, um es mir zu entziehen, wie ein Waisenkind fremden Leuten ausliefern …! Es ist nicht möglich, Herr Präsident, einer unbescholtenen Mutter ihr Kind wegzunehmen, um diesem Menschen recht zu geben …«

»Keine Beleidigungen, Madame!« brummte Trassier. »Ich verfüge, daß das Kind – vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichtshofes im Laufe des Verfahrens – einstweilen in Ihrer Obhut verbleibe! Sind Sie einverstanden,« wandte er sich an Le Hagre, »daß Ihre Tochter jeden Donnerstag und Sonntag von eins bis vier zu Ihnen gebracht wird?«

»Ich muß wohl, Herr Präsident«, erklärte Le Hagre, der begriff, daß ihm Widerspruch nicht helfen würde.

»Nun, dann schließen wir die Tagsatzung«, sagte der Präsident, um die Sache zu beendigen. »Ich bestimme zur Einbringung der Klage eine Frist von zwanzig Tagen. Überlegen Sie sich die Sache, gnädige Frau, denken Sie nach … Alles das ist traurig, recht traurig …«

In absoluter innerer Teilnahmslosigkeit begleitete er die Ehegatten an die Türe. Die beiderseitigen Anwälte unterbrachen ihr animiertes Gespräch und stürzten sich auf ihre Klienten, um sie mit dem Eifer von besorgten Kinderfrauen zu trennen. Le Hagre entfernte sich mit seinem Advokaten als erster, eilig und ohne Gruß. Voll Trauer und Bitterkeit schritt Francine hinter dem einstigen Lebensgefährten einher, der sie, wie sie hoffte, zum letztenmale gequält hatte.

Leer und ausgestorben lagen die Wandelgänge des Justizpalais in der Mittagsstille.

Als Herbelot von der Vertagung erfuhr und festgestellt hatte, daß Trassier kein Wort über Lieschen und die gefundenen Briefe gesprochen hatte, zweifelte er nicht mehr an der Voreingenommenheit des Präsidenten. Mit Sépale und Tartre an der Seite würde Le Hagre sich rücksichtslos verteidigen … Er machte ein unzufriedenes Gesicht und preßte die Lippen nachdenklich zusammen.


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