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XXII.

An den folgenden Tagen wurden die endlosen Einvernahmen fortgesetzt. Francine suchte ihre Nerven zu beherrschen und nahm an allen Verhandlungen teil. Sie bemerkte, wie jeder Zeuge unangenehm berührt zusammenfuhr, wenn nach der Eidesleistung die kurze Aufforderung an ihn gerichtet wurde: »Erzählen Sie, was Sie wissen!« Sie sah die sarkastischen Augen Marchals, hörte die rauhe Stimme der alten Nanette und blickte in das harte, unbewegte Gesicht ihrer Schwiegermutter, die, willensstark und überlegt, jedes Wort zu wägen schien, bevor sie es aussprach.

Francine hatte Aufwallungen von Dankbarkeit für Herbelot, der Frau Le Hagre mehrmals durch seine Einwürfe in Verlegenheit brachte, und sie nahm es ihm übel, daß ihn manche Zeugen absolut nicht zu interessieren schienen. Es fielen ihr Antworten und Zwischenbemerkungen ein, die sie nicht auszusprechen wagte, weil der Anwalt ihr Ruhe und schweigendes Verhalten anempfohlen hatte. Nur als Le Hagre sich erkühnte, zu behaupten, daß sie sich in aller Form mit ihm versöhnt, daß er sie in seine Arme gezogen und geküßt hätte, schrie sie entrüstet auf:

»Er lügt! Er lügt!«

Fomette hieß Le Hagre schweigen, denn nur die Anwälte dürften ungefragt das Wort ergreifen. Francine war nahe an einem Nervenanfall. All das schien ihr so sinnlos. Warum mußte ein derartiger Apparat in Bewegung gesetzt werden, um ihr die Freiheit zu geben! Alle diese Erklärungen, Behauptungen, alle diese Lügen und falschen Aussagen! Ihre Zukunft hing nicht von ihr selbst ab, nicht von der Gerechtigkeit ihrer Sache, sondern von dem Eindruck, den dieser bereits durch die Meinung des Vorsitzenden beeinflußte Richter empfing, dieser Richter, dem die ganze Sache gleichgültig war, den die Hitze enervierte, der an Kongestionen litt und nichts anderes dachte, als wann die Verhandlung endlich aus sein würde.

Während Gräfin Favié, krank durch all die Erschütterungen dieser Tage, das Bett hütete und Charlie nach Verdun zurückgekehrt war, mußte Francine noch die hinterhältigen, verlogenen Zeugenaussagen der bestochenen Dienstboten über sich ergehen lassen, die von Lieschen nichts Schlechtes glaubten und nichts anderes zu sagen wußten, als daß Le Hagre immer ein guter Vater, ein tadelloser Gatte gewesen war.

Auf die Frage Herbelots an ihre Schwiegermutter, ob sie von dem Ehebruch ihres Sohnes gewußt habe, erwiderte diese blaß und entschlossen:

»Ich habe nur vom Hörensagen davon gewußt; habe aber niemals einen tatsächlichen Beweis erhalten …«

Diese honette frommgläubige Person scheute sich also nicht, zu lügen, nur weil sie die Ehescheidung an und für sich vom religiösen Standpunkte verurteilte.

Die Entscheidung brachte der Zeugenbeweis über die von Le Hagre behauptete Versöhnung. Die Mutter Le Hagres erklärte:

»Als ich am Morgen in das Zimmer trat, stand mein Sohn hinter seiner Frau, den Arm um ihre Taille geschlungen, in einer Stellung, die nur Eheleute einnehmen können, die sich eben versöhnt haben …«

Schwester Ambrosia, eine robuste Klosterfrau mit hartem Blick und eckigem Gesichte, machte die gleiche Aussage.

Was war das? Ein Wunder? Ein Betrug? Man konnte doch nicht annehmen, daß beide Zeuginnen bewußt logen … Francine sah in das höhnisch lächelnde Gesicht ihres Gatten und plötzlich wurde es ihr klar, daß er in dem Moment, als seine Mutter und die Pflegerin eintraten, von hinten den Arm scheinbar um sie gelegt haben mußte, in der Absicht, die Frauen zu täuschen.

Endlich, zur sichtlichen Erleichterung des Richters, des Schriftführers, der Anwälte und der Parteien, war die Verhandlung zu Ende. Die letzten Formeln wurden feierlich ausgesprochen. Die Protokolle wurden unterschrieben. Le Hagre hatte seinen Namen überall neben den seiner Gattin zu setzen. Er entfernte sich nach der einen Seite, Francine nach der anderen; aber die unsichtbare Kette zwischen ihnen war nicht gesprengt worden.

Die Gänge des Justizpalastes waren leer und Francine hörte den Widerhall ihrer Schritte wie an dem Abend nach der ersten Versöhnungstagsatzung. Das schreckliche Mahlwerk hatte sie fast ganz zwischen seinen Rädern. Würde es sie zermalmen? Würde sie, zwar zerschunden und gebrochen, seinem Gefüge entrinnen? Kein Echo, kein Orakel antwortete ihr auf diese stumme Frage.

Am Ende ihrer Kräfte angelangt, stieg Francine in ihren Wagen. Und als die Pferde anzogen, gab sie sich zum ersten Male hoffnungsloser Verzweiflung hin. Sie preßte die geballten Fäuste vor den Mund und krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Niemals hatte sie so herzzerbrechend geweint, unglücklich wie die verlassenste aller Frauen …

Zu Hause angekommen stieg sie mit wankenden Knien die Stiege hinauf, begab sich in ihr Zimmer und ließ sich von Nanette die Haare lösen. Die alte Dienerin bediente sie in schweigendem Mitleid und schien selbst durch das Unglück ihrer Herrin gebrochen.

»Wo ist Josette?« fragte die junge Frau mit matter Stimme.

»Sie ist unten im Salon mit ihrer Großmama. Es ist ein Herr zu Besuch gekommen, den gnädige Frau sehr verändert finden werden, der sich aber über seine Rückkehr zu freuen scheint … Er ist seit zwei Stunden bei der Frau Gräfin …«

Francines Herz begann zu schlagen … Nein, das war undenkbar … Warum sollte gerade er es sein? Und doch, sie fühlte, sie wußte, daß er es war, daß er es sein mußte. Sie eilte in den Salon.

Ein Mann mit ergrauten Haaren und gebräuntem Gesichte, mit schlankem, muskulösem Körper trat ihr entgegen. Seine Augen blickten sie gerührt an, sein teilnehmendes, männliches Lächeln sagte ihr, daß er alles wußte.

»Éparvié …!«

Und verzweifelt, die Kehle von Hilflosigkeit zu geschnürt, stieß sie hervor:

»Ach, mein Freund … mein Freund …!«

Ergriffen sprach er:

»Francine …! So muß ich Sie wiederfinden?«


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