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XXIII.

Éparvié stand, benommen von den unerwarteten Erschütterungen, wieder auf der Straße. Seine Gedanken jagten sich wie im Fieber. Das Wiedersehen mit Francine hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Er war am Vorabend angekommen und hatte von einem Freunde, den er zufällig begegnete, erfahren, daß die Frau, die er geliebt und zu seiner Gattin hatte machen wollen, im Begriffe stand, sich scheiden zu lassen. Die Nachricht hatte ihn seltsam berührt. Eine unsichtbare Wunde tat sich wieder auf.

Er hatte diese Liebe längst erloschen geglaubt, seit Jahren zwang er sich, nicht mehr daran zu denken. Schließlich hatte ein Mann in seinem Alter mehr als eine verlorene Illusion begraben … Trotzdem hatte ihn die Erinnerung an dieses ungewöhnliche junge Mädchen niemals verlassen. Während seiner langen, mühsamen und gefährlichen Forschungsreise, der Durchquerung Zentralafrikas von einem Ozean zum andern, hatte ihn von Zeit zu Zeit die Sehnsucht nach dem alten Europa ergriffen.

Es vergingen Monate, in denen er an Francine so wenig dachte, als hätte sie nie existiert. Dann wieder tauchte die Erinnerung an sie plötzlich auf, wie ein Phantom aus einer fernen anderen Welt. Er selbst, der mit nackten Armen und nackten Beinen, einen Tropenhelm auf dem Kopf, sich einen Weg durch den unerforschten afrikanischen Busch bahnte, war drüben ein anderer Mensch als in der Heimat.

Für die Reisenden, die ihr Zelt unter den Sternen des freien Himmels aufschlugen, gab es kaum eine Zeitrechnung. Sie zählten weder die Tage, noch die Wochen. Nur wenn sie nach monatelanger Pause Post aus der Heimat erhielten, hatten sie einen Festtag. Langsam, Zeile für Zeile, wurden die Briefe gelesen; es gab also noch andere Kontinente, andere Länder, es gab Frankreich und Paris.

Wenn sie Zeitungen und Briefe gelesen und wieder gelesen und sorgfältig in ihre Blechkassetten verpackt hatten, kamen für Éparvié immer ein paar traurige Tage: er dachte an Francine. War sie glücklich? Gewiß erinnerte sie sich kaum mehr seiner … Er sah mit merkwürdiger Deutlichkeit das schmale, fast kindliche Gesicht des jungen Mädchens vor sich und konnte sich nicht vorstellen, daß Francine nun Frau eines andern, vielleicht Mutter war. Gerade ihr jugendlicher Charme hatte ihn gefesselt … Sie war so ganz anders als die andern gewesen. Er wollte nicht daran denken, daß sich ihre eigenwillige kleine Persönlichkeit nach den Anforderungen der Welt, der Ehe umgeformt haben könnte.

Und weiter ging das Abenteurerleben. Ein Tag folgte dem andern, eine Gefahr der andern. Am nächtlichen Lagerfeuer saßen die schwarzen Träger, sangen ihre melancholischen Lieder und schlugen dazu die Hände eintönig im Takt zusammen. Bis eines Tages, in der Gegend des Äquators, ein tückisches Fieber seinen einzigen Freund dahinraffte. Als er ihn begraben hatte, konnte er die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Unter unsäglichen Schwierigkeiten, durch das Dunkel endloser Urwälder, die vor ihm keines Menschen Fuß betreten hatte, machte er sich auf den Rückweg. Er hatte der Geographischen Gesellschaft das Ergebnis seiner Entdeckungen im Quellengebiete des Kongo, seiner Forschungen in den Regionen der Anthropophagen vorzulegen. Von Libreville nach Teneriffa, von Teneriffa nach Havre führte ihn das Schiff. Ohne Familie, fast vergessen von seinen Freunden, gealtert, aber geistig und körperlich rüstiger als viele seiner Jugendgenossen, betrat er den Boden Frankreichs. Und eine der ersten Nachrichten, die ihn erreichten, betraf das Schicksal Francines.

Unversehens und unangesagt war er zur Gräfin Favié geeilt und seine treue Seele, seine wiedererwachte Zärtlichkeit nahm sofort innigen Anteil an den Sorgen, in die er die beiden Frauen versunken fand.

Nein, sagte er sich, ich darf mich nicht kindisch benehmen. Aber er konnte sich der Gefühle nicht erwehren, die nicht erstorben waren, sondern nur geschlummert hatten und nun mit neuer Gewalt ihn ihm auflebten. Gräfin Faviés Erzählung hatte ihn tief bewegt, Francines Erscheinen erfüllte ihn mit ungewissen Hoffnungen, die er sofort zu unterdrücken suchte.

Francine war schön, noch schöner als früher, feuriger, selbstbewußter. Ihr Händedruck war voll Wärme und Energie und er glaubte den Schlag ihres Herzens zu fühlen … Arme Frau! Das Leben war dumm und ungerecht! Wie traurig war es, sie unglücklich wiederzufinden, und doch nicht frei! Nein, nur keine Kindereien, nur keine Liebe! In seinem Alter mußte man über diesen Unsinn hinaus sein.

Der Optimismus seiner Lebensauffassung gewann in ihm die Oberhand: das einzige wahrhaft Beklagenswerte schien ihm der Umstand, daß Francine litt. Alles andere mußte sich ordnen lassen; er hatte sich in böseren Situationen befunden! Die Scheidung mußte ihr natürlich bewilligt werden und sie würde sich dann schon eine neue Existenz schaffen. Er hatte an sich selbst zu denken, seine Arbeiten zu veröffentlichen, dem Ministerium Bericht zu erstatten. Auch er mußte sich sein Leben erst wieder einteilen … Vor allem aber mußte er etwas essen; es war halb neun Uhr abends.

Im Restaurant bereitete es ihm ein ungewohntes Vergnügen, eilige Kellner an weißgedeckten Tischen beschäftigt zu sehen und Speisen zu bestellen, deren Geschmack er längst aus der Erinnerung verloren hatte. Ein guter alter Bordeaux erwärmte seine Seele und er begann, sich mit den Einrichtungen der zivilisierten Welt abzufinden.

Nach dem Speisen faßte ihn die Lust, in den Strom der Menschen zu tauchen, die sich die hellbeleuchteten Boulevards entlang drängten. Er dürstete danach, den herben und etwas schwülen Duft der Pariser Luft einzuatmen, schöne Frauen zu sehen und diese Juninacht zu genießen. An allen Ecken flammten Lichtreklamen von den Fassaden der Häuser. Die ganze Stadt schien in einem Festesrausch.

Vor einer Annoncensäule blieb er stehen und studierte die Theaterzettel. Überall gab es neue Vaudevilles, Revuen und Melodramen. Alle Boulevards waren voll von Konzertcafés, an allen Türen wurden phantastische Balletts, raffinierte Tänze und nackte Frauen versprochen. Hitze und Lärm widerten ihn schon vor dem Eingang an.

Geschminkte Mädchen strichen um die Marmortische vor den Brasserien. Éparvié fühlte, wie seine gehobene Stimmung sich verflüchtigte. Unter Lärm, Licht und Puder lauerte die ewige Enttäuschung.

Er rief einen Wagen an und ließ sich in den Bois führen. Die jugendliche Fähigkeit, sich flüchtigen Illusionen hinzugeben, fehlte ihm. Er brauchte ein tieferes, dauerhafteres Gefühl als das Abenteuer einer Nacht oder eine Laune für ein paar Wochen. Immer deutlicher erkannte er, daß er sich dem Zauber von Francines gramerfüllten Augen, dem hilfesuchenden Druck ihrer Hand nicht entziehen konnte. Der Gedanke, daß sie unglücklich war, schien ihm unerträglich. Wenn es nur möglich wäre, das Unrecht, das ihr das Schicksal angetan hatte, irgendwie wieder gut zu machen, sie alles Leid vergessen zu lassen!

Langsam rollte der Wagen durch das Schweigen der Allee. In süßer Schwermut ruhte der Bois. An den Ufern bläulich schimmernder Gewässer sah man wie lichte Flecken hin und wieder einen schlummernden Schwan. Der Schatten eines Liebespaares bewegte sich zwischen den Bäumen … Éparvié fühlte, wie sein Herz vor Zärtlichkeit überfloß; plötzlich war es ihm klar geworden: er liebte sie, er liebte sie noch immer …

Francine zu erobern, zu erwerben, schien ihm ein seiner würdiges Ziel, das alle Leiden und Qualen des Lebens aufwog …


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