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I.

Charlie de Bréars war erwacht. Nicht in seinem einfachen Junggesellenheim in dem altersgrauen Hause zu Versailles, sondern im Schlosse Bouvières.

Nach dem allzu üppigen Champagnersouper hatte er in dem fürsorglich überheizten Zimmer, in einem breiten weichen Bett, schlecht geschlafen. Gewiß, seine guten Vettern verstanden es, sich das Leben bequem zu machen!

Er drehte das Licht auf und musterte das Zimmer: Ein Kamin, in dem man ganze Bäume verheizen konnte, tiefe Fauteuils, schwere Teppiche und ein Toiletteraum mit luxuriösem Bad und allerlei Duschen. Der ganze übertriebene Komfort der Einrichtung widerstrebte seinem einfachen, fast puritanischen Geschmack. Denn, obwohl Charlie de Bréars in der großen Welt lebte und zu ihr gehörte, zeichnete ihn ein Ernst der Lebensauffassung aus, der seiner Jugend kaum entsprach. Er führte ein nüchternes, reines, tätiges Leben, arbeitete an seiner Bildung und ging in seinem Beruf als Offizier auf. Seine Kameraden lächelten oft über den Dragonerleutnant, der die Tugend predigte, aber keiner hätte eine verletzende Bemerkung gewagt, denn sie kannten seine Empfindlichkeit.

Während er sich ankleidete, dachte er an andere Morgenstunden, wenn sein Pferd im Hofe mit den Hufen scharrte. Gestiefelt und in den Waffenrock geschnürt, hinauf in den Sattel! Und hinaus in die menschenleeren, dämmerigen Straßen! Der kalte Wind blies die verblassenden Sterne aus und weitete die Lungen in der Brust … Das war das Leben! Aber hier mußte man ja ersticken! Die armen Bouvières, die so nett gegen ihn waren und die seine Mutter so geliebt hatten, taten ihm förmlich leid. Von konventionellen Vorstellungen und Vorurteilen beengt, mußten sie in ihrem erschlaffenden Wohlleben doch stumpf und schläfrig werden. Ohne Sorgen, ohne Leid konnte sich die Seele nicht entwickeln. Gewiß setzten sie alle schon Herzfett an …

Ein Blick in den Spiegel. Seine Figur war schlank, fast mager und seine Hände feingegliedert wie die einer Frau. Ein eigenartiger undefinierbarer Zauber ging von seiner Person aus, der geheimnisvolle Niederschlag einer alten Rasse, die sich auch in seiner Ähnlichkeit mit den Zügen eines seiner Vorfahren offenbarte. Das gleiche schmale, ausdrucksvolle Gesicht, blaß, mit dunklen, feurigen Augen, die in der Erregung schwarz aufleuchteten. Erst wenn man ihn kannte und über sein Äußeres nachgedacht hatte, mußte man zugeben, daß er ein schöner Mensch war.

In diesem Moment dachte er voll Vergnügen an einen Ausflug, den er am Vorabend beschlossen hatte, an die frohe Überraschung, die er jemand – fünfunddreißig Meilen weit vom Schlosse Bouvières – bereiten wollte. Sorgfältig beendete er seine Toilette, polierte sich die Nägel und lächelte in Gedanken an seine Kusine, die Komtesse Gabriele Favié, die einzige Frau der Welt, für die er sich derartige Extravaganzen erlaubte.

Er stieg in den Hof, holte seinen kleinen, weißlackierten englischen Wagen aus der Garage, setzte sich an den Volant und brachte den Motor in Gang. Langsam glitt das Auto zwischen Hecken und gepflegten Rasenplätzen dahin, die im Lichte der Scheinwerfer aufleuchteten und verschwanden. Im Schlosse, dessen Umrisse sich kaum vom dunklen Himmel abhoben, waren alle Fenster geschlossen. Ein Springbrunnen plätscherte. Wie verzaubert lag der Park in geheimnisvoller Stille da. Das kleine Gittertor stand offen, und jenseits der Mauer, am Ende der alten Kastanienallee, begann die Landstraße.

Im Osten rötete sich der Horizont. Ein scharfer Morgenwind erhob sich. Der Volant fühlte sich durch die Handschuhe wie gefroren an. Kalten Luftzug um die Wangen, ganz dem Genusse der Schnelligkeit, dem Reiz der Gefahr hingegeben, atmete er endlich auf! Der Wagen raste durch die Dämmerung und der Lenker, Auge und Ohr gespannt, fühlte jedes Beben der Maschine wie den Puls seines eigenen Körpers mit. Er hatte Lust zu pfeifen, zu singen, zu lachen … Ach, wie würde sich Gabriele freuen und wie freute er sich …!

Komtesse Favié war in den Augen Charlies die Idealgestalt einer Frau, sein weibliches Ideal überhaupt. Keine konnte sich an Klugheit, Güte, Edelmut und Gefühl mit ihr messen. Keine kam ihr an Schönheit gleich. Schon als Kind hatte er sie geliebt. Die Sinne des heranwachsenden Jünglings hatte sie verwirrt. Und jetzt, als Mann, hing er mit einer keuschen, vergötternden, an Eifersucht grenzenden Liebe an ihr, mit einer selbstlosen Verehrung, die sie ihm als nichts anderes erscheinen ließ als die beste Freundin, als eine Schwester. Ja, sie ersetzte ihm, trotz ihrer Jugend, in gewissem Sinne die Mutter, die er früh verloren hatte.

Seine ersten Erinnerungen waren mit Gabriele verknüpft. Das Leben in seinem väterlichen Hause in der Bretagne war nicht heiter gewesen. Sein Vater, ein schweigsamer, alter Oberst, der den kleinen Gutshof, den er bewirtschaftete, sein Schloß nannte, war gestorben, als Charlie zwölf Jahre zählte. Seine Mutter, die das Witwenkleid von diesem Tage an nicht mehr ablegte, erzog ihn gewissenhaft und hielt ihn so streng als möglich fern von den Vergnügungen und Versuchungen der Großstadt. Die einzigen Lichtblicke in diesen Jahren der Zurückgezogenheit und des Studiums waren die alljährlichen Einladungen auf den uralten Stammsitz der Familie Favié, Schloß Aygues-Vives, wo Gabriele als gute Fee des Hauses waltete und den unbemittelten Verwandten in einer Weise den Aufenthalt angenehm machte, der ihren Stolz nicht verletzen konnte.

Erst als Charlie de Bréars die Offiziersschule in Saint-Cyr absolviert hatte, war er durch eine unerwartete Erbschaft reich geworden. Der Besitz eines großen Vermögens brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Er wußte, daß Schmeichelei und Entgegenkommen, das ihm nun von allen Seiten winkte, seinem Gelde galt und nicht seiner Person. Und jetzt war es wieder seine Kusine, die ihn günstig beeinflußte, die mit gütigem Verständnis und feinem Spott seiner beginnenden Menschenverachtung die Spitze nahm und ihn Nachsicht für fremde Anschauungen lehrte, die er nicht teilte.

Der Wagen rollte über eine Brücke, verließ die Ebene und nahm seinen Weg, mühelos steigend, über dunkle Anhöhen. In schlafenden Dörfern bellten Hunde. In der ersten zarten Morgenröte zerfloß die Nacht wie vergehender Dampf. Die Landstraße wurde deutlich sichtbar. Die Wolken schimmerten in allen Farben, von Gelb bis Violett. Ein strahlender Septembermorgen brach an.

Charlies Brust hob sich im Gefühl der Kraft und Bewegung. Wälder und Felder flogen als bunte Flecken an ihm vorbei. Schneller, schneller! Nicht einmal in den Ortschaften verlangsamte er das Tempo. Ein Hase galoppierte aufgeschreckt knapp vor den Rädern vorbei und verschwand im silbergrauen Nebel am Straßenrand.

Plötzlich fuhr ein Feuerstreif über den Horizont, und rot und majestätisch stieg die Sonne empor, das leuchtende Herz des Universums. Ihr Licht lag wie Gold über der Erde, über Bäumen und Stoppelfeldern und glitzerte in tausend Tautropfen an jedem Grashalm. Wohltuend fühlte Charlie ihren Schein im Gesicht, aber bald blendete ihr unwiderstehlicher Glanz seine Augen. In wortloser Anbetung begrüßte er das aufgehende Gestirn, die Schöpferin und Herrin alles Lebens, Keimens und Werdens, ewig und unbesieglich wie die Liebe …

Die Liebe? Warum mußte er an die Liebe denken …?

Sein Herz klopfte, als hätte es alle Kraft der lebenspendenden Strahlen in sich gesogen. Wie berauscht vom jungen Tageslicht ließ er den Motor laufen, der Sonne, dem unbekannten Geschick entgegen.


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