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XX.

Francine hatte ihre Mutter auf die Bahn begleitet und in einem Kupee erster Klasse untergebracht. Nun saß Gabriele müde und verloren, zwischen Entmutigung, Zweifel und Hoffnung schwankend, im Zuge und fuhr zu Charlie. Francine hatte ihr geraten, noch einmal zu telegraphieren und genauere Nachrichten abzuwarten. Sie fürchtete, daß ihre Mutter erschöpft und unausgeschlafen ankommen und dann noch gezwungen sein würde, sich zu verstellen, in ihrem Schmerz die Rolle einer teilnehmenden Verwandten zu spielen. Und wenn sich die Hoffnung auf eine Besserung in Charlies Befinden als trügerisch erwiese, gäbe es eine Katastrophe …

Francine machte sich allein auf den Heimweg und freute sich trotz aller Trauer, daß ihre Mutter, geführt von der widerspruchslosen Logik der Leidenschaft, so viele Hindernisse überwunden und es gewagt hatte, zu handeln, wie es ihrem wahren Gefühl entsprach.

Sie nahm ihr eigenes Gewissen unter die Lupe, versuchte, alle Vorurteile der Erziehung und des Milieus auszuschalten, und sagte sich: Gut, sie liebt Charlie … Was liegt daran? Es ist ihr gutes Recht. Eine Tatsache, eine Schicksalsfügung. Warum sollte sie ihn nicht lieben? Sie wunderte sich selbst, welchen Weg sie seit jenem Tage zurückgelegt hatte, an dem sie Charlies Werbebrief an die Gräfin Favié gelesen und keine Lösung gefunden hatte, die sich mit den durch die Überlieferung geweihten Prinzipien vertragen hätte.

Worte, wie »Mamas Gatte« und »Liebhaber«, die damals einen so fatalen Eindruck auf sie gemacht hatten, brachten sie nicht mehr in Aufruhr und sie erkannte, daß die Nähe, die Gefahr des Todes, alle diese Dinge in das rechte Licht rückte und ihnen die übertriebene Wichtigkeit nahm.

Wenn Charlie stürbe, müßte sich die Frau, die ihn durch ihre Liebe hätte beglücken können, doch die bittersten Vorwürfe machen, weil sie sich ihm in engherziger Korrektheit versagt hatte. Denn war schließlich nicht einer der Hauptbeweggründe jener überstrengen Auffassung der Pflicht die Furcht vor fremden Urteil, der Wunsch, sich nichts zu vergeben, also eine Tugend, in die sich ein starker Einschlag von Egoismus mischte, während es doch in Wahrheit die erste und höchste Ehrenpflicht war, gegen sich selbst aufrichtig zu sein und in seinen Taten den gleichen Mut zu beweisen wie in seinen Gedanken!

Gabriele hatte sich übrigens nicht nur von diesen Bedenken leiten lassen. Auch das in ihrer Gläubigkeit wurzelnde Motiv der Entsagung, der Weltflucht, der Abtötung des Fleisches, spielte bei ihr eine wesentliche Rolle und Francine fragte sich, ob im Herzen ihrer Mutter die Einflüsse der Erziehung und der Religion den Sieg davontragen würden oder ihr natürlicher weiblicher Instinkt. Und trotz ihres Mutes wagte sie es voll Mitleid und Schamgefühl nicht, der Lösung dieses Rätsels näherzutreten.

Mit gerührtem und nachsichtigem Lächeln wiederholte sie wie einst, nur mit einer anderen Betonung, die Worte: »Arme kleine Mama …«

Inzwischen kämpfte Charlies Jugend einen schweren Kampf gegen die Macht seiner Krankheit. In manchen Momenten sog sich seine Brust mit Luft voll wie bei einem Ertrinkenden, der sich mit letzter Kraft an das Leben klammert. Das Licht eines trüben Tages spiegelte sich in seinen Augen. Er atmete den Hauch des Windes ein, der die Blätter der Pappeln erzittern ließ und über die kleinen Wellen des Flusses strich. Fieberträume verwirrten ihn. Allmählich erlosch das Tageslicht, Dunkel umfing ihn; er hatte das Gefühl, jeden Halt zu verlieren, ließ die Hände sinken und leistete der unsichtbaren Strömung, die ihn mitzureißen schien, keinen Widerstand mehr …

Zeitweise war er bei klarem Bewußtsein, starrte mit weitgeöffneten Augen in das unbekannte Zimmer, versuchte, seiner Umgebung zuzulächeln, und wußte, daß er nahe daran war, zu sterben. Und nichts schien ihm einfacher und leichter. Kaltblütig sah er seinem Schicksal entgegen, als Soldat und Christ. Aber bald verdunkelte sich sein Bewußtsein wieder und er fühlte nur das fiebrige Feuer seines erschöpften Körpers. In allen seinen Phantasien kehrte ein Bild immer wieder: Gabriele. Er rief ihren Namen im Delirium, fragte nach ihr, wünschte ihr Kommen und verbot dann wieder, sie zu verständigen. Die einzige große Liebe seines Lebens war ihm in diesen Stunden des Zerfalles nahe und im Sterben würde ihn die Geliebte, anwesend oder als Traumbild, bis an die geheimnisvolle Schwelle des Schattenreiches begleitet haben …

Seit dem Morgen, an dem die Reveille in der Kaserne ertönt hatte, hatte er wechselnde Perioden von Mut und Schwäche durchgemacht. Der strenge Dienst der Provinzgarnison wurde seine Rettung und die genaue Erfüllung seiner Pflichten sein bester Halt. Arbeit war für Charlie die Ablenkung in trostlosen Stunden, sie brachte ihm abends erlösenden Schlaf. Durch Tage und Wochen widmete er sich der Abrichtung und Ausbildung seiner Schwadron oder studierte bis tief in die Nacht bei Lampenschein in seinem Zimmer. Wie oft erschien ihm dabei ein teures Antlitz, sah ihn mit tiefen Augen nachdenklich an und sprach ihm zu … Obwohl es ihn die größte Überwindung kostete, hatte er gehorcht und nicht geschrieben. Und als er einmal nach Paris kam, widerstand er der Sehnsucht, sie zu sehen, strich nur spät in der Nacht um ihr Haus und blickte verlangend nach dem Lichte hinter den verschlossenen Fenstervorhängen.

An manchen Tagen war ihm die Qual unerträglich; seine Jugend empörte sich. In seinen Augen funkelte ein solches Feuer der Leidenschaft, daß alle Frauen es bemerkten. Ein rasender Durst nach Abenteuern und Gefahren erfaßte ihn. In halsbrecherischem Galopp nahm er die gefährlichsten Hindernisse und ermüdete sich bis zur Erschöpfung. Nur nicht denken müssen, sich am Leben berauschen …! Manchmal dachte er daran, Frankreich zu verlassen, einen Posten in den Kolonien anzunehmen; aber es hatte keinen Sinn, Gabriele zu fliehen, die er doch in seinem Herzen überall mitnehmen würde.

An diesem Morgen hatte er in einem unruhigen Halbschlaf, der weder Ruhe noch Erholung brachte, den Traum, als Kind in Aygues-Vives zu sein. Er sah sich durch die Alleen irren und Gabriele suchen, die er nicht fand. Sie war nicht unter den Tannen, nicht bei den Schwänen am Rande des Teiches, nicht unter den Weinlauben und nicht auf den Wegen, die um das Parterre verblühender Rosen führten. Ein dunkles Angstgefühl erfaßte ihn. Überall glaubte er das leichte Rauschen ihres Kleides zu hören. Von den Bäumen lösten sich die Blätter und fielen eines nach dem anderen so sanft zu Boden, daß man es nicht hörte. Der Herbst zog in Purpur und Gold mit lautlosen Schritten durch das Land und das stumme, bald leichte, bald schwere Niedertaumeln der Blätter nahm kein Ende. Und plötzlich an einer Biegung hinter einem Gebüsch sah er Gabriele unbeweglich auf einer Bank sitzen.

Er näherte sich ihr auf den Fußspitzen, um sie zu überraschen, und bemerkte in ihren Haaren das Blatt einer Blutbuche, auf ihren Knien ein fahles Platanenblatt und auf einem ihrer Füße, die in grauen Schuhen steckten, ein Birkenblatt. Er ergriff ihre Hände, sie wandte ihm ohne jedes Erstaunen den Blick zu und sprach: »Es regnet Blätter, Charlie, setz dich zu mir, wir wollen zuhören …« Und von überall fielen die Blätter, wirbelten durch die Luft, berührten flüchtig ihre Wangen und ihre Hände. Geräuschlos und fast unfühlbar wölbten sie sich gewichtlos und still über alle Wege.

Ein Rauschen ging durch die Allee, wurde lauter und lauter, der Wind fuhr in die Blätter, faßte sie und trieb sie in die Höhe. Eine geheimnisvolle Stimme ertönte … Charlie drückte Gabrieles Hände immer fester, erwachte und erkannte, daß er ihre Hände wirklich in den seinen hielt.

Überraschung und Freude waren so heftig, daß er schnell wieder die Augen schloß, aus Angst, den holden Traum zu verscheuchen. Aber es war kein Traum, Gräfin Favié saß leibhaftig an seinem Lager und lächelte ihm aus tränenumflorten Augen zu. Er wollte eine Bewegung machen, aber ihre zarten Finger hielten ihn nieder und verlangten, daß er vernünftig bleibe.

»Nicht sprechen, nicht bewegen, Charlie! Ich bin bei dir, mein liebes Kind …!«

So blieb er, ohne sich zu rühren, ohne die Augen zu heben, liegen und empfand ein Gefühl des Friedens, so süß, daß er zu sterben wünschte. Nur manchmal bewegte er eine Fingerspitze, um sich zu vergewissern, daß die geliebten Hände ihn noch hielten, ihn treu beschützten vor dem bösen Zauber des Hinübergleitens ins Dunkel.

Schon nach kurzer Zeit wußte Gabriele, welche Wohltat ihre Gegenwart ihm war und wie sie ihn beruhigte; Charlies Hände, die geglüht hatten, wurden weniger heiß; das gefährliche Fieber sank …


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