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XV.

In vier langen Monaten war Francines Sache nur wenig weitergekommen. Die Maschine arbeitete langsam und gründlich. Widerwillig blätterte Francine in dem Berg von Dokumenten, der sich in ihren Laden anhäufte. Vorladungen, Anträge und Einsprüche, Ausschreibungen und Vertagungen.

Le Hagre benützte alle Möglichkeiten, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Allerlei feindselige Gerüchte über sie wurden in Umlauf gebracht und kamen ihr zu Ohren. Frau Pustienne ließ ihrer giftigen Zunge freien Lauf … Es hieß, Francine sei von ihrem Gatten im Ehebruch ertappt worden und habe mit einem Freunde das Haus verlassen. Mangels bestimmter Daten nannte man drei verschiedene Namen. Francine lächelte nur, aber Gräfin Favié brach in Tränen aus. Andere erzählten, wie der schlechte Charakter Francines das Leben des armen Fernand vergiftet und zerstört habe, so daß er sie schließlich zu ihrer Mutter heimsenden und die Scheidung beantragen mußte …

Das Ehepaar Lurat war zu den Anhängern Le Hagres übergegangen. Es nahm eine Einladung zum Diner bei ihm an und äußerte sich in abfälliger Weise über Francine, wofür der Senator Morot-Le Hagre durch seine Protektion das Avancement des jungen Lurat förderte. Auch die weniger Übelwollenden waren der Ansicht, daß sich Francine zu strenge, zu wenig entgegenkommend erwies; warum hatte sie nicht Mitleid mit ihrem Gatten? Es bildete sich sogar eine Legende, die berichtete, daß er in seinem Unglück einen Selbstmordversuch unternommen habe.

Und wenn Francine ihren Anwalt verzweifelt fragte, wann denn dieses Martyrium ein Ende nehmen würde, riet er zur Geduld und versicherte, daß die Sache relativ schnell vorwärtsgehe. Tartre sei von einer geradezu freundschaftlichen Gefälligkeit, denn wenn er alle nach dem Gesetze möglichen Schikanen gebrauchen wollte, würde sich das Verfahren mindestens bis in den nächsten Winter hinziehen.

»Ich bitte Sie inständigst, seien Sie doch auch ein wenig entgegenkommend …«

Entgegenkommend sein hieß, kein Wort darüber zu verlieren, wenn Le Hagre mit der Zahlung der Alimente im Rückstand blieb; wenn er zwar darauf bestand, daß Josette pünktlich zur verabredeten Stunde zu ihm geführt wurde, sie aber verspätet und manchmal sogar erst am nächsten Tage der schwer besorgten Mutter zurücksandte.

Wenn Francine sich dagegen auflehnen und bei Gericht beschweren wollte, gab ihr Herbelot zu bedenken:

»Glauben Sie mir, daß es den Vorsitzenden nur verstimmen würde, wenn wir den Prozeß mit Feindseligkeiten komplizieren wollten. Die Behörden lieben derlei nicht …«

Die beiderseitigen Anwälte führten endlose Korrespondenzen über strittige Punkte und die Nadelstiche hörten nicht auf.

Francine schrieb manches dem Einflusse ihrer Schwiegermutter zu. Aber diese hielt sich in Wahrheit abseits, seit sie sich durch Einsichtnahme in die Briefe Lieschens von der Schuld ihres Sohnes überzeugt hatte. Sie nahm ihm die Sünde des Ehebruches sehr übel und trug es ihm nach, daß er sie angelogen hatte, denn sie war dadurch ihrer Schwiegertochter gegenüber in ein schlechtes Licht gekommen: Francine konnte ja wirklich geglaubt haben, daß sie das Unrecht ihres Sohnes gebilligt hätte.

Sie dachte sogar daran, Francine einen aufklärenden Brief zu schreiben, unterließ es aber, aus Furcht, Fernand dadurch zu kompromittieren. Zwei Wochen lang betrat sie seine Wohnung mit keinem Schritt. Endlich verzieh ihm ihr Mutterherz und sie versuchte sogar, eine Entschuldigung für ihn in der Kälte Francines gegen den Gatten zu finden, wodurch die Verantwortlichkeit für seinen Fehler auf ihre Schultern abgewälzt wurde. Keinesfalls durfte die Ehe geschieden werden, denn was Gott gebunden hatte, sollte der Mensch nicht lösen …

Der jungen Frau blieben die Gewissenskonflikte ihrer Schwiegermutter unbekannt. Sie zählte Tage und die Wochen und schwankte zwischen Hoffnung und Verzagen.

Als Advokaten hatte sie einen Cousin des Obersten Morland bestellt, den dieser ihr empfohlen hatte. Torson du Foudray aus Lyon saß, seine mächtige Gestalt in einen schwarzen Gehrock gezwängt, vor ihr, schüttelte den weißen Kopf und seine tiefe Stimme klang vertrauenerweckend. Er war ein Jurist der alten Schule, überzeugter Royalist, und die Reisen nach Paris strengten ihn zweifellos einigermaßen an. Dafür ließ er sich das Honorar eines berühmten Chirurgen aussetzen.

»Bei einem Anwalt wie Torson du Foudray«, erklärte Oberst Morland großzügig, »darf man nicht auf den Preis sehen …«

Als ihn Francine zum ersten Male sah, hatte sie sein altväterisches Gehaben und das Zeremoniell, mit dem er ihr feierlich die Hand küßte, ein wenig enttäuscht. Überdies nahmen es ihr die de Guertes übel, daß sie nicht einen ihrer persönlichen Freunde, den berühmten Salomon Bach, einen Spezialisten für Ehescheidungen, gewählt hatte.

Trotz seiner würdigen Erscheinung legte auch Torson du Foudray seiner Klientin nahe, ihre Aussagen für den Prozeß ein wenig auszuschmücken, zu »frisieren«.

»Es liegt mir fern, die Wahrheit entstellen zu wollen«, versicherte er. »Da sei Gott vor! Aber täuscht Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht vielleicht doch in gewissen Details? Wie steht es mit den Aussagen Ihrer Frau Mutter? Ihrer Freunde?«

Francine erklärte, daß sie unter allen Umständen bei der Wahrheit bleiben wolle.

»Sie haben vollkommen recht, gnädige Frau«, sprach der Anwalt bieder, aber in seiner Stimme lag ein Unterton von leisem Bedauern.

Francine wurde nervös, wenn er in endlosen Besprechungen den Standpunkt ihres Gatten mit liebevoller Ausführlichkeit und großer Objektivität beleuchtete und mit ciceronischer Beredsamkeit die Grundsätze des römischen Rechtes in die Diskussion zog.

Nichtsdestoweniger war er voll Vertrauen.

Marchal, den Herbelot auf dem laufenden hielt, teilte dieses Vertrauen in den Ausgang der Sache nicht.

»Francine verliert ihre Zeit«, sagte er. »Sie und ihre Mutter sollten den Richtern ihre Aufwartung machen, Verbündete zu gewinnen suchen, statt untätig zu Hause sitzen zu bleiben. Sie hätten doch genug Bekannte! Wie kann man einem routinierten Advokaten wie Sépale diesen Ehrenmann aus Lyon gegenüberstellen! Le Hagre bleibt inzwischen nicht untätig, er setzt alle seine Beziehungen in Bewegung.«

Marchal leistete den beiden Frauen oft Gesellschaft und saß an melancholischen Winterabenden zwischen Gräfin Favié, die wieder völlig der Frömmigkeit verfiel, und Francine, die an nichts anderes denken konnte, als an ihren Prozeß.

Er hätte ihnen gerne geholfen und war glücklich, als er zufällig erfuhr, daß sein alter Freund Martial Broussin zum Beisitzer Trassiers bestellt worden war. Sie hatten sich lange nicht gesehen und begrüßten sich herzlich. Broussin, ein Original, mit mächtiger Stirne, klug funkelnden Augen und einem spitzen Faunbart, war reich und unabhängig. Er war ein scharfer Kopf, den man schätzte und fürchtete, und interessierte sich, seit er seine geliebte Gattin und seine einzige Tochter durch den Tod verloren hatte, hauptsächlich für seine wertvolle Münzensammlung. Er verstand sofort, um was es sich handelte, und äußerte sich dem alten Freunde gegenüber sehr offenherzig über den Fall.

»Warte«, sagte er und blätterte in den Akten, die auf seinem Schreibtische lagen. »Hier: Francine Favié, verehelichte Le Hagre, gegen ihren Gatten. Die Verhandlung wird, wenn nichts dazwischenkommt, Dienstag in acht Tagen stattfinden. So eine Sache könnte in fünf Minuten erledigt sein und kann sich durch Jahre hinziehen. Der Gerichtshof: Trassier als Vorsitzender; du kennst ihn und weißt, wie störrisch er sein kann. Ich glaube, daß er nicht wohlwollend ist. Übrigens habe ich keinen Einfluß auf ihn; er kann mich nicht leiden. Du könntest versuchen, durch das Ministerium an ihn heranzukommen. Die Beisitzer: Saint Hélier, ein gewissenhafter anständiger Mensch, aber aus religiöser Überzeugung persönlicher Gegner der Ehescheidung. Mit Fomette, dem die Zeugeneinvernahme, falls es zu einer kommt, anvertraut werden dürfte, kann ich sprechen. Leider steht er ganz unter dem Einflusse Trassiers. Resne, der Vertreter der Staatsanwaltschaft, verbirgt unter seinem scheinbar kalten Wesen ein gutes Herz und absolutes Gerechtigkeitsgefühl. Ich selbst zähle nicht … Ich gebe meine Stimme ab, sonst nichts.«

»Darf ich dich bitten, die junge Frau zu empfangen? Ich möchte, daß du dich durch eigene Wahrnehmung überzeugest.«

»Gewiß«, sagte Broussin. »Nur muß ich dann natürlich auch den Gatten vorlassen, der bereits dreimal seine Karte bei mir abgegeben hat.«

»Selbstverständlich, dann kannst du vergleichen und dir dein Urteil bilden.«

Marchal überschritt die Straße. Ein trüber Februartag ging zu Ende. Er beschloß, seine Freundinnen aufzusuchen. In der Avenue Victor Hugo sah er eine elegante Dame vor sich und erkannte am goldblonden Haar und an der Haltung der Schultern die Gräfin Favié. Sein altes Herz klopfte ein wenig schneller. Sie ging zu Fuß quer über den Platz und trat in die Kirche zu Saint Honoré.

Wie oft hatte er seit jenem letzten schönen Sommerabend von Aygues-Vives an sie gedacht Es war ihm nicht schwer gefallen, zu erraten, wer es war, der ihr Herz gewonnen hatte. Er fühlte, daß sie Charlie liebte, seit sie es vermied, seinen Namen auszusprechen und seit ihr Gesicht einen verschlossenen Ausdruck annahm, wenn andere von ihm sprachen. Er wußte, daß eine Frau dann in die Arme der Kirche zurückzufinden pflegte, wenn sie einer Versuchung ausweichen wollte oder wenn ein Liebhaber sie verlassen hatte. Aber Charlie war nicht ihr Liebhaber, und Marchal zweifelte daran, daß er es werden würde. Trotzdem mußte sie leiden, da sie Trost im Gebete suchte …

Mit Vorsicht folgte er Gabriele durch das Kirchenschiff, denn er wollte sie nicht stören und kannte jene merkwürdige Feinfühligkeit der Frauen, vermöge welcher sie sich plötzlich umkehren, wenn sie sich von rückwärts beobachtet fühlen. Er sah, wie sie sich vor einem Seitenaltar auf die Knie warf und mit einer solchen Inbrunst, mit einem solchen leidenden Eifer zu beten begann, daß er es für taktlos gehalten hätte, seinen Beobachtungsposten beizubehalten. Er ließ sie in Andacht versunken zurück und wünschte ihr, daß ihre arme Seele den Trost finden möge, dessen sie bedurfte, denn er wußte, daß sie nicht um Charlie trauerte, sondern um sich selbst …

Er dachte an Francine, die, willensstark und entschlossen, sich aus ihren Kämpfen gewiß nicht in das mysteriöse Halbdunkel des Glaubens flüchten würde! Wie verschieden waren doch diese beiden Frauen: die eine, die furchtsam wie ein Kind auf halbem Wege stehen blieb und sich an die Vergangenheit klammerte, – die andere, die mutig der unbekannten Zukunft entgegenschritt. Die Mutter von Vorurteilen und dem Gefühl des Verpflichtetseins gegen die Gesellschaft befangen, die Tochter, durchdrungen von den Rechten der freien Persönlichkeit. Gestern und morgen standen sich in ihnen gegenüber.

Nachdenklich wanderte er durch den einsamen Bois und lenkte seine Schritte gegen das Palais der Gräfin Favié. Inzwischen kniete Gabriele vor dem Altar und versuchte vergebens, die Erinnerung an ihre zärtlichen Gefühle für Charlie zu unterdrücken. Der feurige Glaubenseifer ihrer Jugend wollte nicht mehr aufflammen. Ihr Herz blieb leer und ungetröstet.

Sie flehte zu Gott, daß er ihr die Kraft verleihen möge, jede irdische Regung zu unterdrücken, und dankte ihm, daß der, den sie geliebt hatte, sich in die notwendige Trennung fügte, sie vergaß und ihre Ruhe nicht störte. Und doch litt sie unter Charlies Schweigen nicht weniger als er unter dem ihren.

Dann wandten sich ihre Gedanken ihrer Tochter und ihrem Enkelkinde zu und sie rief den Segen des Himmels auf die beiden herab. Es fiel ihr ein, daß sich Francine in letzter Zeit sichtlich verändert hatte, und sie verstand, daß ihre Tochter noch nicht verzichten, noch nicht mit dem Leben abschließen konnte. Sie würde sich ein neues Leben gründen, und der Tag mußte kommen, an dem ihr die wahre Liebe, die ihr bisher wohl fremd geblieben war, einen neuen Weg ins Glück öffnen würde.

Gräfin Favié war sich nicht klar darüber, ob Francines Träume nicht schon eine bestimmte Richtung eingeschlagen hatten. Manche Anzeichen sprachen dafür. Sie hatte Francine über dem Studium einer Karte von Zentralafrika ertappt und eine kleine Amateurphotographie Éparviés, die aus dem Album im Salon verschwunden war, erschien in Francines Zimmer auf ihrem Schreibtische.

Ergriffen schloß Gabriele die Augen und murmelte mit gläubigen Lippen: »Herr, dein Wille geschehe!« Marchal stand an der Entreetür und fragte nach Francine Le Hagre.

Sie war bei ihrem Advokaten. Auch Josette war heute noch nicht von ihrem Vater zurückgekehrt. Besorgt berichtete der alte Diener, das Kind sei gestürzt … habe sich verletzt …

Betrübt und müde machte sich Marchal auf den Heimweg. Die arme kleine Josette! Hoffentlich war ihr nichts Ernstliches zugestoßen … Und die unglückliche Mutter, die mit Rechtsanwälten verhandeln mußte, statt an das Krankenlager ihres Kindes eilen zu können …

Er fühlte sich tief durchdrungen von der Unzulänglichkeit der Gesetze und aller menschlichen Einrichtungen.


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