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XVII.

Die ganzen folgenden Tage lebte Francine nur dem Glück, ihre Tochter, die sie gleich am nächsten Morgen mitgenommen, wieder bei sich zu wissen. Sie erinnerte sich an die Ereignisse dieser Nacht nur undeutlich wie an einen wüsten Traum: schweigend war Le Hagre aus und eingegangen. Die geistliche Pflegerin hatte sich bald zur Ruhe begeben. Sie selbst wachte die ganze Nacht in diesem Zimmer, in dem sie jedes Möbelstück kannte, und das für sie voll von Erinnerungen war. Im Raume nebenan hatte Lieschen gewohnt und gerade unterhalb lag ihr eigenes Schlafzimmer und schien auf sie zu warten …

Beim Morgengrauen war Fernand unvermutet eingetreten. Fast ohne sie zu beachten hatte er sich wortlos genähert und stand einen Augenblick hinter ihr, sich gegen das Krankenbett vorneigend. Seine körperliche Nähe verursachte ihr ein peinliches Unbehagen. In diesem Moment waren Frau Le Hagre und die Klosterfrau in der Türe erschienen und Fernand Le Hagre zog sich sofort zurück.

Niemand hatte widersprochen, als Francine zwei Stunden später erklärte, daß sie Josette mitnehme. Die Schwiegermutter versuchte zwar, einen Aufschub zu erreichen, aber vor Francines entschlossenem Blick senkte sie verwirrt die Augen, denn seit sie sich von der Schuld ihres Sohnes überzeugt hatte, fühlte sie sich bedrückt und hätte Francine gerne irgend eine Genugtuung gegeben. Nur der Scheidung, die ihren religiösen und moralischen Gefühlen widersprach, konnte sie nicht zustimmen. Aber trotz ihres gegensätzlichen Standpunktes und trotz der bitteren Kampfesstimmung hätte sie gerne ein freundliches, versöhnliches Wort ausgesprochen. Doch sie fand keines und begnügte sich damit, Josette zärtlich zu umarmen, während sich das Kind verschüchtert und ungeduldig an seine Mutter drückte.

Alles war korrekt verlaufen. Fernand hatte ihr die befürchtete peinliche Szene erspart. Gewiß, es war schrecklich, daß die Eltern, die sich in ihrem Kinde hätten lieben müssen, einander kalt und feindselig gegenüberstanden … Aber das war nicht ihre Schuld.

Niemals hatte sie das Gefühl, Josette zu besitzen, mehr beglückt als in diesen Tagen. Doktor Dutoil behandelte mit Sorgfalt den gebrochenen Arm. Auch Doktor Larive erschien der Form halber mit seinen langen Haaren täglich am Krankenbette der Kleinen und Francine versöhnte sich mit seinem Anblick, je mehr die Genesung ihres Kindes Fortschritte machte. Wenn Le Hagre den Wunsch geäußert hätte, Josette zu besuchen, hätte sie ihm diese Bitte nicht abgeschlagen.

Ganz versunken in ihre mütterlichen Pflichten, dachte sie kaum daran, daß die Scheidungstagsatzung in drei Tagen stattfinden würde. Zu ihrem Erstaunen erhielt sie plötzlich ein Telegramm von Torson du Foudray: Ankomme heute zwei Uhr, unverständlichen Brief von Sépale erhalten. Haben Sie sich mit Ihrem Gatten versöhnt?

Eine unbegreifliche Angst zog ihr das Herz zusammen. Sie erinnerte sich an Herbelots Warnungen und an die Fälle unfreiwilliger Versöhnungen, von denen er erzählt hatte.

Da ließ sich Frau de Guertes bei ihr melden.

Die junge Frau trug ein entzückendes Frühjahrskostüm und warf sich ihr an den Hals.

»Welches Glück! Ihr habt euch versöhnt? Maxime ist sehr zufrieden; er hat immer behauptet, daß es so ausgehen würde!«

Francine entzog sich ihren Armen.

»Du bist verrückt! Wer wagt, so etwas zu behaupten?«

»Wer? Dein Mann, unsere Freunde, die ganze Welt! Ist es denn nicht wahr? Frau Pustienne hat gestern bei einer Soiree erzählt, daß ihr zusammen nach Italien abgereist seid. Eine zweite Hochzeitsreise! Und Frau Lurat erklärt, sie sei darüber gar nicht verwundert, weil zwischen euch eigentlich nichts Ernstliches vorgelegen sei.«

»Und du, du konntest das glauben?«

»Warum nicht? Maxime glaubt es auch! Ich hätte meinem Mann schon hundertmal verziehen.«

Rot und aufgeregt erschien das Ehepaar Morland.

»Was hören wir? Das ist doch unmöglich! Wir glauben es nicht!«

»Und ihr habt recht! Eine ungeheuerliche Intrige …«

»Aber wie denn? Was hat sich ereignet? Seid ihr denn irgendwie zusammengekommen?«

Francine erzählte, schrie die Wahrheit heraus. Der Oberst reckte die Arme zum Himmel.

»Das ist ja eine schöne Geschichte!«

Niemand verstand sie; Henriette freute sich über eine Versöhnung, die nie eintreten konnte, und die Morlands tadelten ihre Unvorsichtigkeit, ohne das Aufwallen ihrer mütterlichen Gefühle begreifen zu können …

Gabriele Favié dachte: Wollte Gott, daß es wahr wäre … Der häßliche Kampf um das Kind machte sie unglücklich und hatte ihre Abneigung gegen eine Scheidung noch verstärkt. Eine Verständigung in christlichem Geiste wäre ihr die liebste Lösung gewesen. Wie schade, daß Francine dafür nicht zu haben war.

»Du würdest dich damit abfinden, daß ich dieses schmachvolle gemeinsame Leben wieder aufnehme? Daß ich mich zwecklos opfere? Wozu und für wen?«

»Für Gott, mein liebes Kind«, sagte die Gräfin sanft. »Du willst nicht leiden, aber das ganze Leben ist nichts wie Leid! Warum versuchst du, ihm zu entfliehen?«

»Weil es ungerecht ist und weil die Ungerechtigkeit mich empört.«

»Bildest du dir ein, daß du die einzige bist, die leidet?«

»Das Unglück anderer ist mir kein Trost; im Gegenteil! Könnte die Trennung einer Ehe nicht anders vor sich gehen? Warum diese Kämpfe, die unnötigen Schwierigkeiten, dieser Aufwand an behördlichen Arbeiten? Mit welchem Rechte vergiftet man mein Leben?«

»Dein Leben? Arme Francine, wie kannst du es so wichtig nehmen? Dieses Leben, von Krankheiten, Unfällen und vom Tode bedroht, dieses kurze, nichtige Leben …«

»Kurz oder lang, es ist mein Leben und ich glaube, daß es ein Ziel, einen Sinn hat! Ich glaube, daß wir dem Willen des Schöpfers am nächsten kommen, wenn wir alle uns gegebenen Kräfte dafür einsetzen, es schöner, besser, reicher und sonniger machen, wenn wir dafür sorgen, daß Gerechtigkeit auf Erden herrscht und Gottes Kreaturen sich in Arbeit, Einigkeit und Liebe zu höchster Vollkommenheit entwickeln können!«

»Liebe!« wiederholte Gabriele voll Bitterkeit. »Trugbild der Sinne!«

»Warum sollte es tadelnswert sein,« entgegnete Francine, »zu lieben? Warum sollte dieses mächtige, dieses natürliche Gefühl ein Vergehen sein!«

Der überzeugte Ton dieser Worte erschreckte Gräfin Favié. In diesem Moment sah sie in die Zukunft und wußte, daß Francine lieben würde …

»Es gibt Dinge,« sagte sie, »denen wir uns fügen müssen.«

Francine hob die Schultern.

»Eine Ehe wie die, in der ich ersticke, kann wohl nicht zu diesen unantastbaren Einrichtungen gezählt werden. Nur wenn gegenseitige Liebe und Achtung sie festigt, ist die Ehe ihres Namens würdig. Fehlen diese Voraussetzungen, so verdeckt sie unter ihrem Mantel die unwürdigste Prostitution!«

»Wir verstehen uns nicht mehr«, sagte Gabriele schmerzlich. »In meinen Augen ist die Ehe eine geheiligte Institution, die, geschieden oder nicht, nur durch den Tod gelöst werden kann.«

»Du irrst dich«, sprach Francine. »Sie ist in dem Moment gelöst, in dem die Harmonie der Seelen geendet hat. Ich für meine Person denke nicht daran, darauf zu warten, daß der Tod die Fessel meiner Ehe breche. Mein Herz, mein Körper, mein Wille gehört mir; ich werde meine Freiheit erlangen! Ach, wenn ich dir nur einen Hauch von meinem Mut zum Glücke einflößen könnte! Wage es doch auch, zu leben!«

Gabriele lächelte entsagend.

»Wenn du all das hinter dir hättest, was ich erlebt habe, mein gutes Kind, würdest du anders sprechen …!«

»Was gäbe ich darum, wenn ich an deiner Stelle wäre! Du bist doch frei, unabhängig!«

»Unabhängig? Wovon?« rief Gräfin Favié.

»Von allem! Du kannst nach deinem Belieben handeln und bist nur deinem eigenem Gewissen verantwortlich!«

»Schweig still!« rief Gabriele in höchster Erregung, »wo würde das hinführen! Was würde man von mir sagen, wenn ich deine Ratschläge befolgte?

»Es ist falsch,« fuhr Francine unbeirrt fort, »alle Anordnungen, die die Gesellschaft getroffen hat, blindlings und kritiklos hinzunehmen. Wir haben das Recht der Kontrolle.«

»Und wenn wir uns irren, wenn wir fehlgehen?« fragte die Gräfin verzweifelt. »Nein, nein, ich flehe dich an, schweig still.«

Und plötzlich sanken sich die zwei Frauen schluchzend in die Arme. Sie verstanden sich immer weniger, aber ihre Liebe zueinander wurde dadurch nicht berührt …

Marchal kam, als Francine eben ging. Er schloß sich ihr an. Herbelot hatte ihn bereits informiert und der alte Anwalt hatte bei dieser Gelegenheit zum ersten und wohl auch letzten Male das überraschende Schauspiel erlebt, daß Herbelot sich über eine Wendung, die ein Prozeß eines seiner Klienten nahm, aufgeregt hatte. Marchal hatte Lust, Francine auszuzanken. Wie hing doch alles vom Zufall ab! Hätte sie ihn an jenem Tage zu Hause getroffen, so würde er niemals zugelassen haben, daß sie diese Unvorsichtigkeit beging …

Auf dem Wege berichtete er ihr von den Schritten, die er bei Broussin unternommen hatte, und nahm ihr das Versprechen ab, diesem wohlwollenden Richter einen Besuch abzustatten.

Torson du Foudray, den sie aufsuchten, verbarg seine Enttäuschung unter wohlgesetzten Begrüßungsphrasen. Im Grunde genommen lief die Aussöhnung des Ehepaares seinen moralischen Anschauungen durchaus nicht zuwider. Anderseits bedauerte er als Advokat den Verlust eines so interessanten und vielversprechenden Falles … Und überdies hatte ihn die Nachricht von dieser Wendung zu überraschend getroffen. Als er von Francine über den wahren Sachverhalt aufgeklärt wurde, fand er sich auch damit gefaßt ab.

»Die Sache geht also weiter. Wir werden nur unsere Strategie entsprechend modifizieren müssen. Herbelot, der jeden Moment kommen muß, wird die nötigen Maßnahmen mit uns besprechen …«

Herbelot erschien mit rotem Kopf und mit der beleidigten Miene des Rechtsanwalts, der durch die Ungeschicklichkeit eines Klienten kompromittiert erscheint. Er schüttelte das Haupt und sagte mit leisem Vorwurf:

»Aber, gnädige Frau, solche Seitensprünge darf man sich wirklich nicht erlauben …«

»Nein,« entschied Torson du Foudray salbungsvoll, »aber man kann sie begreifen … Ja, ich muß sagen, daß uns in der trostlosen Grausamkeit derartiger unerfreulicher Prozesse ein so unwiderstehliches Aufflammen mütterlicher Instinkte in Bewunderung versetzt und erhebt. Die Mutter hat nur einen Gedanken: Ihr Kind! Welche prachtvollen menschlichen und rhetorischen Effekte lassen sich aus diesem Vorkommnis ziehen …«

Francine mußte lächeln … Würde er an Ort und Stelle sein Plaidoyer beginnen?

Unbefangen setzte er fort:

»Wenn man uns vorhalten wird: die Anwesenheit der Frau Le Hagre im Heim ihres Ehegatten beweist unwiderleglich ihre Versöhnungsabsicht, so werden wir antworten: Nein, meine Herren, diese schöne und unglückliche junge Frau, die mit tränenüberströmtem Gesicht am Krankenlager ihres Kindes um dessen Heilung betet, ist nicht identisch mit der von ihrem Ehemann beleidigten Gattin. Nein, die beleidigte Gattin ist draußen zurückgeblieben und erwartet, in Trauer und ihrer Rechte wohl bewußt, die erlösende Entscheidung des Gerichtes! Die Unglückliche, die hier auf den Trümmern ihres ehelichen Glückes in Tränen zerfließt, ist die Mutter, nur die Mutter …«

Herbelot kratzte sich die Nase und blinzelte den feurigen Redner von der Seite an.

Francine rief aus:

»Ich habe nicht einen Augenblick an eine Versöhnung gedacht. Niemand wird es wagen, das Gegenteil zu behaupten …«

»Schön«, sagte der Anwalt. »Warten wir nur ab!«

»Aber die Richter können doch nicht …«

»Die Richter? Die werden Ihnen schon zeigen, was es heißt, wenn man sie umsonst bemüht! Es wird ihnen nur willkommen sein, wenn sich das Scheidungsverfahren vermeiden läßt. Übrigens spricht der Schein gegen Sie, gnädige Frau! Nach dem Wortlaut des Gesetzes braucht die Versöhnung keine Folgen zu haben und nicht von Dauer zu sein; es genügt, daß sich die Einigkeit der Willensäußerungen kundgetan habe. Und Ihre Heimkehr, Ihre Anwesenheit unter dem Dache Ihres Gatten eine ganze Nacht hindurch beweist genug. Alle unsere Bemühungen und die Verfehlungen Le Hagres treten dagegen zurück, Sie bleiben gebunden, verheiratet, angekettet!«

Herbelot hatte sich in Eifer gesprochen, der Prozeß Francines interessierte ihn wirklich und er hätte ihr einen Erfolg gegönnt

»Aber Beweise!« rief sie außer sich. »Man kann doch nicht etwas beweisen, was nicht stattgefunden hat …«

Herbelot zuckte die Schultern.

»Alles läßt sich beweisen«, versicherte er. »Ich könnte Ihnen den ironischen Brief zeigen, den mir Tartre heute früh geschickt hat …«

Auch Torson du Foudray hatte von Sépale ein Schreiben erhalten, das seiner Eitelkeit wenig schmeichelte. Und beiden ging der Hohn ihrer Gegner näher als alles Unglück ihrer Klientin.

»Immerhin«, sagte Herbelot schließlich, »wird es doch zur Zeugeneinvernahme kommen.«

»Zweifellos!«

»Vorausgesetzt,« wandte Herbelot ein, »daß wir nicht a limine abgewiesen werden.«

Francine erblaßte. So teuer konnte sie das Gericht ihre Schwäche nicht büßen lassen …

Auch du Foudray war dieser Meinung, aber schon die Zeugeneinvernahme allein, die zu vermeiden man gehofft hatte, würde den Prozeß um fünf bis sechs Monate verlängern.

»Schade«, sagte er. »Wir konnten mit Sicherheit darauf rechnen, die sofortige Scheidung zu erlangen … In wenigen Tagen wäre die Entscheidung gefallen …«

Herbelot nickte zustimmend.

Torson du Foudray geleitete Francine an die Türe und küßte ihr feierlich die Hand.

»Wie immer die Sache auch ausgehen möge, unser Gewissen hat uns nichts vorzuwerfen. Sie, gnädige Frau, haben ein edles Herz und ich versichere Sie meines tiefsten Respektes.«

Zu Hause fand sie einen Brief von Fernand Le Hagre, der ihr seine Freude darüber ausdrückte, daß sie ihm durch ihren Besuch in der Rue Murillo die Gewißheit gegeben habe, daß ihr Haß erloschen sei. Er hoffe, nachdem ihre gemeinsame Sorge um das Kind sie einander wieder nahe gebracht hätte, würde ihrer Wiedervereinigung kein Bedenken mehr entgegenstehen. Er betrachte alle Streitigkeiten für beendet, den Prozeß als eingestellt und zeichne sich als ihr zärtlich ergebener Gatte.

Francine raste über diese Frechheit. Sie wußte, mit welcher Schadenfreude er jedes Wort dieses heuchlerischen Briefes niedergeschrieben hatte.

Und seine Mutter, glaubte auch sie an die Versöhnung? Wie hätte sie sonst gestatten können …

Nein, Frau Le Hagre war von der Aufrichtigkeit der Versöhnung nicht überzeugt und gerade deshalb begnügte sie sich mit dem schönen Schein. Es galt, mit äußerster Vorsicht zu spielen; wer einen Fehler machte, hatte die Folgen zu tragen. Nichts hatte Francine gezwungen, einen Schritt von dem vorgezeichneten Wege zu riskieren. Josette war nicht in Gefahr gewesen, man hätte ihr gewiß jede erdenkliche Pflege angedeihen lassen …

Sie wusch ihre Hände in Unschuld; es war Sache der Advokaten, Anwälte und Richter die Entscheidung zu treffen. Aber alle ihre Gedanken gipfelten in dem Wunsche, daß unter allen Umständen ihr Sohn recht behalten möge …


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