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VIII.

Rechtsanwalt Marchal verließ sein Zimmer erst als es zu Tische geläutet hatte und als Jean ihm vertraulich durch die Türe zuflüsterte, der Rehschlegel würde leiden, wenn man ihn warten ließe.

Diese Mahnung besiegte sogar seine Eitelkeit, die ihn sonst noch länger bei der Toilette zurückgehalten hätte. Frisch rasiert, rosig und parfümiert, das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch seines Smokings, stieg er die Treppe hinab. Ein gebratener Rehschlegel gehörte zu seinen Lieblingsspeisen. In seinem großen, von Rheumatismus gebeugten alten Körper waren Herz und Verstand jung geblieben, hatten die versagenden Beine überlebt, die verhärtete Leber und das verfallene Gesicht, aus dem zwischen zwei sarkastisch funkelnden Augen wie der letzte Turm einer Ruine die mächtige Nase ragte.

Er küßte Gabriele zeremoniell die Hand und bat Francine mit der respektvollen Galanterie einer vergangenen Zeit, ihr einen väterlichen Kuß auf die Stirne drücken zu dürfen.

Gräfin Favié schätzte ihn hoch und vergaß, wie peinlich es gewesen war, als sie – ein Jahr nach dem Tode des Grafen – seine Bewerbung um ihre Hand ablehnen mußte. Der alte Jurist hatte ihr diesen Vorfall auch niemals nachgetragen.

Der schwarze Kaffee wurde in der Bibliothek serviert. Marchal bekam eine der guten Zigarren, die er zu schätzen wußte und die seinen Geist und seine Phantasie angenehm anregten. Während Gabriele ihm den Aschenbecher hinschob, bewunderte er die lässige Anmut ihrer Bewegungen und dachte mit leisem Bedauern daran, wieviel Schönheit und Glücksmöglichkeit hier ungenützt verblühte. Sie schien ihm traurig, nervös und verändert, und verwundert fragte sich der alte Frauenkenner, ob dieser sonderbare Ausdruck ihrer Augen nicht ein Zeichen von Verliebtheit sei. Warum nicht? Warum sollte gerade sie den Gesetzen der Natur nicht untertan sein? Je länger sie gesäumt hatte, um so elementarer und unwiderstehlicher würde die Gewalt der Leidenschaft über sie hereinbrechen! Ach, warum war er nicht zwanzig Jahre jünger … Philosophisch streifte er seine Träumerei mit der Asche seiner Zigarre ab. Gräfin Favié seufzte:

»Wer hätte das gedacht, lieber Freund? Unsere arme Francine …«

»Mein Gott, sie ist so jung ..!« erwiderte er. »Was bedeutet da ein wenig Leid … Sie hat Zeit vor sich, um zu vergessen; sie wird ein neues Leben beginnen, wenn sie will und so oft sie will …«

Frau Le Hagre kam ins Zimmer zurück und trug ihren Fall vor.

Marchal folgte ihren Ausführungen mit immer ernster werdender Aufmerksamkeit. Die Briefe Lieschens überraschten ihn nicht … Wieviel Derartiges hatte er zu lesen bekommen! Als Francine zu Ende war, starrte er konzentriert die Wände an. Die guten Gesichter der Großeltern in den alten Goldrahmen … Und im roten Jagdfrack, zu Pferde, Graf Favié, dessen Bild Gabriele trotz allem an seinem Platz hängen gelassen hatte, als sollte es die Unauflöslichkeit der Ehe symbolisieren …

Dann legte er die Zigarre weg, drückte Francines Hand und sagte – obwohl es ihm schwer fiel, den ihm bekannten Ansichten der Gräfin zu widersprechen:

»Also gut, mein liebes Kind, lassen Sie sich scheiden!« Und gegen Gabriele gewendet, fuhr er fort: »Sagen Sie mir nicht, beste Freundin, daß die Scheidung ein übles Mittel ist! Wenn das Haus brennt, dürfen wir nicht von den Löschungsaktionen absehen, aus Furcht, daß die Einrichtung leiden könnte! Um das Leben des Patienten zu retten, dürfen die Ärzte unbedenklich das infizierte Bein opfern! Sie wollen doch Francine retten und Josette schützen, nicht wahr? Dazu muß vor allem die Situation klargestellt, die Lüge dieser Ehe beseitigt werden. Eine friedliche Auseinandersetzung hat keinen Wert. Der Prozeß würde dann zwar vermieden, aber Le Hagre behielte weiter die Verfügung über Francine, Josette und – da wohl Gütergemeinschaft besteht – über ihr Vermögen … Und Francine könnte erst daran denken sich wieder zu verheiraten, wenn sie Witwe wird …«

»Sie denkt nicht daran, wieder zu heiraten!« rief Gabriele eifrig.

»Sie antworten für Francine! Ist das auch ihre Meinung? Um so schlimmer, wenn sie sich mit fünfundzwanzig Jahren zur ständigen Ehelosigkeit verpflichten will! Wird sie nie mehr lieben? Soll sie auf die Möglichkeit, sich in Ehren ein neues Glück zu gründen, verzichten? Wünschen sie ihr das? Fänden sie das gut und richtig?«

Die ernsten Worte des Rechtsanwaltes ließen Gräfin Favié zaudern. Aber wie sie einst ihre mütterlichen Gefühle allen anderen vorangestellt, wie sie sich für Francine geopfert hatte, wäre es ihr natürlich erschienen, wenn Francine nun für Josette dasselbe Opfer gebracht hätte.

»Nein!« fuhr Marchal eindringlich fort, »es gibt nur die Scheidung. Sie ist die einzige logische, die einzige reinliche Lösung.«

»Aber um welchen Preis!« klagte Gabriele. »Gut, Francine erlangt ihre Freiheit wieder, doch sie vergeht sich gegen die Vorschriften der Religion, in der sie erzogen wurde, sie verletzt die Meinung der Welt …«

»Der Welt?« warf Francine ein. »Höchstens die einer gewissen Kaste …«

»Die der guten Gesellschaft.«

Francine hob abwehrend die Hände.

»Die Pariser Gesellschaft! Wir kennen sie doch … Die Herren, die nur dem Vergnügen leben und denen der Ehebruch lieber ist als die Scheidung, die ihnen Verpflichtungen aufhalsen könnte. Ehemänner, die nichts von Scheidung wissen wollen, weil sie dann ihren Frauen die Mitgift zurückerstatten müßten. Die zufriedenen Ehedreiecke, die keine Scheidung brauchen. Die chokierten Damen und die, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben und nun den andern die Möglichkeit der Befreiung mißgönnen! Das, Mama, ist die Gesellschaft, die die Scheidung ablehnt!«

»Die Kirche verbietet sie«, beharrte Gabriele.

»Die katholische Kirche«, präzisierte Marchal lächelnd. »Nicht die evangelische. Und auch die Praxis der katholischen Kirche war eine wechselnde: In den ersten acht Jahrhunderten gestattete sie Scheidung und Wiederverehelichung. Unter Napoleon I. verweigerte sie katholisch Geschiedenen nicht die kirchliche Trauung – ein Standpunkt, den sie in anderen Ländern heute noch einnimmt. Mit der Restauration der Bourbonen wurde die Scheidung gesetzlich abgeschafft und seither perhorresziert sie die Kirche, obwohl die dritte Republik sie wieder eingeführt hat. Die Geschichte lehrt uns, daß all diese Schwankungen aus politischen Gründen erfolgt sind … Übrigens hat ja auch die Kirche ihre Scheidung: Die Ungültigerklärung der Ehe dem Bande nach! Man könnte ja gleichzeitig bei den geistlichen Gerichten um diese einschreiten … Natürlich sind für diese Entscheidung andere Gesichtspunkte maßgebend … Löst die Kirche Francines Eheband nicht, so ist sie doch wenigstens nach weltlichem Recht ihren Mann los …«

»Und sie kann sich nicht wieder verheiraten!« schloß Gräfin Favié.

»Sie kommen also doch auf diese Frage zurück!« entgegnete der Rechtsanwalt. »Vor dem Altar in diesem Falle nicht. Aber die Ziviltrauung steht ihr frei …«

Gräfin Favié rang die Hände.

»Diese Vorstellungen bringen mich aus der Fassung … Und Josette? Was geschieht mit ihr? Sie wird geopfert!«

»Ach, Mama!« schrie Francine auf, »sprich nicht so! Das ist nicht gut, das ist nicht recht! Wenn die Situation nur irgendwie zu ertragen gewesen wäre, säße ich nicht hier!«

Marchal legte sich begütigend ins Mittel.

»In der Atmosphäre einer zerstörten Ehe würde das Kind mindestens ebenso leiden … Nicht durch die Tatsache der Scheidung wird Josette geopfert, sondern durch das unbillige und törichte Gesetz, das auch demjenigen Elternteile noch Rechte einräumt, der sie durch sein Verhalten verscherzt haben sollte …«

»Was hat er für das Kind getan?« rief Francine erbittert. »Gedankenlose Zärtlichkeiten, Kuchen und Spielzeug waren die einzigen Äußerungen seiner Vaterliebe! Nicht das geringste Opfer hätte er jemals gebracht, nicht die kleinste Entbehrung sich auferlegt, um sich die spätere Achtung seines Kindes zu verdienen! Nicht einmal so viel Beherrschung hat er aufgebracht, um ihrethalben ein häßliches Wort, eine Brutalität zu unterdrücken …«

»Natürlich sollten derartige pflichtvergessene Väter ihrer Rechte verlustig gehen. Josette müßte ihrem Vater völlig entzogen werden. Nicht einmal sehen sollte er sie dürfen: Was bestimmt aber das Gesetz? Das gerade Gegenteil: Selbst wenn das Kind – was ich hoffe – in Ihrer Obhut gelassen wird, behält der Vater das Recht, es an bestimmten Tagen zu sehen und zwischendurch auf Wochen zu sich zu nehmen. Er kann die Erziehung überwachen und beeinflussen, kann es großjährig sprechen lassen und gegen Ihren Willen verheiraten. Bei jeder Gelegenheit wird er sich neue Rechte anmaßen und gegebenenfalls steht ihm sogar die Hilfe der Polizei zur Verfügung, um sich sein Kind zuführen zu lassen. Wenn Sie sich widersetzen, werden Sie zu unverhältnismäßig hohen Geldstrafen verurteilt. Sollten Sie es sich einfallen lassen, ihm Josette zu entführen – droht Ihnen Gefängnisstrafe und der Verlust jedes Anspruches auf das Kind. Ja, teure Freundin, so grausam, so lächerlich ist unser Gesetz ..!«

Gräfin Favié seufzte:

»Das Kind, das Kind ist das unschuldige Opfer ..!«

Marchal zuckte die Schultern.

»Und im anderen Falle?« setzte er fort. »Wenn es zwischen den Eltern aufwächst, die sich einander entfremdet haben, die sich hassen? Als Zeuge unwürdiger Verfehlungen des Vaters, ständiger Verzweiflung der Mutter, als unfreiwilliger Beobachter der häßlichsten Szenen, Beschimpfungen und schließlich vielleicht Tätlichkeiten? Für mich gibt es keinen Zweifel, daß Josette hiebei noch mehr leiden würde!«

»Gewiß!« rief Francine überzeugt, »die Trennung von ihrem Vater wäre das größte Glück für Josette! Je weniger sie seinem üblen Einfluß, seinem schlechten Beispiel ausgesetzt ist, um so besser … Hier, bei uns, Mama, wird sie gedeihen; hier ist ihr wahres Heim. Marchal hat recht, die Scheidung liegt im Interesse Josettes selbst …!«

»Und in Ihrem, Francine!« sprach Marchal fest. »Sie werden dem Kind eine gute Mutter sein, aber machen Sie sich keine Illusionen: Jede Stunde macht es mehr und mehr zu einem selbständigen Wesen, die Jahre fliehen, Josette wird sich verheiraten. Und sie bleiben allein, von Reue über ein verfehltes Leben verzehrt. So weit darf es nicht kommen, Sie dürfen Ihre unveräußerlichen Rechte auf das Glück nicht preisgeben! Glauben Sie meiner Erfahrung: Sie werden wieder lieben, Sie werden einen würdigeren Gatten finden, der Josette ein wahrer Vater sein wird … Nehmen Sie einem alten Menschenkenner diese Vorhersage nicht übel. Das Schicksal ist Ihnen diese Revanche schuldig … Und darum, Francine, kämpfen Sie – für sich wie für Ihr Kind – mit allen Kräften, mit allen Mitteln um Ihre Freiheit! Es wird, wie ich fürchte, ohnedies kein leichter Kampf sein …«

»Sie haben leicht reden«, erklärte Gabriele bebend. »Man hat sich fürs Leben die Hand gereicht, hat sich geliebt, hat ein Kind in die Welt gesetzt, und eines Tages heißt es: Wir gehen auseinander, wir teilen das Kind … Schrecklich! Und die Frau? Ihre erste Liebe, ihre Mädchenunschuld ist dahin … Wie soll sie einen anderen beglücken?«

»Auch Witwen verheiraten sich wieder«, sagte Francine.

»Aber deren Gatte hat nicht mehr zu fürchten, daß er ihnen am Arme eines anderen begegnet. Für mich ist die Wiederverehelichung einer Frau, deren Mann lebt, soviel wie ein Ehebruch!«

Leichenblaß hatte sich Francine erhoben und preßte die Arme an die Brust

»Also, was willst du? Was soll ich tun? Mich umbringen? Ja, so weit bin ich! Bevor ich das Joch wieder auf mich nehme, töte ich ihn oder mich! Mein Gott, Mama, hast du denn niemals gehaßt?«

»Ich habe es versucht«, sprach Gräfin Favié und senkte den Kopf. »Aber ich konnte nicht. Ich habe es vorgezogen, zu dulden …«

»Mit Unrecht! Du hast umsonst gelitten!«

Gabriele sah ihre Tochter mit Tränen in den Augen zärtlich an.

»Das wirfst du mir vor, mein Kind?« hauchte sie.

Und schon lag Francine vor ihr auf dem Boden, umschlang ihre Knie und schluchzte:

»Mama, oh, Mama!«

Marchal blickte nachdenklich auf die beiden, die sich so sehr liebten und so wenig verstanden. Die Frauen blieben doch wirklich ihr Leben lang Kinder; Vernunftsgründe reizten sie zum Widerspruch, durch Gefühl und Tränen ließen sie sich überzeugen.

»Du bist Herrin deiner Entschlüsse«, sagte Gabriele gütig und selbstlos zu Francine. »Jedenfalls werde ich alles tun, um dich zu unterstützen. Mein Platz ist an deiner Seite.«

»Niemals hat Francine Ihrer dringender bedurft als in diesem Moment«, nickte Marchal. »Die Welt ist schlecht; Le Hagre kennt zweifellos alle Finessen des Gesetzes, von denen seine Gattin keine Ahnung hat … Ihnen, meine kleine Francine, kann ich den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie die Feindseligkeiten zu früh eröffnet haben …«

Verwundert sah Frau Le Hagre auf.

»Ja,« fuhr er fort, »die Gerichtsferien sind erst in drei Wochen zu Ende … Wieviel besser hätten Sie diese Zeit benützen können! Man hätte den guten Le Hagre auf seinen Abwegen überwachen lassen müssen … Dafür gibt es eigene Detektivinstitute. Natürlich hätte man ihn erwischt, in der beiderseitigen Erregung wäre es zweifellos zu Szenen gekommen – notabene vor verläßlichen Zeugen! – vielleicht hätte er sich sogar hinreißen lassen, Sie zu mißhandeln … und die Sache hätte geklappt! Schmollen Sie nicht, liebes Kind! Sie glauben vielleicht, daß Sie Ihre Scheidung schon in der Tasche haben? Aber ganz und gar nicht! Ihre Beweise? Nur Geduld! Ich wette, daß es Ihnen nicht einmal bekannt ist, unter welchen Umständen das Gericht die Scheidung bewilligt! Habe ich recht? Nun also, hören Sie: Ebenso wie ein Schokoladeautomat nur beim Einwurf einer bestimmten Münze die gewünschte Ware liefert und auf andere – auch wertvollere – Münzen, Goldstücke oder Banknoten nicht einschnappt, ebenso, sage ich, funktioniert das Gericht nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Bitte, hat Ihr Gatte jemals eine diffamierende Strafe erlitten, ist er zum Tode, zur Zwangsarbeit, zu Deportation verurteilt worden?«

»Nein«, stammelte Francine. »Sie machen sich über mich lustig …«

»Schade! Somit entfällt der eine gesetzliche Scheidungsgrund. Der zweite ist der Ehebruch! Ja, gewiß, der bewiesene Ehebruch, wohlverstanden! Alle anderen Gründe, die das Gesetz unter der Bezeichnung Gewalttätigkeiten, Mißhandlungen, schwere Beleidigungen zusammenfaßt, sind unzuverlässig, weil ihre Beurteilung dem freien Ermessen des Richters überlassen ist und daher in der Praxis schwankt. Le Hagre dürfte Sie kaum lebensgefährlich bedroht oder vor Freunden und Dienstpersonen geschlagen haben …«

»Das hätte noch gefehlt!« rief Francine empört.

»Und schwere Beleidigungen, in Wort oder Schrift?«

»Unzählige! Jeder Ton seiner Stimme, jedes Wort in diesen letzten Jahren war beleidigend, verletzend, daß es mir das Blut ins Gesicht trieb …«

»Bitte, führen Sie eine derartige beleidigende Szene an, die sich vor Zeugen abgespielt hat, die Sie beweisen können!«

»Mein Gott! Zeugen … Zeugen habe ich natürlich nicht! Aber … wenn wir uns nicht vertragen, nicht verstehen können … Das ist kein Grund? Ja, irgendwie muß es doch möglich sein, mich von ihm zu befreien! Sie sagten doch selbst, der Ehebruch …!«

»Ganz richtig«, sagte Marchal. »Der Ehebruch. Ein einziger Ehebruch, bewiesen, genügt, um den Automaten zum Funktionieren zu bringen. Wie wollen Sie ihn beweisen? Haben Sie eine Ehebruchsklage eingebracht? Hat der Polizeikommissär Le Hagre in flagranti überrascht? Nein. Le Hagre wird selbstverständlich leugnen. Lieschen wird leugnen. Die Kammerjungfer ist – wie Sie selbst sagen – erst viel später erschienen, und vor ihr hat Lieschen nicht gestanden! Also: Keine Zeugen! Übrigens worin bestand der Ehebruch in dieser Situation? Le Hagre saß im Schlafrock – also angekleidet – neben dem im Bette liegenden Mädchen … Sonderbar, sehr verdächtig, gewiß! Aber der Akt des Ehebruches fehlt! Die heftige Auseinandersetzung vor den Dienstleuten ist gut – falls das Personal nicht bestochen wird und in einem für Sie ungünstigen Sinne aussagt … Was bleibt uns? Die gewissen Briefe …«

»Die Briefe beweisen doch ohne Zweifel …«

Marchal blickte mit zärtlichem Mitleid auf die erregte junge Frau.

»Die Briefe sind ein Beweis«, sagte er langsam und zögernd. »Aber ich weiß nicht, ob das Gericht ihn anerkennen wird. Sie haben nach dem Gesetze nicht das Recht, die Korrespondenz Ihres Gatten zu kontrollieren, seine Laden zu durchstöbern, und nach der Ehescheidungspraxis der meisten Gerichtshöfe wird das Beweismaterial, das die Frau sich heimlich, gegen den Willen des Gatten – also gewissermaßen widerrechtlich – angeeignet hat, als nicht existierend angesehen … Eine andere Auffassung wäre möglich, scheint mir aber unwahrscheinlich …«

Francine brach zusammen und starrte entsetzt auf Marchal.

»Wie Sie sehen, mein teures Kind,« fuhr dieser fort, »sind Ihre Waffen für den bevorstehenden Kampf recht zerbrechlich. Es würde mich mit Bangen erfüllen, Sie in einen Prozeß mit Le Hagre verwickelt zu wissen, in einen Prozeß, den er mit allen Fristen, Vertagungen, Einsprüchen und Berufungen durch Monate, ja durch Jahre hinziehen könnte. Ich würde Ihnen raten, ihm diese Briefe, die ihm immerhin unter Umständen gefährlich werden können, zum Kaufe anzubieten. Verlangen Sie dafür, daß Ihnen Josette überlassen wird und eine Summe für ihren Unterhalt und verzichten Sie auf den Rest. Wenn es Le Hagre peinlich sein sollte, wegen Ehebruch geschieden zu werden, soll er vorgeben, daß er Ihnen den Eintritt in die gemeinsame Wohnung verweigert hat … Oder man wird schwere Beleidigungen, Tätlichkeiten konstruieren. Das alles ist dann Sache der beiderseitigen Vertreter. Die Vorsitzenden der Pariser Zivilsenate pflegen auf diese Komödien einzugehen … Verstehen Sie? Sie, Francine, müssen sich auf diesen Handel einlassen, dessen Erlös für Sie Ihre Freiheit ist.«

»Aber das ist doch sinnlos … idiotisch ..!« antwortete Frau Le Hagre.

»Es ist das Gesetz«, sagte Marchal und zuckte die Schultern.


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