Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

Für den Nachmittag war im Bureau des Senatspräsidenten die Versöhnungstagsatzung anberaumt. Gräfin Favié starrte melancholisch in den klaren Herbstmorgen, auf die Bäume des Bois, die sich rasch verfärbt hatten. Francine war von der Niedergeschlagenheit ihrer Mutter ergriffen. Seit der Szene mit Charlies Brief beobachtete sie sie mit Verwunderung und konnte sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß diese Frau, die sie bis dahin so gut zu kennen geglaubt hatte, ihr eigentlich fremd und rätselhaft geblieben war. Je mehr sie darüber nachdachte, desto unlöslicher schien ihr die Situation.

Die Vorstellung, daß ihre Mutter Charlie heiraten könnte, verursachte ihr ein leises Unbehagen. Noch unerträglicher schien ihr die Idee eines Verhältnisses; denn was sie bei anderen Frauen getadelt oder beklagt hatte, kam für ihre Mutter natürlich noch weniger in Betracht.

Wenn sich auch ihre Vernunft mit einer derartigen Schwäche abgefunden hätte, empörte sich doch ihr Schamgefühl und ihre kindliche Einstellung zu Gabriele bei dieser Annahme, wozu vielleicht auch der Umstand beitragen mochte, daß ihre eigenen Sinne dem Mysterium der Wollust spröde gegenüberstanden und es daher bis zu einem gewissen Grade verurteilten.

Immer wieder sprach sie sich die Worte vor: »Mamas Gatte«. Nein, wenn sie sich dabei Charlie vorstellte, war es ganz und gar unmöglich! »Der Geliebte meiner Mutter!« klang noch schlechter. Worte haben ihre eigene geheime Moral und geben in manchen Zusammenstellungen unerträgliche Dissonanzen … Das ging nicht. Also, was sollte geschehen? Verzichten? Sich in stummer Liebe verzehren, in jahrelangem Martyrium Gedanken und Gefühle in sich unterdrücken … Welche Qual! Ach, wie schlecht und grausam war doch das Leben!

Besorgt und verständnislos betrachtete sie ihre Mutter. Sie hatte sofort erraten, daß Frau von Favié von der Beichte kam. Aber sie las auch in ihren verstörten und traurigen Zügen, daß sie weder Erleichterung noch Frieden heimbrachte.

»Woran denkst du, liebe Mutter?«

»An Aygues-Vives«, antwortete leise eine abweisende Stimme.

Gabriele empfand Heimweh nach dem zu früh verlassenen Landaufenthalt. Wie hatte sich in den wenigen Wochen für sie und Francine alles verändert! Draußen in Aygues-Vives erstrahlte nun der Park im purpurgoldenen Farbenrausch des Oktobers. Ein Duft von reifen Früchten, von welkenden Blättern erfüllte süß und schmerzlich die Luft.

Herbst um sie, Herbst in ihr! … Charlie hatte seine Antwort. Er schwieg, so hart hatte ihn der Schlag getroffen. Dieses grausame Schweigen erfüllte sie mit Gewissensbissen und Lebensüberdruß.

Auf dem Rückwege von äußeren Bezirken der Stadt, wo sie ihre Armen besucht hatte, stand sie plötzlich vor einer unscheinbaren kleinen Kirche in Montrouge. In ihrer Verlassenheit hatte sie das Gefühl, daß sie hier Hilfe und Halt finden würde. Sie wollte dem erstbesten Priester, den sie traf, beichten. Vielleicht waren alle die Unglücksfälle, die sie getroffen hatten, Francines Scheidung und ihre eigene unheilvolle Leidenschaft, nichts als Prüfungen, die die Vorsehung ihr bestimmt hatte?

Sie trat in die dunkle Kirche und wartete in der Nähe des Beichtstuhles bis zwei arme Frauen ihr Platz machten. Im Zwielicht auf einem harten Betschemel kniend, sprach sie in ein holzgeschnitztes Gitter, für ein Ohr, das sie nicht sah. Ein unsichtbarer Mund antwortete ihr aus dem Dunkel streng und unerbittlich. Sie hatte sich von Gott und seiner Kirche abgewendet und durfte sich nicht wundern, sich in der Stunde der Versuchung verlassen zu sehen. Die Schwäche und Hilflosigkeit mit der sie dieser sündigen Liebe nachgegeben hatte, war die Strafe … Der Priester geißelte ihre Sünde mit so scharfen Worten, daß sie sich schließlich mit Tränen in den Augen und taumelnd erhob. Weder die erhaltene Absolution gewährte ihr Trost, noch die aufgetragene Buße: Gebete, Wiederaufnahme der vernachlässigten religiösen Pflichten, das Verbot, Charlie je wiederzusehen oder ihm zu schreiben …

Schwer atmend kam sie ins Freie, enttäuscht stellte sie fest, daß das erwartete Wunder nicht eingetreten war. Sie fühlte sich einsamer als vorher und machte sich unklare Vorwürfe, Charlie verraten zu haben. Wenn sie auch seinen Namen nicht ausdrücklich genannt hatte, hatte sie ihn doch in diesen ergebnislosen Bußgang verwickelt, dessen sie sich beinahe schämte. Und doch hatte dieser unnachsichtige Priester eigentlich recht gehabt; sie und Charlie durften der Versuchung nicht unterliegen.

Wenn Francine in diesem Moment in der Seele ihrer Mutter hätte lesen können, hätte sie sie vielleicht noch weniger verstanden aber noch mehr bemitleidet; wie traurig war die Verlassenheit dieses armen Herzens, das noch nicht zu verzichten vermochte … Die beiden Frauen konnten einander in ihrem tiefsten und geheimsten Leid nicht helfend näherkommen; die Gewohnheit, sich zurückzuhalten, die Verschiedenheit ihrer Charaktere, die Gewalt der Ereignisse, erstickte jede Vertraulichkeit.

Auch Francine fühlte sich hilflos einsam und suchte vergebens jemand, der sie verstehen, der ihr Halt gewähren könnte. Ach, ihre Mutter bedurfte selbst einer Stütze! Und an Josette konnte sie nur in Bitterkeit und Gram denken: das Schicksal dieser armen Kleinen war zu traurig! Ihre schweifenden Gedanken kehrten immer wieder zu dem einen, zu dem abwesenden Freunde zurück, zu Èparvié.

Jetzt erst hatte sie von ihrer Mutter erfahren, daß er sie einst geliebt, daß er sich um ihre Hand beworben hatte, und daß er tief verletzt in die Fremde gezogen war. Sie sah sein offenes und männliches Gesicht vor sich und konnte es kaum glauben, daß er sie geliebt hatte. Voll teilnehmender Sympathie folgte sie ihm im Geiste auf seinen gefahrvollen Wegen durch den schwarzen Erdteil. Ohne Hintergedanken wünschte sie, daß er bald und gesund heimkehren möge. Durfte sie überhaupt damit rechnen, daß er noch an sie dachte?

Die Idee, daß sie bei der Versöhnungstagsatzung ihrem Gatten entgegentreten mußte, daß ihr in Gegenwart einer Amtsperson eine Auseinandersetzung mit ihm bevorstand, war qualvoll. Sie wünschte lebhaft, daß Le Hagre nicht erscheinen möge. Hatte sie Angst? Gewiß nicht! Dazu war sie zu stolz! Aber das ungewohnte Milieu des Justizpalais, der Vorsitzende, der sie letzthin so kühl empfangen hatte und von dem doch die Entscheidung abhing, all das machte sie nervös und unsicher.

Und doch stand sie erst am Anfange des Weges! Wie schrecklich war es, daß nun ihre geheimsten Angelegenheiten öffentlich verhandelt und beurteilt werden sollten. Schon bei ihrer Vermählung hatte sie die Mitwirkung der Behörden und der Öffentlichkeit peinlich empfunden, die neugierige Menge, die sich in der Sakristei um das neuvermählte Paar gedrängt hatte … Wieviel unangenehmer war aber jetzt dieses Scheidungsverfahren, das sich vor Publikum und Advokaten in offener Verhandlung abspielen sollte. Präsident Trassier hatte ihr gesagt: »Gnädige Frau, Sie sollten in Ihrem Interesse und im Interesse Ihres Töchterchens jeden Skandal vermeiden. Glauben Sie nicht, daß Sie sich mit Ihrem Gatten friedlich auseinandersetzen können?« Ihre Antwort hatte gelautet: »Die Absichten des Herrn Le Hagre sind mir unbekannt.«

Obwohl Marchal sich dafür einsetzte und auch Herbelot nachträglich dazu riet, obwohl die de Guertes ihre freundschaftliche Vermittlung angeboten hatten, konnte sie sich nicht entschließen, die schnelle und geräuschlose Durchführung einer einverständlichen Scheidung dadurch zu erreichen, daß sie Josette als Tauschobjekt gebrauchte und sich damit abfand, die Hälfte ihres Vermögens zu opfern. Ihr Stolz, ihr Rechtsgefühl, ihr Glaube an die Gerechtigkeit ihrer Sache bäumte sich gegen einen derartigen Handel auf. Sie wollte ihr Recht, nichts als ihr Recht, aber das bedingungslos!

»Sie dürfen nicht nachgeben!« rief Oberst Morland, und seine Frau fügte hinzu: »Sie werden sich mit diesem Menschen doch nicht in Verhandlungen einlassen, da müßte er ja glauben, daß Sie sich im Unrecht fühlen!«

Es klopfte. Der alte Jean meldete betreten, daß Frau Le Hagre die Damen zu sprechen wünsche.

»Lassen Sie sie eintreten«, sagte Gräfin Favié und fragte Francine, ob sie mit ihrer Schwiegermutter allein sprechen wolle.

»Nein, ich bitte dich, bleibe!« rief Francine lebhaft.

Die alte Dame trat steif ein. Aus ihrem großen blassen Gesicht sahen würdevoll und mißbilligend kalte Augen. Sie heftete einen langen Blick auf Francine.

»Sag mir doch, daß es nicht wahr ist, mein Kind!« stieß sie hervor.

Ihr Sohn hatte ihr seine Verfehlungen sorgfältig verheimlicht oder wenigstens in freundlicherem Lichte dargestellt und sie hielt sich für verpflichtet, persönlich einen Versuch zur Versöhnung der jungen Ehegatten zu machen. Ihre christliche Nächstenliebe hielt sie nicht davon ab, einen Teil der Verantwortlichkeit Francine zuzuschreiben, deren hochfahrender Charakter sie immer chokiert hatte. In ihrer spießbürgerlichen Scheu vor Skandal hatte sie der jungen Frau den aufsehenerregenden Bruch nicht verziehen und die Entführung Josettes empfand sie in ihrem Großmutterherzen wie einen an ihr verübten Raub. Ihre Strenggläubigkeit betrachtete die Ehe als unlöslich und Francines Benehmen als ein schweres Vergehen gegen die ehelichen Pflichten. Die Scheidung hielt sie für einen durchaus verdammenswerten Akt.

Ergriffener als sie scheinen wollte hatte sie Platz genommen.

»Vor allem: wie geht es Josette? Ich hoffe, daß das arme Kind durch die plötzliche Ortsveränderung nicht erkrankt ist … Francine, du hast keine Ahnung, wie weh du deinem Gatten getan hast … Er ist ganz gebrochen! Mißverständnisse können in jeder Ehe vorkommen. Aber er liebt dich doch! Wie kann man gleich so schwerwiegende Entschlüsse fassen! Liebe Gabriele, du bist dir deiner Verantwortung gewiß bewußt! Sagt mir doch ein gutes Wort! Ich komme in der freundschaftlichsten Absicht und wäre schon längst gekommen, wenn ich geglaubt hätte, daß es so ernst ist. Ich war überzeugt, daß ihr Vernunft annehmen würdet …«

Eine Pause entstand. Seufzend fragte sie:

»Sagt mir doch wenigstens, was ihr meinem Sohne vorzuwerfen habt!«

Fernand hatte ihr nichts gestanden, Lieschen hatte ihre Unschuld beteuert. Celine, das Stubenmädchen, wußte nicht viel zu berichten. Frau Le Hagre zog es vor, an einen Eifersuchtsanfall Francines zu glauben, statt ihrem Sohn einen Ehebruch zuzutrauen. Trotzdem war ihr ein bißchen ängstlich zu Mute, und wenn ihr ihre Schwiegertochter die Wahrheit ins Gesicht geschrien und ihr die kompromittierenden Briefe vorgelegt hätte, hätte sie ihr geglaubt. Aber Francine hatte jetzt nicht mehr den Wunsch, sie zu überzeugen. Sie hatte sich von ihrer Schwiegermutter nie verstanden, nie geliebt gefühlt, und zweifelte an ihrer gutgläubigen Unwissenheit. Sie hielt die blinde Parteilichkeit der alten Dame für Falschheit und antwortete reserviert:

»Im Scheidungsverfahren werde ich alle meine Gründe bekanntgeben.«

Frau Le Hagre wiederholte schmerzlich:

»Die Scheidung? Ach, ich weiß, daß ich nicht an deine religiösen Gefühle appellieren darf. Aber das Interesse deines Kindes! Die Achtung der Welt! Die Gefahr eines Prozesses, den du ja schließlich auch verlieren kannst! Mein Gott, um daran zu denken, müßte man doch wenigstens Beweise haben …«

»Diese Beweise kennt Herr Le Hagre viel zu gut!« warf Gräfin Favié dazwischen.

Frau Le Hagre biß sich auf die Lippen. Man verleumdete ihren Sohn; immer diese Andeutungen, diese vagen Behauptungen und nichts Greifbares! Erbittert rief sie:

»Er kennt sie nicht! In seiner Unschuld und Aufrichtigkeit hat er mir von den Verdächtigungen erzählt, denen er ausgesetzt ist, von einer aufgesprengten Schreibtischlade und gefundenen Briefschaften. Aber er hat mir die Versicherung gegeben, daß diese Briefkouverts nichts Belastendes enthielten … Anschuldigungen, meine Liebe, genügen nicht, man muß sie auch beweisen können!«

»Ich fürchte,« sagte Gräfin Favié, der die Zornesröte in die Stirne stieg, »daß die Beweise überzeugender ausfallen werden, als Sie es wünschen können …«

»Genug«, erklärte Francine. Zu ihrer Schwiegermutter gewendet fuhr sie fort:

»Erkläre mir, bitte, was du wünschest!«

»Habe ich es noch nicht gesagt? Ich kann nicht glauben, daß man sich ohne schwerwiegende Gründe, nur aus Trotz in ein derartiges Abenteuer einläßt! Fernand wird sich blutenden Herzens entschließen müssen, seine Ehre zu verteidigen. Treibe ihn nicht zum Äußersten! Um Josettes willen, um unserer aller Ehre willen vergiß, was du erduldet hast. Wenn mein Sohn Unrecht getan hat, wird er es gutzumachen wissen. Er liebt dich immer noch. Vergebt euch gegenseitig! Kehre zu ihm zurück, in dein Heim; noch ist es Zeit!«

Francine brach in nervöses Lachen aus:

»Hörst du, Mama! Mir soll verziehen werden … Heimkehr! Liebe! Vergessen! … Nein, das ist denn doch zu stark!«

Die Zumutung, sich gegenseitig zu verzeihen, schien ihr eine neue Beleidigung, die grausamste Ungerechtigkeit. Es war ihr unmöglich, die Gutgläubigkeit ihrer Schwiegermutter für echt zu halten, obwohl sie es beinahe war.

»Nun,« erwiderte Frau Le Hagre blaß und gereizt, »wenn es zum Kampfe kommt, hast du nur dir selbst Vorwürfe zu machen! Fernand, in Verzweiflung gebracht, wird sich aller gesetzlich zulässigen Mittel bedienen. Ein derartiger Prozeß kann jahrelang dauern. Und was wird aus dir werden, wenn du ihn verlierst?«

»Wer zwingt ihn, sich zu verteidigen?« rief Francine verletzt.

»Ja, kannst du denn glauben, daß ein so guter Christ wie Fernand jemals freiwillig einer Scheidung zustimmen wird? Die Ehe, Francine, ist ein geheiligtes Band und darf nicht durch eine Laune zerstört werden. Dein Mann, der dich liebt, wird niemals seine Einwilligung zu diesem Schritte geben. Du bist und bleibst vor Gott und der Welt seine Frau. Was immer ihr euch gegenseitig angetan haben möget, was immer ihr euch vorzuwerfen habt, du bist die seine und wirst es bleiben!«

»Ich und mein Geld«, höhnte Francine.

Und als ihre Schwiegermutter diese beleidigende Zumutung mit einer hoheitsvollen Geste abtat, setzte sie hinzu:

»Ich soll ihm etwas angetan haben, er hat mir etwas vorzuwerfen! Ja, träume ich denn? Möchtest du nicht die Güte haben, mir mein Unrecht kund zu tun?«

Frau Le Hagre entgegnete:

»Du warst immer eine ungehorsame Frau. Deine Irreligiosität, die Heftigkeit deines Charakters, deine verletzende Art, Szenen zu machen, und die Weigerung, deine ehelichen Pflichten zu erfüllen, haben sein Leben verbittert!«

»Danke«, sagte Francine trocken. »Schluß!«

Frau Le Hagre erhob sich.

»Ich sehe, daß du deine Entscheidung schon getroffen hast. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Mögest du es niemals bereuen …«

An der Türe blieb sie stehen und sagte:

»Ach, ich möchte Josette umarmen; drei Wochen habe ich das süße Kind nicht gesehen …«

Gräfin Favié machte eine Bewegung gegen die Türe des Kinderzimmers, aber Francine erklärte mit vor Erregung zitternder Stimme:

»Nein, bei mir nicht!«

»Gut,« seufzte Frau Le Hagre, »dann sehe ich sie bei ihrem Vater wieder. Denn er wird selbstverständlich das Kind für sich reklamieren.«


 << zurück weiter >>