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VI.

In dem Zimmer, das sie als junges Mädchen bewohnt hatte, enthüllte Francine ihrer Mutter die Vorgeschichte ihres Leides, eine lange, traurige, alltägliche Geschichte, deren Refrain immer wieder lautete:

»Ich werde mich scheiden lassen! Ich muß mich scheiden lassen!«

»Du zerreißt mir das Herz!« unterbrach sie Gabriele. »Wie gerne würde ich dir deine Schmerzen abnehmen, mein armes Kind! Aber ich muß gestehen, daß mich deine Heftigkeit fast noch mehr erschreckt als deine Verzweiflung … Kannst du den Vater deines Kindes wirklich so verachten?«

»Ich kann, ich will mich nicht mehr verstellen! Jahrelang habe ich meinen Abscheu überwunden, meinen Willen unterworfen, alles erduldet. Ich tat unrecht! Jetzt ist es aus, aus; mehr als aus!«

Gräfin Favié preßte die Hände an die Schläfen.

»Gewiß,« murmelte sie, »es ist schrecklich … Der Fall mit Lieschen …«

Dieser flagrante Ehebruch ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Lieschen … und die andern! Aber glaube nur nicht, daß ich noch eifersüchtig bin! Mich empört die Schamlosigkeit, mit der er zu leugnen versuchte! Mir, die sie auseinanderfahren gesehen hat! Mir, die die verräterischen Briefe besitzt …! Das ist zu viel!«

Gabriele unterdrückte die Antipathie, die sie gegen ihren Schwiegersohn hegte und versuchte einzulenken:

»Ich will ihn nicht verteidigen … Aber, er kann sich vielleicht noch ändern, bessern … Und die Zeit heilt alle Wunden …«

Francine wiederholte mit erhobener Stimme ihre Anschuldigungen. Jene Spuren des Betruges, die eine Frau aus kaum bemerkbaren Kleinigkeiten wittert. Ein falsches Lächeln, eine Verlegenheitsphrase, Unordnung in der Kleidung … Und dabei hatte er nicht einmal die Entschuldigung einer Neigung für sich, einer Verliebtheit – nein, er ergab sich jeder Laune, jedem schmutzigen Gelüst, jeder Gelegenheitsversuchung des Lasters …

»Ja!« schrie sie auf, da die Mutter ihr nicht glauben wollte, »ja, mit den letzten Dirnen hat er sich abgegeben! Du mußt alles wissen, mußt erfahren, daß zwischen uns seit zwei Jahren, seit ich die Gewißheit seiner Verworfenheit habe, keine Gemeinschaft mehr besteht … Ich bin nicht mehr seine Gattin! Er durfte mich nicht mehr berühren … Und wenn ich ihm treugeblieben bin, so geschah dies nicht seinetwegen, nur meinetwegen! Nicht einmal um Vergeltung zu üben, würde ich mich wegwerfen …«

Und stockend und zögernd setzte sie ihre Geständnisse fort. Wie er am Hochzeitsabend ihre Unwissenheit überrumpelt hatte, ohne sich zu gedulden, bis zärtliches Verstehen der Herzen die körperliche Vereinigung vorbereitet hätte. Wie ihr so entstandener Widerwille gegen ihn gewachsen war, als sie ihm nach der Entwöhnung Josettes noch begehrenswerter erschien. Wie ihre Entfremdung zugenommen hätte, weil er in seinem Egoismus, in seinem Geiz kein Kind mehr wünschte und sie, die das Bewußtsein ihrer Mutterschaft geweiht hatte, zu einem bloßen Gegenstand unfruchtbarer Wollust herabwürdigen wollte … Seine Begehrlichkeit, ihr Widerstand … Kämpfe und Zerwürfnisse, die das Ehebett beschmutzten, das Schlafzimmer zu einer Marterkammer machten, in die Tradition, Gesetz und Religion die Frau zwangen. Bis sie sich eines Abends eingeriegelt hatte …

»Suche nicht nach Milderungsgründen! Sag' mir nicht: Die Männer sind so! Es gibt Männer, die ihre Frauen zu lieben behaupten und die sie doch – in irgend einem unverständlichen, unbändigen sinnlichen Trieb – betrügen. Die Welt verzeiht ihnen, und auch die, denen sie weh' getan haben, verzeihen ihnen … Gewiß, das kommt vor … Aber Fernand ist nicht einmal sinnlich, nicht einmal leidenschaftlich! Ich war schön, gesund, jung … war bereit, ihn zu lieben, mich ihm anzupassen …! Nein, es ist nicht meine Schuld, wenn er mir verhaßt und widerwärtig geworden ist …«

Gräfin Favié litt unsäglich. Die rücksichtslose Offenheit ihrer Tochter verletzte ihre Schamhaftigkeit. Es schien ihr zynisch, die Wahrheit so auszusprechen, selbst wenn es die Wahrheit war … Und alles, was Francine sagte, war ja so grauenvoll richtig … Sie kannte diesen Abgrund, der sich zwischen zwei Wesen auftat, die zur innigsten Gemeinschaft bestimmt waren, die es in der Welt gibt … Die alte Wunde in ihrem eigenen Herzen begann wieder zu bluten.

Francine fuhr fort:

»Liebe kann Wunder tun, kann jedes Opfer erträglich sein lassen; aber man muß sich lieben! Und wir, wir hassen uns seit Jahren! Wir mußten uns beherrschen, um uns nicht an die Kehle zu fahren … Wenn Blicke vergiften könnten, wäre ich längst tot! Ach, der üble Geschmack im Munde, wenn ich nur an ihn denke! Es gibt keine Verständigung mehr … Es ist nicht nur diese physische Abneigung, die, weiß Gott, Grund genug wäre, alle Ehescheidungen der Welt zu rechtfertigen, sondern eine tiefe, unüberbrückbare Feindschaft aller Ideen und Gedanken! Stelle dir das nur vor: Ein lebendiges, empfindsames Gewissen, das erstickt werden soll! Ich will gar nicht von den Fragen des Geschmacks, von meinen Interessen, Neigungen und Vorurteilen sprechen … Nein, nur von meiner innersten Überzeugung – ob man sie nun Religion, Moral, Gerechtigkeitssinn oder wie immer nennen will. Dieses Hochhalten von Überzeugungen, die einem heilig sind, man mag im Sinne einer kirchlichen Religion gläubig sein oder nicht, ist ein unantastbares Gut jedes Menschen …«

Sie versuchte, so gut es ging und mit möglichster Schonung der religiösen Gefühle ihrer Mutter, zu schildern, wie sie schon als junges Mädchen ihren Kinderglauben verloren hatte und doch tief durchdrungen geblieben war von Ehrfurcht vor den großen Mysterien des Weltalls. Jede positive Religion schien ihr ein Versuch der Menschheit, das Ideal zu verwirklichen, das sich für sie in den Begriffen des Rechten, Schönen und Guten verkörperte. Es gab für sie nur eine Moral – wie es nur eine Geometrie gibt – und diese allgemein gültige Moral war der Kern aller Religionen …

Ein lauer Sommerabend besiegelte ihr Schicksal. Ein Sonnenuntergang in dem kleinen Seebad, in dem sie Fernand Le Hagre kennengelernt hatte. Der Zufall ließ ihn die Worte finden, die ihr empfängliches Mädchenherz berührten, ihre Phantasie mitrissen. Er war der erste Mann, der ihr imponierte. Seine Art, über alles abfällig zu urteilen, erschien ihr geistreich, sein wortkarges, reserviertes Benehmen ein Beweis von Persönlichkeit. Sie fand ihn anziehend und irritierend und unterschob ihm in ihrer Einbildung Eigenschaften, die er nicht besaß, und ihre eigenen Gefühle, die er nicht teilte. In dieses Ideal, das nur in ihren Illusionen bestand, verliebte sie sich. Zu Hause – zwischen einem morallosen Vater, der sie verzog, und einer Mutter, die viel zu sehr in den Traditionen der Vergangenheit befangen war, um für das selbständige Wesen eines modernen jungen Mädchens das nötige Verständnis aufzubringen – hatte sie sich nie wohl gefühlt; so hatte sie, trotz aller Hindernisse und durch den Widerspruch ihrer Mutter nur angeeifert, diese Heirat durchgesetzt.

Trotz ihrer Lauheit in Glaubenssachen hatte sie, gewohnt, jede ehrliche Überzeugung eines andern zu respektieren, die scheinbar tiefe Religiosität ihres Gatten anfangs ernst genommen und geradezu ergreifend gefunden. Aber bald mußte sie entdecken, daß nichts von wahrhaft christlichem Eifer in ihm wohnte. Scheinheilig hatte er sich – aus Angst vor den ewigen Strafen der Hölle – für seinen eigenen Gebrauch ein religiöses System zurechtgelegt, das ihn von jeder Verantwortung befreite: Der Mensch war schwach, mit der Erbsünde beladen; kein Wunder, wenn er immer wieder strauchelte … Lüge, Ehebruch, Geiz, Unzucht, Wucher und jede andere Sünde konnte durch Beichte, Absolution und Buße wieder abgewaschen, getilgt werden … Und dann ging es munter von neuem los! Dieses Mittels bediente er sich kaltblütig, wie einer ärztlichen Behandlung! Sein Gewissen war immer wieder rein! Durfte die betrogene Gattin strenger, unnachsichtiger, anspruchsvoller sein als der Herrgott selbst, dessen Verzeihung sich so einfach erschleichen ließ …?

Erschüttert hörte Gräfin Favié zu und konnte es nicht fassen.

»Nein,« murmelte sie, »es ist nicht denkbar …! Solche Menschen gibt es nicht …«

Francine hob traurig die Schultern.

»Glaube mir, Mama, daß ich nicht übertreibe … Er belügt und betrügt Gott und die Welt …«

Dann kam sie auf die Rolle zu sprechen, die ihre Schwiegermutter in ihrer Ehe gespielt hatte. Frau Le Hagre! Diese steife, beschränkte Spießbürgerin mit den falschen, grauen Locken und der Habichtsnase, in ihr Mieder und ihre Vorurteile eingeschnürt, salbungsvolle Worte von Güte und Tugend auf den Lippen, Anmaßung und Härte im Herzen, hatte bald erkannt, daß Francine keine Schwiegertochter nach ihren Wünschen war. Das freie Urteil, die Selbständigkeit der jungen Frau mißfiel ihr. Sie mischte sich in die intimsten Privatangelegenheiten, tadelte selbst Francines Lektüre und warf ihr Hochmut vor, so daß von allem Anfang an gedeihliche Beziehungen nicht entstehen konnten. Im Gegensatz zu ihrer Strenge gegen Francine fand sie alle Fehler ihres Sohnes, den sie blind und eifersüchtig liebte, verzeihlich und nicht schwerwiegend, weshalb sie in jedem Streitfall unbedingt seine Partei ergriff. So fühlte sich Francine im Hause ihres Gatten von Feinden umgeben, unterdrückt, überwacht und gequält. Nein, so konnte sie nicht weiterleben …

Gabriele schwieg, obwohl sie so viel zu sagen gehabt hätte, obwohl sie so viel auf dem Herzen hatte.

»Woran denkst du, Mama?« fragte Francine brüsk.

»Mein armes gutes Kind, was du mir da erzählst, hat mich sehr ergriffen! Zuerst glaubte ich, daß du, trotz allem, was du erduldet hast, verzeihen und vergessen könntest … Aber wenn du diesen Mann so verächtlich, so lächerlich findest – was bleibt mir da noch zu hoffen …?«

»Nichts. Mein Entschluß steht fest, für mich und Josette: ich lasse mich scheiden!«

Gräfin Favié betrachtete voll Mitleid das erregte, verwirrte Gesicht ihrer Tochter, die fiebernden Augen und den leidensvollen Zug, der sie so veränderte.

»Sag' mir nur noch das eine«, bat sie, »warum hast du dich in diesen langen Jahren mir nie anvertraut …? Ich habe es geahnt, daß du nicht glücklich bist …«

»Es war doch meine Schuld! Ich hatte ihn heiraten wollen und war zu stolz, um mich zu beklagen, meine Unüberlegtheit einzugestehen … Und ich hoffte, so lange ein Schimmer einer Hoffnung war … Ich hatte Josette und wollte mich ihr opfern! Erst als ich die Zwecklosigkeit meines Opfers erkannt hatte, als ich erkannte, daß Josette die erste wäre, die dadurch zu Schaden käme, als ich sah, daß Fernand unverbesserlich sei und als mein Abscheu nicht mehr zu überwinden war, habe ich Schluß gemacht … Und dabei bleibe ich unerschütterlich. Die bloße Idee, daß ich diesem Menschen gehört habe, als sein Weib, als seine Sache, läßt mein Blut erstarren … Was ich ihm war, werde ich keinem anderen mehr sein können, denn ihm habe ich mich zuerst gegeben, Josette ist geboren, mein Leben zerstört … Was ich auch tue, nie mehr, nie mehr wieder werde ich mich von diesem Schicksalsschlag erholen … Das Beste in mir ist in diesen sinnlosen Qualen zugrunde gegangen …«

Francine erhob sich, unterdrückte mit aller Anstrengung das Schluchzen, das ihr wieder in die Kehle stieg und wiederholte, wilde Entschlossenheit in der Stimme:

»Ich will mich scheiden lassen!«


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