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XVI.

Wie an jedem Donnerstag hatte Francine und ihre Mutter Josette zu Le Hagre in die Rue Murillo geführt. Die Szene spielte sich immer gleichförmig ab. Wenn der Wagen vorgefahren war, stieg Gräfin Favié mit Josette aus und gab sie am Portale ab. Blaß und mit blutendem Herzen kehrte sie dann zu Francine zurück, die im Wagen mit tränenden Augen auf sie wartete. Beide Frauen hatten, wenn sie Josette ihrem Vater auslieferten, das Gefühl, etwas Böses zu vollbringen.

Sie sahen durch das schmiedeiserne Gitter die zarten Beinchen des Kindes über den Teppich hinaufsteigen, wo sie die Großmutter Le Hagre erwartete und mit offenen Armen in Empfang nahm.

»Willkommen, mein armer kleiner Liebling! Du scheinst zu frieren, natürlich deckt man dich in der Nacht nicht genügend zu! Schnell, komm, dich erwärmen. Dein guter Papa erwartet dich …«

Und Josette verschwand in der alten Wohnung, die unverändert geblieben war und in der nur die Mutter fehlte. Und Lieschen natürlich, die Le Hagre klugerweise nach Deutschland zurückexpediert hatte.

Was mochte die arme Kleine denken, wenn sie den Vater, die Großmutter, die Dienerschaft, Möbel und Spielzeug wiederfand und die große, schwarze Katze sich an ihr den Rücken rieb?

»Du siehst,« pflegte Frau Le Hagre zu sagen, »sie hat dich lieb! Alle haben dich hier lieb …«

Le Hagre und seine Mutter hatten durch Beschluß des Gerichtes Anspruch auf diesen Besuch, und das schreckliche Ergebnis dieser Teilung war, daß sie das Recht hatten, das Kind durch hinterhältige Fragen, durch mehrdeutige Reden und Zumutungen seiner Mutter zu entfremden. Es war noch ein Glück, daß Josette noch klein war und die Eindrücke nicht haften blieben. Aber in wenigen Jahren würde dies naturgemäß anders sein. Die Macht der Lüge ist groß, ihr gegenüber verblaßt hilflos die Wahrheit.

Das Traurigste war, auf dem zarten Gesichtchen des Kindes, in seinen himmelklaren Augen, wie den Schatten einer dunklen Wolke, einen nachdenklichen Ausdruck feststellen zu müssen, der bewies, daß es undeutlich empfand, zwischen den Eltern habe sich irgend etwas Böses ereignet. Was es war, konnte sie ja noch nicht verstehen. Sie hatte wohl ein oder zweimal Fragen gestellt, aber die Worte hatten für sie noch nicht dieselbe Bedeutung wie für die Erwachsenen. Sie wußte, daß ihre Mutter unglücklich war, und hörte, daß ihr Vater von sich dasselbe behauptete. Und während sie spielte, vergaß sie den Zusammenhang. Aber eine niederdrückende Erinnerung blieb in ihr zurück.

Le Hagre bestand auf der pünktlichsten Ausübung seiner Rechte. Was lag ihm daran, daß das Kind darunter litt? Francine haßte ihn beinahe, wenn sie daran dachte, und wünschte, mit ihrem Kinde an das Ende der Welt entfliehen zu können …

»Kommst du mit zu Frau de Guertes?« fragte die Gräfin Favié.

Aber Francine fühlte sich zu angegriffen und überließ ihrer Mutter den Wagen. Mit einem traurigen und hilflosen Blicke nahmen sie voneinander Abschied. Was half es ihnen, daß sie mit zärtlicher Liebe aneinander hingen; es lag doch ein Abgrund zwischen ihren Gefühlen …

Der Wagen bog um die Ecke und Francine schlug traurig und mutlos den Weg nach Hause ein.

Schon an der nächsten Straßenkreuzung hatte sie die deutliche Empfindung, daß ihr jemand folgte. Daran war schließlich nichts Ungewöhnliches; es gab viele Unverschämte! Aber nein, das war nicht die Art, in der Männer schönen Frauen nachzugehen pflegten. Der Mann, der sie verfolgte, korrekt angezogen und von unauffälligem Benehmen, war zweifellos damit betraut, ihre Wege zu beobachten. Es gab eigene Unternehmungen dieser Art. Sie lachte, aber bald gewann Widerwillen, Zorn und Scham in ihr die Oberhand. Sie selbst hatte es abgelehnt, ihren Mann überwachen zu lassen, weil sie einen derartigen Vorgang für erniedrigend betrachtet hätte. Und er schämte sich nicht! Was dachte er von ihr?

Bei der Heimkehr begrüßte sie Céline, das Dienstmädchen ihres Gatten. Ohne Josette.

»Was ist geschehen?«

»Erschrecken Sie nicht, gnädige Frau! Das kleine Fräulein ist gestürzt und hat sich den Arm ein wenig verletzt. Doktor Larive wurde geholt. Der gnädige Herr schickt mich, um Sie zu verständigen …«

Francine starrte entsetzt in das verschlossene und unaufrichtige Gesicht des Mädchens. Céline wandte sich ab.

»Die Wahrheit!« rief Francine. »Schnell die Wahrheit!«

Und das Mädchen gestand: Josette hatte sich den Arm gebrochen. Niemand konnte etwas dafür …

Francine stieß einen erstickten Schrei aus, stürmte über die Treppe und eilte an das Portal, wo in diesem Moment der Wagen ihrer Mutter hielt. Sie stieg sofort ein und befahl dem Kutscher, sie in die Rue Murillo zurückzuführen. Sie hatte nur einen Gedanken, Josette mit sich zu nehmen, sofort heimzubringen. Alles andere war nebensächlich … Die Pferde kamen nicht vom Fleck! Der Arm gebrochen! Doktor Larive besaß nicht ihr Vertrauen, schon weil er der Arzt ihres Gatten geblieben war. Wer zu Le Hagre hielt, verriet sie …

Während sie durch die Rue Beaujon fuhr, fiel ihr ein, daß Doktor Dutoil zu Hause sein könnte. Sie ließ halten und hatte das Glück, ihn auf der Stiege zu treffen. Er erklärte sich sofort bereit, mitzukommen. Ein schlichter, wackerer Mensch, ein ausgezeichneter Arzt. Er suchte sie zu trösten und versprach ihr, nach ihrem Töchterchen zu sehen und ihr gleich einen genauen Bericht zu erstatten. Sie selbst müsse natürlich unten auf ihn warten …

Francine widersprach. Wer konnte sie daran hindern, Josette zu besuchen?

»Sie selbst«, entgegnete der Arzt, »werden davon absehen. Sie kennen doch die gesetzlichen Bestimmungen? Die Gefahr, die eine wenn auch nur scheinbare Versöhnung für ihren Prozeß bedeuten würde! Wenn es möglich sein sollte, das Kind sofort zu ihnen zu bringen, werde ich in Ihrem Namen das Verlangen stellen. Sie können sich auf mich verlassen, ich habe Erfahrung in derlei traurigen Situationen …!«

»Die Mutter hat immer das Recht, ihr Kind sehen zu dürfen! Das Haus meines Gatten ist auch das meinige! Mehr als das: denn es ist mit meiner Mitgift gekauft!«

Doktor Dutoil war ernstlich gerührt.

»Ich verstehe Sie«, sagte er, »und ich beklage Sie. Aber Vorsicht schadet nicht. Ein bißchen Geduld! Ihr Anwalt, Ihr Advokat, Ihre Freunde würden Ihnen dasselbe raten wie ich.«

Francine wartete zitternd auf seine Rückkehr und zählte die Minuten. Der breite Rücken des Kutschers, der regungslos auf dem Bocke saß, verbarg ihr den Ausblick auf das Tor. Was mochte in dem Kopfe dieses Mannes vorgehen, der mit sehenden Augen und offenen Ohren ein schweigender Zeuge aller Vorgänge im Hause war?

Endlich kam Dutoil mit zorngerötetem Gesichte zurück.

»Eine einfache Fraktur. Doktor Larive hat es mir versichert. Das Kind liegt und hat keine Schmerzen. Ich wurde nicht hineingelassen, mußte mich dem formellen Widerspruch Ihres Herrn Gemahls fügen. Aber ich habe ihm meine Meinung gründlich gesagt …«

Er hielt Francine zurück, die sogleich in das Haus dringen wollte.

»Das wäre heller Wahnsinn!«

Francine ließ sich überreden, Herbelot um Rat zu fragen. Zuerst suchte sie ihn in seinem Bureau, dann in seiner Privatwohnung.

Der Anwalt war noch nicht zu Hause. Sie warteten im Salon, in den die vielfachen Geräusche einer zahlreichen und lebhaften Familie drangen. Nach einer halben Stunde entschuldigte sich Dutoil. Francine wartete allein. Nach einer weiteren halben Stunde, die Francine eine Ewigkeit schien, kam Herbelot.

Obwohl er es im allgemeinen nicht liebte, von Parteien in seinem Heim belästigt zu werden, zeigte er sich interessiert und teilnahmsvoll.

»Wir wollen versuchen Tartre zu erreichen.«

Und zu seiner Frau, die verzweifelt war, weil sie für acht Uhr eine Proszeniumsloge für Carmen in der Oper hatten, sagte er:

»Beginnt nur ruhig ohne mich zu essen!«

Tartre war nicht zu Hause. Seufzend zog Herbelot die Uhr. Gerade heute gab es bei ihm einen getrüffelten Truthahn zum Diner.

»Es liegt kein Grund zur Beunruhigung vor«, versicherte er. »Gleich morgen früh werde ich mich mit Kollegen Tartre in Verbindung setzen; er wird seinem Klienten zureden und Ihr Arzt wird zweifellos Fräulein Rosette … ach Pardon, Josette besuchen dürfen. Und Präsident Trassier wird die Überführung Ihres Töchterchens zu Ihnen ohneweiters gestatten. Wir werden im kurzen Wege eine vorläufige Entscheidung durchsetzen … Was? Trassier um diese Stunde aufsuchen? Daran ist nicht zu denken! Nein, das wäre höchst ungehörig und er würde uns nicht einmal empfangen. Warten wir bis morgen!«

»Morgen! Und wenn Josette vielleicht schwer verletzt ist, wenn sie etwa sterbend sein sollte …!«

»Verehrte Gnädige,« sprach Herbelot, »lassen Sie doch derartige Annahmen, die, Gott sei Dank, bloße Annahmen sind. Gewiß, die Sache ist peinlich. Aber Sie müssen Mut haben! Vergessen Sie nicht, daß wir kurz vor dem Ziele stehen, daß in drei Wochen Ihre Scheidung ausgesprochen und zwei Monate später durch die formelle Eintragung unwiderruflich erreicht sein wird.«

Zurück zu Doktor Dutoil. Der Rücken des Kutschers straffte sich, gehorsam und widerspruchslos, aber seine Peitsche begann nervös zu zittern. Dieses Hinundherkutschieren fing an ihn zu langweilen. Er liebte es nicht, wenn die Pferde sinnlos ermüdet wurden … Übrigens war Frau Le Hagre nicht seine Herrin. Er stand im Dienste der Gräfin Favié … Das war immerhin ein Unterschied.

Doktor Dutoil setzte sich eben zu Tisch. Er sollte sich noch einmal an Le Hagre wenden? Sich noch einmal einer Ablehnung aussetzen? Die Hilfe der Behörden in Anspruch nehmen? Mein Gott, wenn sie darauf bestand, war er auch dazu bereit. Aber dadurch würde die ganze Situation unnötigerweise verschärft, die Gegner erbittert …

Francine fühlte deutlich, daß sich sein Eifer abgekühlt hatte. Seine Erregung war verraucht … Schließlich hatte jeder sein eigenes Leben, seine eigenen Sorgen …

Nach Hause! Die Pferde fühlten, daß es dem Stalle zuging und liefen in scharfem Trab.

Gräfin Favie, die ihre Tochter in größter Aufregung erwartet hatte, erklärte, noch einen Versuch machen zu wollen. Sie selbst würde mit Le Hagre sprechen, Francine solle unten im Wagen warten.

Wieder begaben sie sich auf den Weg. Die Pferde wollten sich nicht in Bewegung setzen, mit mürrischer Miene schwang der Kutscher die Peitsche. Endlich zogen sie an.

In der Rue Murillo stieg Gräfin Favié aus, während Francine ungeduldig ihrer Rückkehr harrte. Die Gräfin bekam Josette wirklich zu sehen, der Bruch war eingerichtet, der Arm in der Schiene. Das Kind hatte ein wenig Fieber und schlief. Eine Klosterfrau war berufen worden, um die Nacht über bei ihr zu wachen. Gabriele hatte nur Frau Le Hagre gesprochen, die selbst ganz verzweifelt schien.

Francine verbrachte die Nacht schlaflos und war lange vor Herbelot in seinem Bureau.

Dieser sandte einen Angestellten mit einem Brief zu Tartre, der sofort antwortete, er werde im Laufe des Tages seinen Klienten aufsuchen und bestimmt durchsetzen, daß Doktor Dutoil das verletzte Kind besuchen dürfe.

Herbelot war zufrieden. Francine würde noch vor dem Abend über das Befinden ihres Töchterchens beruhigt sein und die Angelegenheit würde in freundschaftlicher Weise geordnet, ohne daß man es nötig hatte, den Präsidenten Trassier zu bemühen.

Der Tag war für Francine endlos und qualvoll. Die Sehnsucht, ihr Kind zu sehen, zu umarmen, zu pflegen, machte sie krank. Sie begriff nicht, daß sie sich den Anordnungen fügte, nicht rücksichtslos alles liegen und stehen ließ und an das Lager Josettes eilte.

Als gegen Abend Doktor Dutoil kam, tröstete er sie:

»Es liegt kein Grund vor,« sagte er, »daß Sie sich so aufregen. Das Kind befindet sich, den Umständen entsprechend, wohl. Die Temperatur ist noch erhöht und es ist im Interesse der kleinen Patientin unbedingt vorzuziehen, daß der Transport nicht heute vorgenommen wird. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Josette an Sie denkt; sie hat mich selbst gefragt: Wo ist Mama?«

Francine schrie auf. Ihr armer Liebling fragte nach der Mama! Diese einfachen Worte zerrissen ihr das Herz. Und dabei hatte Dutoil noch verheimlicht, daß Josette seit dem Morgen weinend immer wieder rief: Ich will Mama! Man soll Mama holen! so daß Frau Le Hagre sie nur mit der Versicherung beruhigen konnte, daß man nach Mama geschickt habe und daß sie bald kommen würde.

Francines Seele, ihr ganzer Körper sehnte sich in Schmerzen nach dem Kinde, das sie geboren. Nein, sie konnte nicht vernünftig warten, sich die Lippen blutig beißen und ihr Spitzentaschentuch nervös in Stücke reißen. Was kümmerte sie ihre Scheidung, die Freiheit und die Zukunft, Haß und Widerwillen! Alles war ihr gleichgültig. Hatte sie gegessen? Hatte sie geschlafen? Es war Nacht … Träumte sie? War sie wach?

Die Uhr schlug halb zwölf … Lautlos verließ sie ihre Wohnung und eilte auf die Straße. Nirgends ein Wagen … Nebel und Dunkelheit … Sie hatte nur ein Ziel, nur eine Idee: Ihr Kind, ihr Kind! Vielleicht verbarg man ihr irgend etwas … Fieber! Und sie hörte Josettes klagendes Stimmchen: Wo ist Mama …?

Sie stand vor dem Tore … Sie läutete. Stürmte die Stiege hinauf … Schon lag sie vor Josettes Bettchen auf den Knien und beugte sich über das fieberglühende kleine Gesicht. Steif lag der verletzte Arm in der Binde. Die Klosterfrau erhob sich erstaunt aus ihrem Fauteuil. Unten schlug das Tor, das sie offen gelassen hatte, dumpf ins Schloß, wie die Klappe einer Falle.


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