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24.
Dieses Paar

Sie sprachen erst wieder, als sie die Haltestelle der Autocars erreicht hatten. »Der erste ist vorbei«, sagten sie. »Wir hatten unsere Angelegenheiten, Balthasar mußte warten. Viel verlangt, mit neunzig Jahren noch zu warten. Auf uns, die das halbe Jahrhundert vor uns haben; verweigerten ihm aber eine halbe Stunde.«

»Hat er uns gerufen?« fragte Stephanie.

Er gab zu: »Wir haben unsere Ansicht von Balthasar gewechselt. Aber nur von ihm?«

Er dachte an sich und Melusine, an Melusine und Arthur, an den neuen Poulailler, den sie gesehen hatten.

Sie verstand. Im Gehen legte sie die Hand auf seine Schulter. »Alle sind mehr als wir meinten. Sie haben eine größere Fähigkeit zu leiden, daher lernen einige lieben.«

»Du urteilst nach uns. Aber sogar wir –.« Unwillkürlich rückte er die Schulter, die sie umfaßt hielt. Er konnte nicht hindern, daß alle seine Sinne nochmals den Weg durch das Ankleidezimmer Melusines machten. Er sah im Spiegel einen silbernen Blitz, er roch ihr Badewasser.

Stephanie, zärtlich in sein gerötetes Gesicht: »Ich weiß. Natürlich durfte ich dich nicht gehen lassen, das Frühstücksgebäck holen. Du fürchtest, mich zu betrügen. Ich fürchtete für uns, als es vorbei war.«

André: »Wird man immer fürchten müssen, was nie geschieht?« Stephanie: »Kurz vorher ängstigte uns ein Mord. Auch vorbei.« Hier atmete André auf. »Ich werde meines Lebens erst froh. Dies ist der erste heitere Tag, ganz Frühling, warm schon um sechs, blühende Bäume, zwischen ihren Ästen wird das Blau des Himmels tief. Wir blühen selbst, geliebte Frau! Mit dir zuerst existiere ich nicht flach, nicht umsonst. Ich nehme wahr, daß auch ich gelitten habe.«

»Ich liebe dich«, sprach sie gespannt in sich hinein.

Langes Schweigen, dann bemerkten beide auf einmal, daß sie gar nicht mehr warteten.

»Nicht wir, der arme Balthasar wartet, daß unser Wagen kommt.«

Darin stimmten sie überein, nur daß André behauptete, sie hätten ihn vor nichts mehr zu warnen.

»Nicht unsere Sache, es zu wissen. Wir gehen hin«, entgegnete Stephanie.

André wußte eins: »Vor Poulailler ist er sicher. Der ist gegen Nolus aufgeboten.«

»Aber hat Balthasar dir gestern gefallen?«

André, neugierig: »Gefallen, nein, bei aller seiner Weisheit, Skepsis, Nachsicht ohne Milde. Was denkst du?«

Stephanie, schneller als sie sprechen kann: »Unheimlich, er war mir unheimlich – oh! nicht, weil er tot sein wollte, vielmehr wegen seiner augenscheinlichen Lebendigkeit. Den Empfang bei der Welt zu ertragen! Was sage ich: darin mitzuwirken. Mehreres stieß ihm zu, man konnte es entmenscht nennen.«

André: »Du hast ihn erkannt, obwohl immer viel übrigbleibt. Wie kann er dir unheimlich sein.«

Stephanie: »Du begreifst nicht? Dein Großvater. Der Nächste uns beiden. Aus keinem oder ihm, sagt unser Geschick sich an.«

»Der Nächste uns beiden«, wiederholte er langsam, nach den Baumkronen den Kopf erhoben. »Dein Orakel – und du hast von ihm kein Wort bekommen.« Plötzlich küßte er sie, Stephanie griff zu, als könnte sie ihn verlieren. Sie vermied nicht, es ihn wissen zu lassen, scheute auch fremde Überraschungen nicht, wenn in dem leeren Laubgang etwas anderes sich bewegt hätte als Blätter, Lichter, frühe Schatten. Die reizenden Vogelstimmen wurden während ihres Kusses vertraulich und erstarben. Als sie voneinander abließen, erschien der Morgen ihnen unberührt und zart.

»Ich möchte umkehren«, sagte sie.

»Mich läßt du gehen? Balthasar soll vergebens auf dich gewartet haben?«

Stephanie: »Wir würden ihn erschrecken mit unseren dramatischen Gesichtern. Denn er fände uns zu sehr auf Handlung bedacht und die Stunde wenig angezeigt.«

André: »Er erschrickt nicht mehr.«

Stephanie: »Wenn aber ein Alter doch erschrickt? Wir hatten es schon befürchtet. Wir wiederholen uns, weil die Straßenbahn nicht kommt.«

»Glücklicherweise«, sagte er und wollte küssen. Da fuhr wirklich der Wagen an, geradewegs aus den Baumkronen, denn fernhin gesehen, senkten und schlossen sie sich.

Die ledernen Sitze waren aus Zeiten, als es Leder gab, daher zerschlissen; entschädigt wurde man von ihrer Anordnung in der Richtung nach vorn, mit dem Korridor dazwischen, jede Reihe zwei Sitze. »Das ist bequem«, sagte André dem Kontrolleur, als er ihm ein Trinkgeld reichte. Dies hätte er auch sonst getan, aber hätte ihn nicht angesprochen. Dafür wurde er alsbald entlohnt. »Zu bequem«, sagte der Kontrolleur. »Diese Wagen werden nicht noch einmal gebaut.«

Stephanie und André sahen einander an: sie beschlossen, auf der Strecke zu schweigen. Übrigens würde das Gepolter des Fahrzeuges ihre Stimmen zugedeckt haben, und der Verkehr war bis jetzt gering. Dies änderte sich in der Vorstadt.

Angelangt, wo sie seitwärts abzuweichen hatten, verließen sie den Wagen als einzige. Ein Automobil, das aus der gleichen Richtung kam, mußte halten, bis der car weiterfuhr. Sie erkannten keineswegs das Ding, das sie in der Nacht hinausgebracht hatte; aber der Fahrer hupte, bis sie ihn beachteten.

»Je claironne à en perdre haleine. C'est bien vous qui chantez: pourquoi me réveiller au souffle du printemps? Ihr schlaft wie Verliebte.«

»Un appointement«, gaben sie an. »Und Sie? Ihre wichtige Verabredung.«

»Ich werde nicht erwartet.«

»Wir eigentlich auch nicht.«

»Un homme averti en vaut deux, und ein nicht gewarnter keinen halben.«

»Sie sind Ihrer Sache sicher.« Denn so sah er aus: nüchtern, angespannt, ganz groß in Form.

Er mußte weiter. Im Abfahren sagte er: »Noch vor dem Lunch werden wir alle reich und glücklich sein.«

»Schade um ihn«, meinten sie, schon nach der Altstadt gewendet. »Sein Talent für das Glück war auffallend; aber er hatte sich noch nicht darauf konzentriert, reich zu werden.«

»Wir werden ihn beim Frühstück finden.« André meinte Balthasar. Wen hätte er in einer Straße, die auf einmal beschattet und einsam war, meinen sollen. Sie gingen unter überfallenden Dächern, zwischen Fenstern, die tief lagen, man hätte hineingesehen. Ein Vorhang wurde weggehoben, ein kindliches Mädchen lächelte sie an: eine Überraschung.

»Es kommt doch alles anders«, sagte Stephanie. Er fühlte bei ihr die Unruhe. »Was uns nicht gefiel«, erwiderte er, »läßt sich zusammenfassen. Es war sein grand cordon.«

Stephanie: »Das ist kein Scherz. Es machte ihn zum Ziel der Welt, es versetzte ihn in Szenen, denen er immer ausgewichen wäre.«

André: »Müde kam er aus seiner Bibliothek. Warum mußte er es anlegen?«

Stephanie: »Um doch in einem Punkt auf gleich zu kommen mit der Welt, die ihn empfing. Er wollte eitel sein wie sie. Für ihn, leider, blieb es dabei nicht.«

André: »Die Eindrücke nach längerem Totsein –.«

Stephanie dringend: »Wir werden ihn gesund und beim Frühstück finden!«

André, bedenklich: »Es war ein Diätfehler. Zu viele Menschlichkeiten auf einmal! Er war entwöhnt. Ein alter Mensch, der nicht mehr ausgeht, lächelt, glaube ich, über uns. Weh ihm, wenn er Neuigkeiten erfährt. Sein Wissen vom Menschen, das er für vollständig hielt, entweicht. Er erschrickt – und ist neunzig.«

Stephanie: »Er war weise.«

André: »War?«

Stephanie, verwirrt: »Ich wollte sagen, daß die Eindrücke, Menschlichkeiten und die ganze Wiederkehr nicht tief gehen können. Was er jedenfalls in sich aufnimmt –«

André: »Gestalten. Ja, die Gestalt geht ihm ein.«

Stephanie: »Wir selbst. Und ein Schicksal, das unsere.«

André: »Wir interessieren ihn, nicht so sehr von fern wie alle sonst.

Immer noch fern genug.«

Stephanie: »Ich hätte dasselbe gesagt, aber ganz bestimmt irren wir.

Was läßt sich behaupten über einen, der zu lange da war.«

André: »War?«

Stephanie, lebhaft: »Er kennt die Wechselfälle der Existenz aus vielen Wiederholungen. Sein Sohn Arthur, der ihn gestern stundenlang auf dem Arm hielt und umherzeigte, meinst du nicht, Arthur tue ihm wenigstens leid?«

André: »Ich habe nie bemerkt, daß er Herz für die Armen hätte.«

Stephanie: »Ich glaube es. Darum interessieren wir ihn.«

André: »Du sagst nicht, was du wirklich glaubst.«

Seit fünf Minuten begegneten sie keinem Fußgänger. Für die Wagen der Warenhäuser war noch nicht die Zeit. Aber aus dem nächsten Kellerloch stieg eine Katze, machte ihren Rücken ganz hoch und schmiegte sich an ein Bein Stephanies: so langsam gingen sie. Hierauf blieben sie stehen, wegen des zärtlichen Tieres, aber auch, weil sie dem Ziel nahe waren und vorher etwas zu vollenden hatten.

Stephanie neigte sich über die Katze, ihr Vorwand, um André nicht anzusehen.

André: »Eine Liebe wie unsere beschäftigt ihn. Das glaubst du.«

Stephanie, von unten, hebt nur das Auge: »Ein so merkwürdiges Paar wären wir?«

André: »Ein gehemmtes Paar. Stürmisch und schwach, wie er es sich denkt. Er vergleicht mit seinen einstigen Leidenschaften, besonders den versäumten. Welche wird man zum Schluß bereuen, doch nicht die ausgeschweiften? Da war gestern eine Pauline Lucca –.«

Stephanie, schiebt die Katze beiseite, nimmt seinen Arm: »Du bist ein Philosoph wie er. Es ist viel einfacher, er liebt uns.«

André: »Dich. Wenn er in meinen Jahren wäre, mein Feind wär er!«

Stephanie: »Er liebt uns, weil es sein Letztes ist vor dem Ende.«

André: »Schon nach dem Ende.«

Stephanie: »Mich hat er nicht in dem dunklen Zimmer unterhalten.«

André: »Sprach aber nur von dir. Von der Treppe, die du nie bestiegen habest und nunmehr heraufkommen werdest.«

Stephanie: »Du siehst, ich komme.«

André: »Es ist zum Lachen, daß mich schauderte.«

Stephanie: »Nimm es ernst! Als ich an dem Zimmer vorbeiging, war ich unterwegs zu Melusine. Gleichviel ob ich sie traf, ihren Wagen hätte ich auch ohne sie genommen. Du warst mit ihm, der uns liebte. Darum – darum suchte ich dich auf, als du wartetest und bereutest. Du hättest mich sonst versäumt.«

André: »Und dich niemals wiedergesehen?«

Stephanie: »Frage ihn!«

Sie lächelte ihrem Jungen Mut zu: weil er so töricht fürchten konnte, so schnell den Kopf verlor? Sie waren angelangt, der Druck seiner Hand auf ihrem Arm sagte es ihr, da hatte sie es schon erraten, dies und noch mehr. Das Haus schlug, hinsichtlich Kahlheit und Taubheit, alle seine Genossen. Kein junges Mädchen im Vorhang, keine Katze und alle Fenster verwahrt.

»Gleich werden wir drinnen sein«, sagte sie zu ihrer beider Beruhigung.

»Wenn du lieber umkehrst?« fragte er ungläubig, dennoch behielt er den bronzenen Klopfer in der Hand, ohne ihn fallen zu lassen. Stephanie, anstatt zu antworten, zog die Glocke. Sie rasselte – märchenhaft, wie André es nannte. »Aber das Klopfen reicht weiter. Es muß zu der alten Irene dringen, die es nicht hören will, oder zu ihm. Heute wird er nicht öffnen. Sein Diener Nepomuk ebensowenig.«

Stephanie bemerkte: »Alle hier scheinen das Dasein noch zu bequem zu finden. Sie machen absichtlich Geschichten.« Dies gesagt, ergriff sie Klopfer und Glocke gleichzeitig. Was sie jetzt noch gesagt hätte, André würde es nicht verstanden haben. Das ganze Lärmen war umsonst. Er hörte auf, erschöpft sahen sie einander an. Stephanie meinte, ringsum müßten an den Fenstern empörte Gesichter erscheinen.

»Nicht einmal mehr neugierige«, belehrte er sie. »Aber rufe laut hinauf: Irene! Meine Stimme kennt sie. Von deiner wird sie sich rühren lassen.«

So geschah es. Von einem Fenster der zweiten Etage wurde der hölzerne Laden vorsichtig fortgerückt, bis eine blasse Nase hervorkam.

»Irene!« rief Stephanie, bevor vielleicht der Laden wieder zuging.

»Irene, wir wollen hinein. Es ist nötig. Sie würden sich später Vorwürfe machen.«

»Nötig ist nichts, liebes Fräulein«, wurde droben recht hell und zierlich verlautet. »Er tut, wie er will, und hat mich wieder eingeschlossen. Ich weiß, Sie sind die Braut. Er sagte, Sie werden kommen.«

André meldete sich. »Irene! Wenn du es weißt und uns erwartet hast, wirf den Hausschlüssel herab!«

Das Profil im Laden wendete sich her, es senkte sich. »Sind Sie es wirklich, junger Herr?« Das Auge blieb geschlossen.

»Aber Irene! Iren, alte Freundin, bin ich seit gestern ein anderer? Die Gespenster haben ihre Schuldigkeit getan. jetzt mache ich den Lebenden, mit der Braut.«

»Die Braut bittet«, sagte sehr dringlich Stephanie.

»Ach! Ich sehe euch nicht«, wisperte das Stimmchen. »Er war kein Toter mehr, seine Lebendigkeit war schrecklich, ich hatte Angst um ihn, wollte mich nicht einsperren lassen, da zerbrach meine Brille.«

»Ganz ungewöhnlich, daß sie widerstand«, flüsterte André für Stephanie. »Sie bleibt sonst eingeschlossen, solange er es braucht.« Hinauf fragte er. »Wie lange her ist es? Hast du zu essen? Wirf doch den Hausschlüssel herab!«

»Kaffee und Brot halte ich mir für alle Fälle. Den Hausschlüssel hat er mir abgenommen, er war stark«, sagte sie stolz, obwohl mit Zittern. »Du vergißt auch die großen Riegel.«

»Da bleibt nur eins«, sagte er, diesmal für oben und unten. Oben wisperte es:

»Das Gartenhaus – wie früher, als du ein Kind warst.« Hiernach zog der alte Kopf sich zurück, in Verwirrung wie es schien, auch ein Schluchzen vermutete man.

»Sie hat mich wieder wie als Knaben du genannt. Was ist hier geschehen?«

»Wir müssen hinein« – Stephanie drückte seinen Arm, sofort beruhigte er sich. Wortlos führte er sie um das Haus; seitlich und dahinter senkten sich die Gäßchen wie Rinnsteine nach der Mitte. Sie mußten einzeln gehen, wegen des Abwassers und weil die Häuser eng standen. Nur kahle Rückseiten, und oft geborsten. Seiten, in der Höhe, ein blindes Fenster. Ein Weg für kleine Jungen und Diebe, dachte Stephanie.

Was sie aussprach: »Wir scheinen da zu sein.«

Denn es ging nicht weiter. Die Sackgasse endete bei einer Mauer im schiefen Winkel, ihn füllte ein Dickicht von Geröll und Gestrüpp, zu schweigen vom Unrat. jenseits die beschädigte Wand gehörte möglichenfalls einem Schuppen. André benutzte einige knorrige Wurzeln als Stufen, es sah nach alter Gewohnheit aus; ließ sich drüben von der Mauer und öffnete eine Pforte, so einfach war es. Die Hand im Taschentuch entfernte er die dornige Vegetation, die, wie es schien, den Eingang unauffindlich gemacht hatte, für all und jeden, vergessene Zeiten lang.

»Von vorn ist das Haus so fest und hier so ungesichert?« bemerkte sie im Ton des Zweifels. »Es ist richtig«, erwiderte er. »Komm nur!«

Ihr Zögern vor den Dornen gab ihm die Gelegenheit, die er suchte.

»Komm lieber nicht!« bat er, voll einer Angst, die sich plötzlich erklärte. Wovor? Sie könnte ihr Kleid zerreißen? »Dich allein lassen!« sagte sie ungläubig. »Das meinst du nicht ernst.«

Sie griff selbst zu, bog die spröden Zweige fort, kam auch unbeschädigt durch. »Da bin ich.« Sie lächelte. Aber wenn sie gesagt hätte: Genug! Nicht weiter! – ihr Gesicht wäre weniger erblaßt, gegen Tränen müßte es nicht kämpfen. Wortlos gestand sie ihre Furcht, sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter. Als er es später aufhob und feuchte Spuren von ihren Augen küßte, seufzte sie und fragte wie eine Erwachte: »Wo bin ich?«

Sogleich begann er zu reden, geläufig wie eingeübt. »Du wirst erstaunt sein. Du bist in dem Liebespavillon des alten Balthasar, der einmal der junge war. Sieh! der blinde Spiegel, seine gemalten Vögel glänzen auch nicht mehr, aber ein Druck von hinten, wir waren drinnen. So einfach ist das«, wiederholte er. »Nehmen wir an, ein Geizhals verwahrte sich und seinen Schatz mit Attrappen und Selbstschüssen, eine Stelle läßt er unbewacht – warum? Der Liebespavillon hat ausgedient. Er vergißt ihn.«

»Ich war auf so viel Abenteuer nicht gefaßt«, sagte sie, um sich zu ermutigen. In Wahrheit erwartete sie mehr. Wie gern ließ er ihr Zeit, sich umzusehen! Auf den Konsolen der abgerundeten Ecken standen Schüsseln mit Milch. Das Sofa, üppig vordem, jetzt mager, war von der Batterie geleerter Flaschen besetzt. Erinnerung an die Völlerei der Gespenster.

Er gab Aufschluß. »Die alte Irene benutzt es als Ablagerung. Einst aber, in ihrer Blüte, hat sie selbst sich nicht schlecht darauf ausgebreitet. Einer könnte davon melden. Wird aber nicht.« Dies leise, während er ihr folgte. Sie untersuchte die beiden Fenster. Einander gegenüber sprangen sie anmutig vor im Halbrund der ausgeblichenen Wände. Ihr Rahmen waren zierliche Säulen, umschlungen von Liebesgöttern kleinen Formats, die schweigsam ihr Alter bedauerten.

Das half weder ihnen noch der ungebetenen Betrachterin. Sie zeigte hinaus. »Ein Spaten. Etwas wie ein Grab.«

»Irene konnte ihre Katze begraben wollen – oder hat es gewollt und sie dann doch fortgeworfen. Die Frist zu trauern war abgelaufen. Die Tür interessiert dich nicht?« Sie zuckte die Achseln. »Dahinter ist eine Mauer, wenn es nicht schwarze Nacht war. Nein, nicht noch einmal!« Sie war entschieden nervös geworden.

»Fürchte dich nicht!« bat er. »Sonst muß ich den Überlegenen abgeben, es kleidet weder dich noch mich.« Er vermied alles, was sie beschützt hätte gegen angenommene Gefahren, eine hilfreiche Hand oder die Weisung: Bleibe hinter mir! Ohne ein Wort wies er sie darauf hin, wie absichtsvoll eine schmale Tribüne, ihr Abschluß die Tür, die Rundungen des Pavillons unterbrach.

»Man hält es für natürlich, scheint ganz profan ins Freie zu führen«, sagte er. Aber die Tür, die er angriff, widerstand. »So einfach ist es«, sagte diesmal Stephanie und lachte. Warum zeigte die Tür, die nirgends hinging, auf zart gelber Lackierung ein Gerippe, das eine nackte Frau umarmte? »Bühnentricks, je commence à les connaître«, bemerkte sie.

»Das begrüße ich.« Er schob eine Klappe zurück, in dem Lack voller Risse war sie nicht aufgefallen; langte hinaus, entfernte ein Hindernis. »Kinderei«, sagte er. »Ich habe mich erinnert, daß derselbe Scherz mir vor zehn Jahren Mühe machte.«

Die Tür weit offen, dahinter nichts zu sehen; er lud ein. »Du voran, bitte. Um deine Hüften hoffe ich schnell genug zu greifen, wenn du ausgleitest. Aber es ist kein Grund. Hier warten wir, bis die Dunkelheit nachläßt.« Im voraus umspannte er ihre Mitte, als wäre ein falscher Schritt zu fürchten. Langsame gelinde Küsse fühlte sie über ihren vorgestreckten Nacken hin und her schweben, kaum die Berührung, eher einen geküßten Traum.

In diesem Augenblick war Stephanie ohne Sorge, wo sie sich befinde. Undurchdringliche Hintergründe sind sonst bedrohlich, angenommen, man stände selbst in einem Überrest von Licht aus dem Gartensaal und wäre ein leichtes Ziel. Nein, ich bin an André gelehnt, fühle ihn atmen und weiß nicht, was Furcht ist. Sie scheint ein Zustand des Fleisches zu sein. Es fürchtet, solange es nicht wünscht. Der Wunsch, den wir Liebe nennen, ist stark genug, daß die Frau auf der Tür sich von dem Skelett umarmen läßt und der Mahnung nicht achtet. Ihr eigenes Fleisch wird abfallen, was sie nicht stört, sie wünscht zu sehr. Furcht ist kein Zustand des Fleisches, was begehrt.

Philosophie einer ersten Sekretärin des Präsidenten aller Konserven – dachte sie für sich. Das andere, mehr konkrete, ließ sie ihren Gefährten sagen oder, wenn er wollte, war es seinen Händen erlaubt. Er wird sie, getragen eher als geführt, sogleich wieder diesseits der zart gelben Tür haben, dann laufen die Dinge von selbst. Wer, er oder sie, wird von dem Sofa die Flaschen entfernen? Beide – um beschäftigt zu sein während der Minute, die alles verderben kann.

Sie entfernte seine Hand. »Wir sind doch nicht deshalb hier. Leider«, sagte sie ehrlich. Gerade damit änderte sie seinen Sinn. Er zeigte vorwärts in das Dunkel, das sich halbwegs gelichtet hatte. »Das aber sollte nicht sein«, murmelte er; an seinem Arm war zu fühlen, daß er erschrak.

Sie mußte ihre Augen nicht anstrengen. Sie hatte, anders beansprucht, bisher nicht Kenntnis genommen, übrigens litt der Schauplatz keinen Zweifel mehr. An seinem anderen Ende wurde eine verhältnismäßige Helligkeit durchgelassen – von der Haustür. Hier bei ihnen hing die Treppe über, eine breite, langsame Treppe, sie würde sogar ein freies Tageslicht unter ihrer Masse gedämpft haben. Stephanie wiederholte:

»Das sollte nicht sein? Daß der Schrank von der Wand gerückt ist?« Sie ging hin, er ließ sie. »Aber es ist kein Schrank. Die Mauer selbst steht offen. Dann kommen Stufen.«

»Wieder die Bühnentricks«, sagte er harmlos. »Tu commences à les connaître.« Er wahrte die vier, fünf Schritte Abstand, die sie über ihre Entdeckung beruhigen sollten. »Es lohnt sich nicht.« Das wollte gleichgültig klingen. »Ein weitläufiges altes Haus hat Keller, womöglich mehrere untereinander, und lächerlich, sie nehmen kein Ende, oder niemand kennt es.«

»Nicht einmal er selbst?« fragte sie in tieferer Stimmlage. Mezzosopran bis Contralto, hörte der Sohn Arthurs. So spricht sie, wenn sie sich mit dem Unwahrscheinlichsten abgefunden hat. Aus diesem Grund allein gab er die Vorsicht auf. Zwei Schritte anstatt vier, er war an ihrer Seite. »Wir müssen nach ihm sehen«, entschied er.

»Das wollte ich sagen.« Sie verhielt sich nicht weniger sachlich. Mit Genugtuung betonte jeder der beiden seinen gefestigten Zustand und beschloß, ihn sobald nicht aufzugeben. Er ordnete an, daß sie beginne, vor ihm herabzusteigen. Sie blieb stehen, sobald sie nicht mehr unterschied, wohin sie trat. »Was machst du noch?«

»Ich suche den Mechanismus, der Schrank muß in seine vorige Stellung zurückkehren.«

»Wozu? Du sprichst, als hättest du es gelesen.«

Ja, wozu. Weil Balthasar denselben Handgriff vornahm, an dem Nachmittag – war es gestern, wirklich gestern? –, den der betrunkene André bekanntlich vergessen hatte.

»Ja wozu«, wiederholte er. »Wenn der Wächter des Weinkellers ihn offen läßt –. Mag er nun drunten sein, oder –. Beim Frühstück«, schloß er verspätet.

»Er ist drunten«, sagte die Altstimme.

»Hast du dein Feuerzeug, Stephanie? An dieser Stelle zündete er gestern ein Lämpchen an.«

»Feuerzeug«, das Achselzucken war nicht zu sehen, er hörte es in ihrem Ton. »Ich bin mehr für ein Streichholz.«

»Versteht sich. Wie komme ich auf einen Gebrauchsartikel gesicherter Zeiten. Er selbst ist vom Streichholz niemals abgewichen. Jetzt das Lämpchen. Hier, bitte.«

Aber das Streichholz einmal angerieben, half kein hier bitte, sondern die felsigen Unregelmäßigkeiten der Wand stürzten ihre Schatten dermaßen übereinander, daß jedes Lämpchen darin verschwunden wäre. »Vielleicht habe ich es nur geträumt?« vermutete er, als das Streichholz erloschen war. Sie rieb ein zweites an, da sieh, ohne zu suchen, stieß sie auf Aladins Wunderlampe. Das sagten beide aus einem Munde.

»Was machen wir nur?« fragte er unschuldig, antwortete aber in der Weise Balthasars, falls er sie getroffen hätte. »Asseyez-vous, et reprenez courage.« Mit Geste über die weiten Räumlichkeiten hin. Die Schatten häuften sich auf allen Seiten, aber sitzt man auf Schatten?

»Du hast nicht im geringsten geträumt«, sagte die schöne Stimme: hier unter der Erde entdeckte er sie, was alles kann noch zu entdecken bleiben. Wohl klopfte ihm das Herz. Doch nicht, weil ein schlimmer Traum wahr werden wollte? Der beste Traum des ganzen Lebens war sie selbst; auf der Finsternis, die schon wieder eine Wand bildete, schwebte ihr Umriß höher oder tiefer – was er zuerst nur betrachtete, als wär es für sein Vergnügen. Auf einmal bemerkte er, daß die Quadern uneben waren, daß bei dem ersten unglücklichen Schritt ihr Fuß brechen konnte!

Er hatte das Glück, sie zu erreichen und in den Arm zu nehmen, genau an der Stelle, wo sie gegen eine vorspringende Ecke gestoßen wäre. Jetzt traf es ihn selbst, er dankte dafür laut. »Recht so. Mein liebstes Gut, caro mio ben, in das Ungewisse schicken, bis es ausrutscht!«

Er war belehrt, ernstlich hielt er sie umfaßt, nicht um ihren Körper zu berühren, sondern wegen ihres Gleichgewichtes. »Caro mio ben«, flüsterte er, »schließe die Augen, du verlierst nichts. Der Keller verengt sich von hier ab, es würde dich bedrängen. Den Moder zu riechen, kann ich dir nicht ersparen.« Pause. Gespanntes Abtasten des Weges, ein Arm ins Dunkel ausgestreckt, der andere um sie.

»Daß ich das Lämpchen nicht mitgenommen habe! Aber er selbst läßt es gewöhnlich an seinem Ort. Heute hat er es nicht einmal angezündet. Kannst du daher glauben, daß er hier vorbeigekommen ist?«

Sie überlegte wohl. Ihr Kopf ruhte gegen seine Wange, lässig genug, daß ihre Augen geschlossen sein konnten. Es wäre, zwischen Wänden, die sie nunmehr auf beiden Seiten streiften, eine unabsehbare Wanderung gewesen, und war denn zu wünschen, daß sie ende? Man weiß nicht, was folgt. Das Glück, sehr hell, nach dieser Finsternis. Wenn vielmehr die ungewisse Reise, gebettet sie an ihn, Last ohne Gewicht, Besitz durch Hingabe des Gefühls – wenn diese fragwürdige Verzögerung schon das Glück selbst gewesen wäre?

Die unmögliche Antwort war ihnen erlassen. »Halt!« sagte André. Seine freie Hand versicherte sich einer schroffen Wendung des Schachtes; die letzte, wie ihm einfiel. Als sie herum waren, lag vor ihren Füßen ein matter Schimmer. »Offen. Auch nach dem zweiten Keller, seinem feierlichen Weinkeller, hat er die Tür offen gelassen. Etwas muß geschehen sein.«

Diesmal antwortete sie: mit den Lippen berührte sie seine Schläfe. »Deine eingesenkten Schläfen!« Sie sprach es wie einen Grund, ihn zu begehren. »Lassen wir, noch einen Augenblick, den Weinkeller! Man sieht nicht.«

»Licht sickert genug von oben, vielfach gesiebt, daher gespenstisch. Aber du siehst die Fässer. Du würdest auch ihn sehen.«

»Aber ihn sieht man – noch nicht«, ergänzte sie. »Dies ist deine Treppe? Die Treppe aus deinem Traum, den ich für eine Eingebung des Weines hielt. Aus Eisen gewunden.«

»Glatt. Hinter mir standest du selbst.«

»Wo ich jetzt stehe. Nur ist es das erstemal. Was hier sonst vorgegangen sein soll, meldet deine Erzählung nicht.«

»Erinnere mich nicht! Wir saßen nie wieder in demselben Sessel. Aber der Auftritt des Intendanten kam dazwischen.«

»Dazwischen kam, daß du gewisse Erscheinungen lieber verdrängtest.«

|Er flüsterte, als würden sie gehört: »Was war denn? Nur noch das Goldstück, das ich fand.«

»Ich verstehe – beinahe«, sagte sie verhalten. Er hörte sie ihn sanft ermutigen. »Jetzt bin ich wirklich bei dir, auf der glatten Treppe. Du kannst sprechen.«

»Es war nichts.« Aber sein Ton verleugnete das unbesorgte Wort.

»Neben, eher unter einem Weinfaß fand ich das Goldstück. Er regte sich über die Maßen auf.«

»Er hat dich angegriffen?«

»Er erschreckte mich und tat mir leid. Aus Furcht, ich sei ihm hinter Geheimnisse gekommen, führte er auf: so hatte ich ihn nicht gekannt.«

»Ich fürchte, wir kennen ihn noch immer nicht. Halte mich fest auf der glatten Wendeltreppe«, verlangte sie, nur um ihn zu beschäftigen.

»Wie hast du ihn über das Goldstück beruhigt?«

»Ich legte ihm nahe, daß seine Gäste es dagelassen haben konnten. Die Annahme ist, seine Freunde kämen vom Friedhof, ihrem Aufenthalt, und nicht Schlösser noch fester Stein oder Camouflagen seien ihnen im Wege, wandelte die Lust sie an. Er war nicht in der Lage, mir Unrecht zu geben.«

»Jetzt wäre er in der Lage.«

»Seitdem er weiß, daß er niemals tot gewesen. Das Erlebnis des Toten ist ihm aufgehoben und wird nicht zweimal widerrufen.«


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