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8.
Ein Armband, oder das Ende

Was auf dem einen Empfang des Konzertagenten Arthur alles vorging, dafür brauchen andere drei. Auch dann fragt sich noch, woher sie soviel Schicksal, Zufall und Berechnung nehmen. Auf den Intendanten des Opernhauses wird vorläufig gewartet. Er verläßt eine staatliche Anstalt, für ausgesprochen heroische Remunerationen übernimmt er diese Oper auf Aktien.

Verläßt und übernimmt er endgültig? Hiervon hängen beträchtliche Beteiligungen ab, obwohl sie oft noch tiefer begründet sind: in dem kulturellen Gewissen des einen, der Neigung mehrerer, ihre Kapitalien einem höheren Zugriff zu entziehen; und auch das rote Sofa verbildlicht bekannte Motive.

Bar Geld betastet bis jetzt nur das häßliche Entlein, aber mit weniger geistreichen Mitteln haben sowohl verlockende Mädchen als auch bezaubernde Jünglinge es so gut wie im Sack. Beiseite bleibt hier die große Strategie der Arthur und Nolus. Die Antwort erfolgt vielleicht, ob ein Poulailler verdienen soll und womit. Vor ungelösten Fragen steht sogar der meisterliche Tamburini, obwohl er an Spekulationen unbeteiligt, scheinbar eine gesicherte Kraft, vor Madame Babiline steht.

Er hält sich länger als üblich an die grande dame, sie reden französisch, und er dreht dem Saal seinen Rücken zu: lauter zweckvolle Vorkehrungen. Eine Menge Leute, die ihn in Anspruch genommen und, er kennt das, banalisiert haben würden, lassen sich einschüchtern von der Fürstin, von der Sprache der beiden sowie auch, wohlverstanden, von der Krümmung zwischen den Schultern des Sängers.

Besonders hiermit rechnet er. Sie müssen an seinen, übrigens bescheidenen, Auswuchs als eine untrennbare Eigenheit und organische Begabung seiner Person gewöhnt werden. Er besitzt die Stimme und den Höcker, nie eines ohne das andere. Sie sollen später, wenn er die Bühne betreten wird, nicht lachen dürfen, da sie es vorher nicht gewagt haben! Dies erreicht er oder verfehlt seine Absicht. Erfahren und alt, hat er dem unbekannten Willen, der ihn schuf, schon lange zugestimmt.

Seine Schwäche ist, dieselbe Selbstbejahung von anderen zu verlangen – trotz Fehlschlägen, auf die er nachgerade gefaßt sein könnte. Der hohen Frau hier rät er ab, die Carmen zu singen. »Que votre Altesse garde jalousement ses rôves! Une fois sortis de votre sein, de chimères qu'ils avaient été, ils se seront fait harpies.«

Anastasia senkte die Stirn, er sah in ihren Schoß eine Träne fallen. »Maître!« hauchte sie. »Vous, dont j'attendais mon salut!« Jetzt klagte sie still, und jetzt begehrte sie auf. Sie warf ihm vor, daß sie oft und überall zu seinen Füßen gesessen habe. Er, der Vater ihrer Schimären, wolle ihr Furcht machen, daß Ungetüme mit Krallen daraus entstehen und sie zerfleischen würden? »Vous n'êtes qu'un lâche«, sagte sie stürmisch. »Vous m'annoncez tout bonnement un four noir.«

Dies leugnete er. Aber sie habe Schlimmeres zu gewärtigen als die einfache Abfuhr: einen Achtungserfolg. Die Achtung werde sich gleichmäßig erstrecken auf ihren sozialen Rang und – hier zögerte er – auf ihre Finanzkraft.

Sie begriff, was er meinte: daß sie zahlte für die Carmen. Ihr Zorn wich der Entmutigung, sie sah einen reinen Künstler. Mit der Arbeit seines Lebens hat er einiges erworben; pourvu que ça dure, bei diesen Läuften. Er besitzt in Toskana ein bescheidenes Gut, das Häuschen im Grünen, ersehnt und ausersehen von jung auf. Singt er neben ihr den José, verdoppelt er für dieses Jahr sein Einkommen. Er will es nicht, auf ihre Kosten. Er wird neben ihr nicht auftreten. Ein Edelmann!

Während er von der Fürstin widerwillig bewundert wurde, fühlte Tamburini sich rückseitig angerührt. Er zuckte, nur sehr leicht, aber ganz hatte er das kleine Erschrecken nie verlernen können. Hinter ihm in der wechselnden Menge gingen viele vorbei, darunter natürlich Kartenspieler und andere Abergläubische des Glückes. Ihnen wäre es zu schwer gefallen, einen Buckel nicht zu bestreichen.

»Manche freilich wohnen oben«, sprach der weltberühmte Sänger. »Ich habe meine Leichtigkeit, die für jeden das Höchste ist, zu bewahren, was auch immer mich niederziehen möchte.«

Der Hoheit war anzusehen, daß er bei ihr verloren hatte. Sogar die Kartenspieler hatten nunmehr beigetragen, ihr seine Person zu verleiden. Trotz meinem Achtungserfolg mit der Gage, dachte er und lächelte.

»Kompromittiert wie ich ohnehin bin –« Er verneigte sich, um zu beenden: »Wag ich zum Abschied das letzte. Sehen Sie dort die Sängerin Alice! Sie kann Viel, aber sie hat auch einen Stiernacken. Votre Altesse est fragile, même orageuse.«

Bevor der Sturm, auf den er anspielte, neu ausbrechen konnte, verschwand Tamburini. Weiterhin tauchte er aus den Leuten nochmals hervor, er schritt, als ob er tändelte. Dann war er fort.

Wer, in der Ansammlung falscher Müßiger, wo jeder mit sich vollauf zu tun hat, wer beachtet die Sängerin Alice? Ihre Person erregt Neugier um die Wette mit den Präsidenten des Wirtschaftslebens. Ihre Sorgen kümmern niemand. Pressephotographen, die auf diesen Empfang gesendet sind, nötigen den Lebenswichtigsten aller Anwesenden von seinem Sofa herbei. Das hübsche Mädchen muß er zurücklassen und, der Aufnahme wegen, in eine gestellte Unterhaltung mit der Sängerin vertieft sein. Alice hätte ihm in Wirklichkeit nur eins zu sagen: Haben Sie zufällig ein Diadem bei sich?

Hierauf würde er notwendig mit nein antworten, und die Künstlerin hätte vergeblich ihr Bedürfnis entblößt, ihrer Geltung wäre leichtfertig Abbruch getan – für lange; aber sie ist nicht jung genug, Verdunkelungen zu ertragen. Woher das echte Schmuckstück nehmen! Gleichviel welches und wo es zu tragen wäre, um die Stirn, den Hals, das Bein: nur echt sei es! Die erfolgreiche Laufbahn eines Vierteljahrhunderts bestätige das Kleinod ihr mit seinem unwiderleglichen Glanz. Wo nicht, tritt heute abend eine arme Frau auf, ersichtlich ohne Bankguthaben, daher im Niedergang und nie wieder auf dem Gipfel, wo man zackige Verträge kriegt!

Einer selbstbewußten Attraktion, gerade ihr, kann es minderwertig zu Mut werden unter so haarscharfen Umständen. Die Sängerin Alice hatte den Photographen stillzuhalten, aber Autogramme verlangten von ihr die Damen, darunter reiche, deren Gliedmaßen, eines oder mehrere, von Juwelen funkelten. Die verehrte Meisterin wagte nicht aufzublicken von der Einladungskarte, auf die sie, steil und genau, ihren Namen malte. »Kammersängerin«, schrieb sie hinzu, auch dies eine Folge des Mangels, der sie quälte. Ihren Theaterschmuck hatte sie zu Hause gelassen. Sie fühlte sich nackt oder schlimmer, zerlumpt.

Ein Zusammentreffen führte sie in Versuchung, vom Stolz und von der Ehre abzuweichen. Wenn keine mit tödlichem Ausgang, eine Anfechtung war es doch. Sie überholte Melusine und André, beide ersichtlich unterwegs nach dem Kabinett der Pompadour. Der junge Mann grüßte artig, aber befangen. Von den vier Anwärterinnen auf seine Gunst lehnte die Nummer zwei an seiner Hüfte, da mußte die Nummer eins vor ihn hintreten, wuchtig wie die rächende Statue aus der Oper. Gern hätte er ausgerufen: die Damen irren, ich bin kein Don Giovanni! Indessen wollen sie auch das nicht hören. Er überließ es ihnen, die Lage auszugleichen.

Sooft Alice und Melusine genötigt waren, einander anzureden, geschah es unter gemessenen Förmlichkeiten. Hervorgehoben wurde von beiden der Abstand, der seit ihrer verjährten Kameradschaft unüberbrückbar erweitert war. Aus dir ist nichts geworden, sagten Ton und Blick der Banquière, ich kenne deine Schulden. Die Sängerin antwortete unter einer Decke aus Schmeicheleien, wieviel erträgt davon die schöne Haut: Halte dir Lieblinge, deine Stimme ist beim Teufel! Da alles zuletzt langweilig wird, früher der Haß als der Neid, hatten sie sich schließlich gewöhnt, aneinander vorbeizusehen. Diesmal ging es nicht.

Der Triumph der reichen, aber heiseren Frau über die wohllautende arme, verletzte die angenommene Grenze bis wo man schwieg; er gebot beiden eine offene Kundgebung. Wirklich hielt Alice schroff genug an; ein Zugriff, ihre Muskeln waren die besseren, sie hätte der anderen den verirrten Jungen entrissen und ihn mitgenommen. Melusine, die es kommen sah, erhob zum Schutz ihres Eigentums den Arm mit dem bracelet. Es bedeckte ein Viertel des Gliedes, so breit war es, und funkelte übermächtig. Auch eine Künstlerin, die nicht gerade jetzt an Minderwertigkeiten leidet, kann vom Schrecken gelähmt werden. Dabei kannte Alice das Schmuckstück. Von allen, die sie begehrte, war gerade dieses ihr nicht eingefallen; wahrscheinlich reichte bis dorthin ihr Mut nicht mehr.

Um so stärker die Anfechtung. Der Gegnerin eine Szene machen, und bevor Leute sich ansammeln, der Skandal ausbricht, ihr die Wahl stellen: den Knaben oder das Armband! Das Armband, gesetzt, man leiht es ihr, ist die Rettung. Eine Liebessüchtige wird nicht zögern. Das Geschmeide geht auf Alice über, sie trägt es vor allem Volk, ihr gehört der Abend, der Vertrag, die große Zukunft.

Wie verdienstvoll! Stolz und Ehre der Künstlerin wurden fertig mit der Versuchung. André, den sie hätte lieben können, der sie hätte lieben sollen, wäre Zeuge geworden bei dem beschämenden Handel zweier Altersgenossinnen, deren jede seine Mutter hätte sein dürfen. Nein. Wenn schon Entblößungen, dann nicht diese!

Sehr merkwürdig geschah es hier, daß Melusine ungebeten ihren Vorsprung aufgab, den eroberten Unmündigen von ihrem Arm ließ, den Arm mit dem herausfordernden Glanz unauffällig fortbog. Was noch? Auf einmal beteuerte sie der Jugendfreundin ihre Bewunderung, sie sagte ihr den Aufstieg voraus, als läge der nicht hinter ihr, unwiederbringlich, und als wüßten sie es nicht beide, jede von der anderen und von sich.

Das ist es, was vorgeht. Dieselbe grausame Tatsache, die Alice richtete, Melusine bezog sie auch auf ihre eigene Person – vorübergehend, wie sich versteht; aber sie verriet die Anwandlung von Schwäche. Ihr Lob einer Zukunft, die es nicht gab, fiel naiv aus, so unsicher fühlte sie sich an diesem Punkt. Angesichts der Altersgenossin bezweifelte sie selbst ihr Glück, ihr Anrecht auf Liebe, ja, ihre leibliche Wohlerhaltenheit. Das sind furchtbare Überfälle der Wahrheit, sie müssen unverzüglich abgewiesen werden. Sehe jeder selbst zu, ich kann dir nicht helfen, diese Unterredung ist abzubrechen. Die eine nahm ihren Jüngling wieder an sich. Die andere, ohne einen Abschiedsblick für ihn noch für den dringlicher benötigten Gegenstand, machte, daß sie weiterkam.

Alsbald geriet sie an Tamburini. Endlich ein Mensch! Alice eröffnete sich ihm. Er war ergriffen von ihrer Geschichte, ihrem Vertrauen, ihrem Gram. Als einziger unter allen hätte dieser ihr beigestanden: des war sie gewiß, auch wenn er den auf Tod und Leben benötigten Gegenstand nicht in der Tasche trug.

Er sprach mit ungespieltem Leidwesen: »Was hab ich getan! Ich beleidigte Madame Babiline, die von Preziosen strotzt. Nichts zu hoffen bei der Fürstin, seit ich zu verstehen gab, daß ich neben ihr den José nicht singen werde.«

Unverzüglich erfaßte Alice, was diese Neuigkeit wert war. Sie hörte seine Beteuerungen nicht zu Ende. Schon hatte sie den Tenor verlassen: ihren schmählichen Freund Arthur holte sie bei seinem roten Frack aus der lebhaftesten Gruppe. »Ich sehe, du weißt noch nichts« begann sie kalt entschlossen.

Er übersetzte, aber sie hätte auch das Original verstanden: »Genährt im Serail, kenne ich seine Windungen.«

»Windungen«, wiederholte Alice. »Die kennst du. Nie wirst du voraussehen, wie eine gerade Natur handelt.«

»Gibt es Natur in deinen Kreisen? Gerade obendrein?«

»Genug des Geredes!« befahl sie. »Tamburini wird mit deiner zahlungsfähigen Dilettantin nicht auftreten.«

»Er ist verrückt geworden!« Aber seinen entschiedenen Ton beiseite zeigte die Miene Arthurs einen hohen Grad von Verwirrung. Während die Sängerin Alice sich hieran weidete, überlegte er schon, welcher Tenor zweiten Ranges den ausgeschiedenen Partner der Fürstin ersetzen solle. Sie selbst muß bleiben, zuviel Geld steht auf dem Spiel. Im Grund ein Vorteil, wenn keine erste Kraft alles kostet, was Anastasia einbringt. Wird sie sich mit einem schwächeren José begnügen? Dort setzt meine Energie ein: obwohl mein ganzer Vorrat an Festigkeit die Aufführung nicht retten kann, wenn keine einzige Rolle groß besetzt ist.

Seine Freundin war seinen Gedanken mühelos gefolgt. Endlich senkte er die Augen auf sie, da konnte sie ihre Rache kühlen und tat es mit Lauten der Herzlichkeit:

»Jetzt brauchst du mich. Bei Tamburini ist nichts zu machen, soviel begreifst du. Daher bist du im Begriff, mir die segonda donna anzubieten. Mein Lieber, das geht nicht. Auch ich habe Grundsätze – unverbrüchliche, ob es dir jemals aufgefallen ist oder nicht.«

»Aber gewiß, liebste Freundin« – seine Stimme bebte vor Verehrung. »Die Gage wird mit deinen Prinzipien Schritt halten.«

»Armer Mann!« Sie nickte schwer. »Wiegt sich wie immer in Täuschungen. Dabei wird es Zeit, daß ich dich vorbereite: auch heute abend werde ich nicht singen.«

Diesmal hätte es ihn übermannt. Der Absage des Tenors folgte eine zweite Desertion auf dem Fuß: dem Opernhaus kündigte Unheil sich an. Nun gibt es Vorbedeutungen, die nach Wahl, schlimm oder gut sind. Je mehr Schwierigkeiten einer Eröffnung und ersten Vorstellung begegnen, um so glänzender verläuft sie. Indessen die Auffassung der theaterfremden Geldgeber wird dies nicht sein. Gefahr droht, daß sie abgeschreckt werden!

Arthur öffnete den Mund, um sich rundheraus auf Bitten zu verlegen. Rechtzeitig kam die alte Freundin ihm zu Hilfe. Mit Fleiß, aber eher noch unwissentlich, führte sie die Hand an ihren qualvoll entblößten Hals. Da hatte Arthur auf einmal das wirkliche Problem mitsamt der Auflösung. Diese Frau war besessen. Ihren Erfolg, nicht allein den einzelnen, sondern ihre ganze noch übrige Laufbahn in die Waage werfen gegen ein Schmuckstück, das können wenige, nur eine außerordentliche Kraft ist das Wagnis wert.

Die Fortsetzung seiner Gedanken ließ er laut werden: »Der Schmuck, den du bald anlegen sollst, wird echt sein wie du selbst, und wird um die Üppigkeit deiner Stimme buhlen.«

»Du hattest ihn vergessen«, bemerkte sie richtig, und um sie zu versöhnen, leugnete er nicht.

Sie fragte furchtbar dringlich: »Wo ist mein verkauftes Halsband? An wessen Hals? Bei welchem Halsabschneider?«

»Es handelt sich um keine Hälse.« Auf dem Punkt, wo man war, hielt Arthur die ganze Wahrheit für geboten. »Du wirst ein Armband tragen – oh! Keines der üblichen. Dieses kommt nicht zweimal vor. Es bedeckt den halben Unterarm. Wem sie die Hand zum Kuß reicht, der muß die Augen schließen.«

»Elender!« sprach sie klangvoll; das überstandene Erlebnis vertiefte die Schönheit dieser Stimme. Sie unheimlich zu dämpfen, war auch nicht schwer: »Du willst mich an Melusine verraten.«

»Sie an dich!« behauptete er. »Wärest du die Frau, ihr das bracelet, diesen Ausbund von bracelet, niemals zurückzugeben, schweigen müßte sie auch dann. Ihre Bank, des Eindruckes bin ich gewiß, steht und fällt mit dem Opernhaus. Das heißt: mit dir.«

»Ein Frauenkenner willst du sein?« fragte Alice, herb und hart, aber die Tränen waren nahe, und er spürte es. Er wurde mild und tröstlich:

»Sie beneidet dich, ihre Stimme hätte es einst mit der deinen aufgenommen, und sie besitzt keine mehr. Du haßt sie wegen meines kleinen Sohnes. Glaube mir, eure Gefühle sind ein Nichts gegen die Macht der Tatsachen.«

Die Sängerin ließ sich erweichen, ganz unvermittelt, mehr als er wollte. »Ich zweifle an mir«, gestand sie. Das übrige kam allerdings gekürzt: »Vorhin, als ich sie mit André durch die Mitte abgehen sah, fühlte ich mich zu sehr erschüttert, um ihren Weg zu kreuzen. Sie sind beisammen in dem Kabinett der Pompadour. Ich aber soll singen.«

Arthur hatte Grund anzunehmen, daß Melusine bei André nicht glücklicher sein werde als ihre Altersgenossin Alice. Dies verschwieg er, und sprach aus, was sie ohnehin wußte: das Unglück empfiehlt sich nicht. Um jeden Preis muß man blenden, die Brust beseligt von erwiderter Liebe; muß Gesang ausströmen, die Hörer berauschen, allenfalls mit der Nothilfe durch blitzendes Edelgestein.

Der Ärmsten blieb ein Vorbehalt übrig: »Nicht dein Junge soll ihr das Armband abverlangen!«

»Für welchen Barbaren hältst du mich?« Bei sich dachte er, daß André der letzte wäre, es geliehen zu bekommen, von der einen für die andere. Den Richtigen kannte er und begab sich alsbald auf die Suche.

Er fand Poulailler im Musikzimmer, das für den Abend als Konzertsaal ausgestattet war, mit erhöhter Bühne und den breiten Reihen bequemer Sessel. Einige der trägsten Gäste saßen und schliefen. Hinter dem Podium, beim Eingang in das kleine Kabinett, hatte Poulailler seinen Posten bezogen. Die Schleife eines vergoldeten Lorbeerkranzes mit der Inschrift »Unsterblich« fiel ihm über das Gesicht.

Kaum daß Arthur ihn anredete, drückte der beiläufige Freund sich das seidene Band auf die Lippe. »Still!« flüsterte er. »Das Zarteste im Leben stört man nicht.«

»Eine Verführungsszene, wollen Sie sagen?« Arthur nahm es leicht. »Sie sehen natürlich, daß es höchstens ein Flirt ist. Der Magnet, der Sie angezogen hat –.« Arthur zuckte die Achseln.

Einmal durchschaut, machte der eleganteste Mann des heutigen Empfanges keine Umstände mehr: »Unter Brüdern ist es mehr wert als ich und Sie zusammen.«

»Das ist ein Wort«, sagte Arthur schlicht. »Da Sie gehorcht haben, kennen Sie das Liebesbedürfnis der Dame. Mein Sohn ist nicht geneigt, es zu befriedigen. Treten Sie für ihn ein! Die leihweise Erlangung des bewußten Gegenstandes liegt im Bereich Ihrer natürlichen Fähigkeiten.«

»Die mehr als natürlichen kommen auch in Frage«, verbesserte Poulailler. »Aber leihweise! Sie sagten: leihweise? Das ist zuviel verlangt. Es überschritte jede Vernunft des Himmels und der Erden.«

»Üben Sie Ihr Talent aus, wie Sie es verstehen. Ich weiß von nichts«, verfügte Arthur. »Worauf es ankommt: Alice muß sechzehn Minuten lang Glanz ausstrahlen. Liefern Sie ihr, was sie braucht! Es geht um das Ganze. Von mir bekommen Sie kein Honorar.«

»Ich bin gewohnt, mich selbst bezahlt zu machen«, sprach Poulailler, unsterblich wie sein Behang bezeugte. »Echte Fruchtbarkeit trägt in sich ihren Lohn.«

Von dem Festsaal her erschien Stephanie, in einem Schwarm beflissener Mitgiftjäger, auch reifer, die es schon lange trieben. Als sie des Herrn hinter der Schleife ansichtig wurde, kehrte sie um. Ein Blick von ihr hatte Arthur verständigt; er eilte, um sie zu befreien.

»Cocktails, die Herren?« Er gab sich täuschend die Art des Oberkellners vom French Restaurant. Sein Angebot wurde bewilligt, nur an der Bedienung scheiterte es.

»Nina!« rief er. »Was tun die vier Dummköpfe mit den weißen Zöpfen?«

»Sie streuen Puder und machen sich unbeliebt«, erklärte die kecke Person. »Ich selbst kann nicht überall sein. Der Dame Melusine und Herrn André brachte ich Getränke in das Kabinett der Pompadour.«

Reizende Grübchen bekam Nina vor Vergnügen über den Schrecken, den ihre Nachricht der jüngeren Barber bereitete.

Stephanie nahm sich zusammen, ihr Lächeln fiel kläglich aus, aber der Lakai servierte: sie fand es leichter auszutrinken, als ihrem Gefolge treffende Zurechtweisungen zu erteilen. Übrigens winkte Arthur ihr, sie möge sich nicht erst setzen. In der Nähe des Tisches entstand eine Bewegung, er führte das Mädchen geschickt hindurch.

Einer ihrer Bewerber paßte besser auf als der Rest: ein Baseballspieler von Beruf, jetzt durch die unheilbare Neigung zu verfetten, mit Erwerbslosigkeit bedroht. Arthur wußte es einzurichten, daß im Gedränge eine dritte Person ihren Ellenbogen in den Magen der sportlichen Prominenz stieß. Es ergab Weiterungen. Arthur und seine Schutzbefohlene entkamen.

»Mein Lebensretter, ein über das andere Mal!« seufzte Stephanie. Er beruhigte sie väterlich:

»Der Busch und Abgrund, denen ich Sie entreiße, sind meistens eingebildet. Mein Kind, Ihr Tun und Lassen verrät, daß Sie lieben.«

»Fragt sich nur, wen.« Sie sprach es beherrscht und kühl.

»Mag sein, auch mich – mittelbar. Sie wollen über sich bisher nicht alles wissen.« Ein erstaunliches Wort. Stephanie hielt nicht länger an sich.

»Sie stehen in dem Ruf, Arthur, das zweite Gesicht zu haben.« Vor Erstaunen, oder war es Bewunderung, nahm sie seinen Arm.

Er sagte: »Gleich werden Sie sehen, das Kabinett ist leer.« Da drückte sie den Arm.

Die Sorge, seine Angabe wahr zu machen, überließ er Poulailler. Immerhin wählte er nach dem verdächtigen Schauplatz den längsten Weg, über die Halle, dann durch die Geschäftsräume, an denen nur wenig verändert worden war, damit sie Salons glichen. Hier hatten Kartenspieler sich festgesetzt, sie blickten kaum auf. In den Nacken seiner Begleiterin flüsterte Arthur:

»Allein auf weiter Flur. Du würdest dich in dem pastellblauen Winkel zauberhaft ausnehmen.«

»Und das berühmte Kabinett?« wollte sie wissen.

»Das berüchtigte Kabinett?« wiederholte er. »Ich verstehe. Dich zieht es nach der historischen Kommode der Hetäre. Ihre Liebesbriefe liegen darin.«

»Spaßvogel! Dir hat sie keine geschrieben.« Kindlich belustigt, im Vertrauen auf den Scharfsinn ihres Begleiters vergaß Stephanie zeitweilig ihre arge Besorgnis: sie hielt sogar an. Was sie nicht sah, der Aufenthalt erleichterte ihn. Unter der Berührung ihrer unantastbaren Gestalt war ihm bewußt geworden, daß er leichtsinnig handelte.

Wer mit ihr weiterging, mußte in einem gegebenen Augenblick anlangen, und es konnte der falsche sein. Arthur hatte den Ehrgeiz der Feinfühligkeit und gefiel sich nicht schlecht in ihr. Die Brutalität, zu der er sich gleichfalls erzogen hatte, nahm seiner Fähigkeit mitzuempfinden nichts.

»Eine Bitte an deine klaren grauen Augen!« Er stand vor ihnen und blickte hinein. »Fürchtet kein schwach erhelltes, leeres Kabinett! Ihr reinen Augen glaubt mir! Ich habe nie eine Jungfrau berührt noch eine Frau, wußt ich, daß sie vermählt sei.«

Der arme Arthur bildete einen Satz mit Hilfe poetischer Erinnerungen. Selbst hiervon abgesehen, machte er sich in voller Absicht lächerlich, erreichte auch wirklich, daß sie den Mund auftat und ihn laut auslachte: die Kartenspieler sahen sich nach ihnen um.

Sein Edelmut tat ihm unendlich wohl. Jetzt war ihre letzte Furcht dahin, als erwarteten sie am Ziel der Wanderung schreckliche Entdeckungen. Zur Verlängerung der Frist führte er weiter aus, was ihm selber weh, dem Kind aber wohltun sollte:

»Du spielst mit dem Feuer, Liebling. Wollte ich sagen: O komm mit mir und sei mein Weib, einer Sechzehnjährigen bliebe trotz allem der Klang im Ohr.«

»Ich bin achtzehn«, sagte sie nett, »und ich bin glücklich hinaus über Illusionen deiner Gattung, Arthur, du sympathischer Komiker!«

Schmerzbewegt wendete er sich ab, hielt aber ihre Hand fest, damit sie noch verweile und nicht zu früh einträfe, in keinem falschen Augenblick.

Alle seine Vorsicht war begründet, und wie sehr! Melusine hatte das Kabinett der Pompadour flüchtig besichtigt, nur während der Minuten, als draußen Arthur seine Weisungen an Poulailler gab. Was hier aufgestellt war, hielt sie insgesamt für Fälschungen, besonders das echte. Ohne unnötiges Besinnen fiel sie André an die Brust.

»Das ist das einzig Merkwürdige«, sprach sie mit ihrer besten Stimme, nahezu gar nicht heiser. Dennoch fürchtete sie sein Gehör.

»Was?« fragte er und erwiderte das Entgegenkommen des schönen Körpers. »Ich kenne auf der Welt nichts weniger Merkwürdiges als mich.«

»Aber daß wir uns begegnen mußten?« Sie flüsterte ihm dringlich in das Gesicht. War er wirklich nicht zurückgezuckt?

Er sagte liebenswürdig: »Deine Bekanntschaft, prachtvolle Frau, ist ein Geschenk des Wagenverkehrs auf den Landstraßen, den ich in keiner anderen Hinsicht ergiebig finde. Ich will zugeben, daß bei Bahnfahrten die Gelegenheiten nicht dieselben sind.«

Sie griff unter sein Frackhemd und fühlte seine Brust an: »Sprich weiter! Gleichviel, was du sagst, alles heißt, daß du mein bist.«

Ihre Hand war nachgerade zutraulich, viel weiter konnte sie nicht gehen. Das siebzigjährige Kanapee wartete neben ihnen, unter ihnen. Nicht, daß sie ihn darauf niedergezogen hätte, aber sein Gefühl für Anstand belehrte ihn, daß er selber ziehen müsse. Warum nicht? dachte er. Schwül war ihm ohnedies. Aber er kannte Einwände, die er für sich behielt, und den Augenblick vorher hätte er ihnen den Namen Stephanies noch nicht gegeben. Erst als seine aufgerührten Sinne ihm ganz den Verstand verdunkeln wollten, kam ihm die Erleuchtung.

»Aber du schwankst!« bemerkte Melusine. Sie versuchte ihn loszulassen, da verlor er wirklich das Gleichgewicht. Klugerweise taumelte er nach der anderen Seite. Nahe der Tür kam er zum Stillstand. War die Mutter gestern so heiser? dachte er.

»Du willst nachsehen? Oh! Wir sind allein. Das Haus voll Menschen, uns aber übergehen sie zufällig.« Sie berief den Zufall, einen unwahrscheinlichen, zum Verwechseln ähnlich der Vorbestimmung.

Wieviel Leidenschaft in dem Zwanzigjährigen! sah Melusine. Er wäre vor mich hingestürzt, wann war das schon? Und die führende Bemühung um meine Ehre! Der Knabe wird den Schlüssel umdrehen.

Sie breitete die Arme aus. Die Schleppe ihres Glitzerkleides umwand ihre Füße. Herrlich modelliert, eine Plastik ohne Fehler, stieg sie aus dem Faltenwurf auf, in den Hüften rückwärts geneigt, die Arme weit – und keine Regung, sie wartete ganz.

Ach, wie welke Kränze häßlich rascheln! Nicht als Gleichnis, das man überhört, nein, sie rascheln wirklich, gleich jenseits der Tür in das Musikzimmer und neben ihrem offenen Spalt. Dieser wird von nerviger Manneshand erweitert, der geschmeidigste Kavalier des Abends streckt sein Tigerköpfchen hindurch. »Da bin ich«, spricht Poulailler, als käme es hier auf ihn an.

André wurde unsichtbar, in dem Maß wie der Eindringling den Türflügel über ihn legte. Der eine trat weiter vor; hinter seinem Rücken, der scheinbar keine Augen hatte, verschwand der andere beflügelten Schrittes ins Weite: zu sehr beflügelt, fand die Zurückgelassene.

»Ich habe Madame doch nicht warten lassen?« erkundigte sich der Gast.


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