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10.
Der Intendant

Der Intendant, der in jede Gesellschaft eine ungeahnte Bewegung brachte, war persönlich der ruhigste Mensch. Da niemand ihm seinen Mantel abnahm, legte er ihn über das Treppengeländer. Dies geschehen, erstieg er die Treppe still und allein. Allerdings blitzten auf seiner Brust zwei Ordenssterne, einer zur Linken, der andere rechts, und an seinem Halse hing und funkelte ein Kreuz.

Nina, die vorbeilief, erfaßte das Ereignis, schnell holte sie Arthur, und Arthur eilte. Vor einem Schweif von Zuschauern, der mit der Zeit länger wurde, umarmte er den Intendanten. Obwohl kein naher Freund, begriff der Intendant, was hier zu tun sei, und erwiderte die Vertraulichkeit.

»Exzellenz, dein Auftritt ist richtig«, sagte Arthur. Er wurde noch leiser: »Die Scheckbücher sind in den Taschen gelockert.«

Die Stimme des Intendanten trug von selbst, er strengte sie nicht an.

»Wohlhabende Greise lassen sich vermuten, denn ich sehe Scharen schöner Mädchen. Es empfiehlt sich, daß wir uns loslassen«, fügte er hinzu; aber als Entschädigung für den Kuß, den er scheute, klopfte er den Agenten auf die Schulter.

»Den Abend beschließt ein Nacktballett?« fragte er, die weißlichen Brauen hochgezogen.

Arthur konnte nur lachen mit allen, die zuhörten. Schon hatte ein Mann von Format die öffentliche Meinung für sich gewonnen. Was gefiel, war die ungezwungene Rede, bei so viel sichtbarer Auszeichnung. Die augenscheinliche Würde und fühlbare Bequemlichkeit ergaben ein angenehmes Ganzes. Auch schmeichelte es dem Publikum, daß seine »Reaktionen eskomptiert« wurden, wie es sich medizinisch-bankfachlich ausgedrückt hätte.

Wirklich verlor der Mann von der erzeugten Wirkung nichts. Mit den Augen dankte er sogar, oder aber jemand hätte geargwöhnt, daß ihr Geblinzel eine innere Unterwühltheit anzeigte. Wozu den Fall komplizieren. Wer dem Intendanten irgend beträchtlich schien, bekam einen, wenn auch schlaffen Händedruck.

Übrigens ging er nunmehr, geleitet vom Hausherrn, durch eine Menge, die sich bereitwillig teilte. So zugänglich er sich gab, Belästigungen waren verbeten. Dafür sorgte schon die Vorsicht, mit der er seinen Kopf trug. Der Schädel hoch und kahl, zarte Schläfen, eine verwaschene Tönung, alles zusammen erregte unbedingt die Vorstellung von Porzellan. Um davon abzusehen, hätte man derb sein müssen wie die Sängerin Alice, oder eingeweiht wie sie.

Bei ihr blieb er zuerst stehen. Arthur hatte ihn auf die noch wichtigeren Erscheinungen verwiesen, das vermochte über den Intendanten nichts. Sein Wahlspruch war: Wo ich sitze, ist immer oben. Sein Geheimnis hieß Demut. Man muß sie nur für sich behalten bis zu dem seltenen Augenblick, wenn einer, der sich beugt, erst richtig groß wird.

Ihren unordentlichen Gemütszustand hatte er als alter Bekannter der Sängerin gleich bemerkt. »So ist es recht«, sprach er in seiner Art, die nichts hervorhob, alles ausglich. »Du trägst dein Ordensband vom Sultan von Lahore, liebe Freundin, dergleichen Kleinigkeiten tun Wunder, du bist ganz groß in Form.«

Ihre Eröffnung, sie werde heute abend nicht singen, beantwortete er aus gesenkten Lidern. Wer weiß, sagte der Blick. Siehe aber, der Intendant setzte seine Runde fort, da fühlte Alice am Arm eine Kälte: etwas Kaltes wird herumgelegt, eine Schließe zugedrückt. Sie vermeidet, sich nach dem Urheber umzuwenden, gewiß ist er untergetaucht. Der Intendant – nun, er hat sich weiterhin eingelassen, dennoch möchte sie keinen anderen als ihn für ihren Retter halten. Auch kräftige Naturen macht er abergläubisch.

Er allein könnte den weltberühmten Tamburini in die Täuschung wiegen, als habe der Tenor einen geraden Rücken, oder als besitze auch der Intendant keinen und benötige ihn nicht: dies vermag seine stille Entschiedenheit. Indessen, sie zu mißbrauchen, liegt ihm fern.

Die Fürstin Babiline, soviel steht fest, hat an ihre Berufung, die Carmen zu singen, so unerschütterlich noch niemals geglaubt wie seit der Anrede des Intendanten. Er beugt die Schultern devot, schlägt dabei den Ton der Kameradschaft an; kein Gedanke wäre schlechter angebracht, als der Verdacht finanzieller Hintergründe. Arthur selbst vergißt sie und staunt. Anastasia wird infolge dieser Augenblicke eine erträgliche Carmen sein.

Der Intendant sprach noch manchen an, darunter ganz gleichgültige Personen, deren inständige Mienen ihm dennoch eine Besonderheit weissagten. Eine rief ohne jede Vorbereitung aus:

»Ich bin Pauline Lucca!«

Er blinzelte, hielt sie aber nicht für verrückter als üblich. »Wie geht es Fanny Elsler?« fragte er gelassen.

»Danke, gut«, war die Auskunft des ältlichen Fräuleins, das boshaft kicherte:

»Ein Mann von Ihren Kenntnissen sollte nicht bemerkt haben, daß ich meiner Tante täuschend ähnlich sehe?«

»Täuschend«, wiederholte er. »Genau ihre Lichtbildaufnahme mit Bismarck. Es war ein Vorzug der ehemaligen Badeorte, daß sie aus verschiedenen Gebieten wie Musik und Staat die Spitzen zusammenführten.«

Einer der Präsidenten, dem es Eindruck machte, daß er noch immer übergangen wurde, warf dazwischen:

»Ein Photo Hitlers im Kreise von Damen existiert gleichfalls.«

Der Intendant tat erschrocken:

»Wer außer mir kann wissen, daß Hitler sich von einer Negerakrobatin auf den Arm nehmen und in dieser Stellung knipsen ließ? Als ich das vorige Mal in Deutschland war, vernichtete jemand, den ich vorsichtshalber nicht identifiziert habe, den einzigen Abzug vor meinen Augen!« setzte er hinzu.

Hiermit war es genug, oder war schon zuviel: der Intendant tat einen schnellen Schritt hinweg von der mehr oder weniger echten Nichte und dem falsch unterrichteten Herrn, die ihn veranlaßt hatten zu plaudern. Sein Feinsinn war verletzt worden, wie man sehen konnte.

Der nächste Angriff folgte alsbald. Um sein Taktgefühl nunmehr zu achten, hatten die Umstehenden sich abgewendet, wie unabsichtlich.

Zwei Frauen, eine Tochter mit ihrer Mama, traten ihm ungehindert in den Weg. Die Mutter sagte:

»Adrienne ist so musikbegeistert.«

»Daher unbegabt«, sagte der Intendant.

Unter Tränen der Leidenschaft erinnerte das Mädchen ihn an sein Versprechen, sie auftreten zu lassen. Er entschied zart, aber fest: »Das geschah in einer Lage, auf die ich nicht zurückkommen möchte. Sie überraschten mich – mit Ihrer Mutter«, schloß er unerwartet, aber nachdrücklich. Die reifere der Frauen verschwand fluchtartig.

Die junge Sängerin wurde von ihrem Fanatismus an den Fleck gebannt. »Aber Sie haben versprochen!« rief sie.

»Dann habe ich gelogen«, sprach der Intendant und hatte nicht nötig, die Stimme zu erheben, ohnehin trug sie. Wer den Rücken gekehrt hatte, zeigte wieder sein Gesicht. Sie gaben einmütig den Frauen die Schuld. Der Intendant, hier ermesse man die Macht seiner Persönlichkeit, schritt unangefochten weiter. Er ging durch das vernichtete Mädchen hindurch, ihm war sie Luft, der Welt noch weniger. Die edle Ausnahme machte Tamburini. Er bot der Beleidigten seinen Arm an; in ihrer Verzweiflung ergriff sie ihn; und während er sie zu einem der roten Sofas geleitete, wird er stärkende, gewissermaßen religiöse Worte für sie gehabt haben, nach seiner Gewohnheit und Eigenart. Gleichviel, wie er es anfing, die Sängerin mißbilligte ihn. Ihren entsetzten Augen entnahm er, daß der Nervenanfall, den sie bis jetzt nicht gehabt hatte, nahe war. Dies eine Mal entwich er rechtzeitig.

An seine Stelle trat die junge Stephanie. Der junge André, der seine Entrüstung eher als sie beherrscht hätte, mußte mitkommen. Stephanie befahl der Verunglückten:

»Beißen Sie die Zähne zusammen! Bleibt der Mund offen, werden Sie schreien. Der Intendant, das Schwein, freut sich.«

»Aber, aber!« bat André.

Das fremde Mädchen fragte herausfordernd: »Was wollen Sie von mit? Sind Sie vom Fach?«

»Danke, nein.« Stephanie ließ ihren Zorn laut werden: »Vor mir hätte er einen Kinnhaken weg und bekäme jetzt kalte Umschläge!«

»Unverschämte Person!« erwiderte die andere. Sie sprang vom Sitz auf und zeigte die Fäuste. Ihre Gegnerin war bereit, das Handgemenge konnte anfangen. André vermittelte geschickt:

»Die Damen sprechen aneinander vorbei«, behauptete er entgegen dem Augenschein. »Mein Vater wird durchsetzen, daß Sie dem Intendanten nochmals vorsingen, Fräulein –«

»Adrienne«, ergänzte die hoffnungsvolle Künstlerin, und erklärte: »Er hat natürlich recht.« Den Intendanten meinte sie. »Damals kam es nicht dazu, daß ich ihm vorsang. Wenn die Mutter mit ihm schläft, für das Talent der Tochter beweist das zu wenig.« Sie zuckte die Achseln. Den Kopf im Nacken, von oben erinnerte sie den Sohn des Agenten:

»Mit deinem Alten machst du die Sache schleunigst glatt, mein Süßer!«

Einen siegesbewußten Blick auf Stephanie, und das gelungene Exemplar begab sich weiter fort, in einen Kreis von Kameraden, die nichts dabei fanden.

»Siehst du?« bemerkte André, und wirklich sah Stephanie, daß der Intendant, oder wer immer sich frech vermaß gegen Menschen, vor allem in ihrem armseligen Herzen mächtig war, und hätte es anders nie vermocht.

Melusine, ganz Geschäftsfrau, bildete eine gleichgestimmte Gruppe mit Arthur und Nolus. Alle drei wollten wissen, wieviel, in Zahlen ausgedrückt, der Intendant den Präsidenten wert sein werde. Bei ihnen hielt er endlich; sie umzingelten ihn. Der Eindruck kam nicht auf, als ob er sie gesucht hätte und sein Rundgang hätte zuletzt doch stattgefunden im Hinblick auf sie. Nein, sondern nur verhältnismäßig abseits ihrer eigenen Befehlsgebiete, in der Vergnügungsindustrie, entdeckten sie einen Mann ihres Geblütes und nahmen ihn in Besitz, er durfte nicht wieder verlorengehen.

Ihre schleppenden Stimmen führten möglichenfalls Millionenbeträge mit; es war ein angeregter Abend, der leichtsinnige Lärm des Völkchens ringsum löste auch diesen Herren die Zungen, vermutlich wurden sie ruhmredig. Wer als Kenner den Vorgang beobachtete, aber das taten allenfalls drei Personen, zweifelte kaum: die Überlegenen waren nicht die Fürsten der Wirtschaft, der Intendant warb um ihre Achtung nicht. Sie erstrebten die seine, so lagen die Dinge. Sie fühlten sich ihrer Majestät entkleidet seit der Viertelstunde, oder war es noch keine viertel, da der Mann sich hier konkurrenzfrei entfaltete. Man nehme seine Auszeichnungen! Wir tragen bescheidenere, wenn unsere Fräcke nicht durchaus kahl sind. Er wird Exzellenz genannt! Unter uns steht die Anrede nur einem zu. Gerade der ist diesen selben Abend in den Dienst einer Nutte getreten: als ob ein Unglücksfall der sichtbarsten Klasse vertraulich bleiben könnte. Auf dem Gesicht des lebenswichtigen Rüstungsfabrikanten erscheinen, Aug in Auge mit dem Intendanten, sowohl Angst als Unterwürfigkeit. Der Neid, den er fühlt, gelangt zu Worte, oh! nicht feindlich. Sei mein Freund! Komm auf mein Schloß mit mir! So wird es auf seiten des Kriegsindustriellen geklungen haben, gesetzt, das Gehör dafür war vorhanden.

Der Intendant kennt noch ganz andere Schlösser und ist in ihnen zu Hause. Er hat selbst von allem etwas gebaut, den kilometerlangen Palast als Nebenanlage von Schauhäusern, die mehrmals niedergerissen werden, um schließlich einer einzigen Aufführung zu dienen. Unendliches Geld, den Überfluß zweier Welten und auch ihren Mangel, seinen Anteil von allem, was den Bedürftigen vorenthalten ist, hat er verbaut, verspielt, vertan; hat Dunst gemacht; hat Kultur und Kunst gemacht, wie es sich traf, oder einfach Jux. Ganz gleich, zu verkrachen drohen immer sowohl das Ernstgemeinte wie das Scherzhafte, das manchmal das Gediegene ist.

Sieht man genau hin, ist alles verkracht, besonders der Intendant. Er wird es nicht zugeben, weder wachend noch schlafend, und ist auf seine Art im Recht. Wer vieles dem Leben abgewinnt, wird ein Großlieferant des Sterbens sein. Die Anwesenden sind hierin wohlerfahren. Sind all noch da, mit ihrem unberechenbaren Gefolge von Zusammenbrüchen und von Toten. Aber zwei strahlende Sterne auf der Brust und um den Hals das Kreuz mit dem Abzeichen der Macht, derart eröffnet einer die Parade der Sieger.

Zeremonienmeister Arthur klatschte in die Hände. »Das Konzert!« rief er. Schallend rief er: »Unseren Prominenten den Vortritt!« Aber so hervorragend sie sein mochten, ließen alle bereitwillig zu, daß an ihrer Spitze, um zwei Schritte früher als sie, der Intendant das Musikzimmer betrat.


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