Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.
Kultur, mit Ausschreitungen

Es war ein Saal. Die Wand auf seiten der Halle stand nunmehr weit offen, gleichviel ob weggeschoben, versenkt oder durch Zauber entfernt. Statt ihrer war von der Decke eine Galerie herabgelassen, man kann alles, sie reichte mit ihrer vorgeschobenen Rundung bis an die verhängte Bühne, und droben hatte das Orchester seine anschauliche Stätte. Ob aus Gründen der Raumersparnis oder weil es auffallen wollte, das Orchester schwebte. Als es jählings den atonalen Einzugsmarsch anhub mit Gerassel, Kindergequäk und süßesten Lauten mittenhinein, verirrte Herzen unter Paukenschlägen des Weltlaufes: da war keiner, der nicht hinaufsah und, mäßig erstaunt, im Dirigenten den Opernkomponisten Richard Wagner erkannte.

Warum nicht. Der Herr schüttelte das greise Haar, das Samtbarett sowie die reizbaren Schultern und Hände. Der fanatisch verschlossene Mund verdickte seine Winkel zu Knoten, die Augen blitzten, der Stab von eitel Gold befehligte die jeweiligen Einsätze der anderen großen Männer. Den Kapellmeister einmal gegeben, bestand das Orchester natürlich aus Mitgliedern wie Verdi, Berlioz und Debussy. Der zuverlässige Brahms im wallenden Bart bearbeitete das verwickeltste der Jazzinstrumente. Auf dem Flügel erging sich Chopin selbst.

»C'est bien lui. Il baille aux nues«, rief Madame Babiline. Indes er aber mit offenem Munde schlief, hämmerte er doch die Tasten trotz einem Paderewski. Bach, dem die Perücke gleich anfangs verrutscht war, zeigte in ganzer Gestalt seinen braunen, anmutig bestickten Cutaway und seine dicken weißen Waden. Das Instrument, das er spielte, soll vorzeiten die singende Säge geheißen haben. Er handhabte sie fromm, und sie lohnte es ihm. Wenn Mozart da war, versteckte er sich und seine nicht wörtlich gemeinte Heiterkeit hinter Tschaikowskij, der hochgewachsen, brennend ehrgeizig die Kesselpauke schlug, Beulen in die Becken schlug und einen Ersatz für Schellengeläute sofort zu Stücken schlug.

Dies alles nahm die eingedrungene Gesellschaft zur Kenntnis und in Besitz. Noch mehr, es gehörte ihr durch eingefleischte Überlieferung, die nach dem Gesetz der wandlungsreichen Zeitalter nachgerade ein Gesicht bekommen hatte, diesem gleich. Kultur, Kultur, sie fühlten sich zu Hause.

»Botticelli, Primavera«, warf Bankier Nolus nur hin, wie die klarste Selbstverständlichkeit. An der Harfe stand, übertrieben und daher erkennbar, die mittlere Figur des alten Gemäldes: der Behang aus Spinngewebe über dem geisternden Leib, das tief törichte Antlitz umringelt von blonden Schlangen. Da Nolus Bilder kaufte und verkaufte, beauty house nannte er seine Villa, empfing man seine Auskunft auf Treu und Glauben. Man hatte übrigens nähere Sorgen.

Mozart mitsamt den übrigen, gehaben sich oberhalb, außerhalb, ledig unserer Mängel, und sind eigentlich Übermut, bedenkt man zum Beispiel die Platzfrage. Ernst ist hier unten, neben wen du zu sitzen kommst, wie weit vorn; ob du gesehen wirst, ob du dein Eigenlob in das richtige Ohr bläst. Wohlverstanden muß die persönliche Politik aus demselben Atem wie die Schmeicheleien sein. Diese, wie dick du sie aufträgst, werden niemals verletzen, gib ihnen nur obendrein eine Wendung, als wären es dreiste Geständnisse. Ein Meister des geselligen Verkehrs, kein anderer als Poulailler, bestand seine Prüfung sogleich.

Es geschah am Anfang, im ersten Gedränge, als viele, die nach Recht und Verdienst höchstens für die äußere Halle gepaßt hätten, mit Tritten und Stößen vorwärts, bis unter die geschlossene Bühne gelangten. Später soll Arthur ihrer Herr werden, daß sie sich nur nichts einbilden! Damals, das Orchester der Unvergänglichen griff sein zweites Stück an, behauptete sich Poulailler zu Häupten eines Parketts von Edelauslese. Sein Gesicht, dem gestiefelten Kater entlehnt, berührte, wenn man wollte, die entlaubte Stirn des Rüstungsmannes. Der zweite Kahlkopf, dem Intendanten zu eigen, saß seitlich gewendet: er war soeben photographiert. Die Reihe kam an den Rüstungsmann.

»Exzellenz! Man schießt!« Poulailler hatte einen äußerst dringenden Angstruf ausgestoßen.

»Sie?« fragte der Präsident, als entdeckte er ihn. »Ich höre, daß Sie niemals schießen bei Ihren Einbrüchen.«

»Sie bedienen auch nicht eigenhändig Ihre Kanonen, auf denen dennoch die Ordnung der Welt steht«, entgegnete Poulailler vertraulich.

Gleichzeitig entließ der Bildreporter seinen Blitz. Nicht weniger gleichzeitig fühlte der gepanzerte Fabrikant von einer nervigen Hand seine Schulter umspannt.

»Also doch«, grollte er furchtbar, versuchte auch ein verspätetes Aufbäumen, aber die Hand drückte ihn nieder. »Sie haben es fertiggebracht! Haben Hand an mich gelegt und entehren mein Bildnis! In der Unterhaltung mit dem Meisterdieb Poulailler begriffen, dies wird der Titel unserer, ja unserer Aufnahme sein.« Die Wut ging bis zur Verzweiflung.

»Machen Sie sich daraus nicht mehr als nötig!« bat der gefährliche Kavalier, einfach reizend. »Im Gespräch mit einem Freund, so wird der Text heißen. Das ist für Sie unverbindlich, und mir dient es.«

»Ihren Schwindeleien«, stöhnte die mißbrauchte Autorität. »Auf das Bild hin bekommen Sie soviel Sie wollen. Ich darf es nicht einmal ableugnen.«

Hier wurde sein Quälgeist schmeichlerisch.

»Ich selbst erkläre mich bereit, der Presse eine Berichtigung zu schicken, des Sinnes, daß Sie nicht groß genug seien, Ihren Umgang nach Laune zu wählen. Wetten wir, daß sie zurückgewiesen wird? Daß niemand weder mir noch Ihnen glauben würde?«

»Es ist zu fürchten«, dies kam schwach. Ein Funkeln aus gesenkten Lidern folgte, und man wagte, als letzte Ausflucht, eine Drohung:

»Soll ich reden?«

»What about my check?« war die ganze Antwort.

»Sie sind bei mir eingebrochen«, wurde geflüstert.

»Warum so leise?« lautete die Gegenfrage. »Der herrschende Lärm sollte Eure Exzellenz ermutigen. Gespielt wird der ›Bolero‹ von Ravel und technisch vollkommen ist auch die zweite Ausschreitung, dieser wilde Kampf um die Plätze: Sie aber nennen nur im Flüsterton meinen nächtlichen Besuch Ihres Stadtpalais einen Einbruch.«

»Sie, lieber Freund –«

»Sagte ich es nicht.«

»Schweigen Sie endlich!« Dies kam vertraulich und dringend. »Was haben Sie mit mir gemacht? Sie haben Sich selbst eine lithographierte Einladung geschickt, und die Doublette mir. Sie wurden nach Gebühr empfangen. Die ersten zwei meiner Diener haben Sie niedergeschlagen, den dritten wollten Sie zwingen, Sie Arm in Arm mit mir zu knipsen.«

»Heute ist es mir gelungen«, stellte Poulailler fest. »Wäre es Ihnen lieber gewesen«, erkundigte er sich, »ich hätte Ihnen nächtlicherweise einen großen Scheck abgenötigt?«

»Natürlich ja. Dann säßen Sie jetzt, wohin Sie gehören.« Immer vertraulich.

»Natürlich nein, denn weder Sie noch ich fanden dort Platz.« Der Verbrecher sprach zu dem Kriegslieferanten von staatlichem Rang und Belang:

»Wir zieren seit heute dasselbe Bild. Die gleiche Klasse, und wenn wir klassenlos sind, der nämliche Gang vereint uns längst. Wir kennen unsere Lebenswichtigkeit, und daß keiner von uns unsterblich wäre, oder beide sind es.«

»Lieber Freund!«

»Das zweite Mal lieber Freund! Du fühlst auf deinen Freund einen Stolz, wie nur ich auf meinen.«

»Du stellst dich als Humorist heraus«, sagte der Industrielle, da er geduzt wurde und nicht um Hilfe rufen konnte. Aber ob er wollte oder nicht, öffneten sich ihm innere Weiten, ein angedeutetes Ausbreiten seiner Arme machte sich sichtbar.

»Versinke in den Boden!« rief er. »Ich werfe dir mehrere Millionen nach.«

»Das nicht. Du sprängest selbst hinterher«, entschied sein unverlierbarer Genosse. »Seitdem du es erkannt hast, geht dir das Herz auf. Die sozialen Grenzen schwanken und stürzen ein. Vor Freude bebend erkennst du dich selbst. Das erste war die Nutte. Den Rest an diesem denkwürdigen Abend gebe ich dir, gibt dir der –«

Die Brust, an die der Freund ihn zog, erstickte das Wort und fast auch Poulailler.

Der Dieb, dem nichts zu beweisen war, an der Brust des rühmlichsten Verdieners! Wer dies mit ansah, hätte den Glauben an die sittliche Weltordnung verloren. Im Fall, daß es keinen zu verlieren gab, war hier die Gelegenheit, ihn zu finden. Wer machte Gebrauch? Der »Bolero« von Ravel erreichte soeben seine motorisierte Höchstwirkung. Mehr ließ sich nicht tun mit wenigen, immer wiederholten Takten, wären sie aufgetrieben bis zum Zerspringen. Wenn das menschliche Vermögen, unersättlich wie es ist, dieselben Schläge endlos überboten ertrüge, der schönste Lärm stößt an die Grenzen der Technik und nur der Mensch hat keine.

Tschaikowskij mit seinem Schlagzeug war schon ganz verwildert, was half es ihm, was half es dem Meister mit seinem goldenen Stab, daß sie schüttelten, daß der Meister nachgerade ein ausgesprochener Schüttler, den Stab bis unter die Decke warf und ihn richtig wieder auffing. Der beleibte Bach hatte verzichtet, er wich der Gewalt und betrachtete wohltemperiert das entfesselte Parkett. Der Anblick hätte niemand gereut.

Von ihrem Schleppkleid zu Boden gezogen, war die Fürstin Anastasia für eine halbe, aber schreckliche Minute unter die Füße der Menge geraten. André, der sie hervorzog, bekam die Ohrfeige, der Dank fiel an Poulailler. Er benutzte den Umstand, um durchdringend zu rufen:

»Die Hoheit ist mißachtet, wir gehen!«

Schon umschlang er ihre Hüften, welch ein gelegener Anlaß! Vor den Augen des Publikums wird er verschwinden, wird ein Alibi besitzen für Fälle, die später eintreten könnten.

Wer es verhinderte, war wieder André. Vermittels eines Griffes, den man kennen muß, lähmte er den Arm des Ritters, machte die Dame los und beförderte sie, gegen den allgemeinen Willen und ihren eigenen, nach den Edelfauteuils der Auslese. Es brauchte Zeit. Unter den Stößen, die er statt ihrer empfing, rettete sie viele Male ihre Schleppe, die abgetrennt, nur noch an wenigen der aufgestickten Diamanten hing.

Hier blieb Spielraum für die Sache zwischen dem Intendanten und einer anderen Person von nur verhältnismäßigem Gewicht. Bankier Nolus, vorher in fehlerfreien Schuhen, trug jetzt beschädigte. Er warf auf das überwundene Gedränge ein düsteres Auge, zu dem Nächstbesten sprach er:

»Der Feind ist in der Masse.«

Sonst ohne Meinung, entschied sich Nolus für diese, den Anstoß gab seine Fußbekleidung. Was ihn im Grunde umwälzte, hätte er gerade jetzt nicht sagen können: der Nächstbeste sagte es ihm:

»Alter Gauner«, dies gab der Intendant zur Antwort und gebrauchte im weiteren das du, obwohl er Nolus sogar geschäftlich nur von fern kannte.

Wie folgt äußerte sich der Intendant, ein Mann der Rücksichten und Übereinkünfte, wo sie am Platz sind, nötigenfalls auch zur Demut bereit, und liebt sie, aber mit ihr ist vorsichtig zu verfahren:

»Alter Gauner, vergiß die Masse nicht, wenn du mit den Geldern des Opernhauses durchbrennst!«

»Wie? Was?« stammelte Nolus und tat einen Hochsprung. Der Intendant erläuterte:

»Die Masse zahlt immer, wie du weißt. Edle Spender sind ein Umweg von der Masse, deren Geld sie haben, nach den Objekten, die wieder andere sich aneignen.«

»Du vielleicht, du Tellerlecker, du Schlinggewächs!« schalt Nolus, mit tief gerötetem Hals

»Ich besorge mein Geschäft an Ort und Stelle.« Die Stimme des Intendanten trug von selbst. Nolus dagegen mußte keifen.

»Ich verreise!« Sein Gekeif überschlug sich, ein Junge in dem Wechselalter hört sich derart an. Nolus aber hatte einen schlagflüssigen Hals.

Der »Bolero« ließ sein Höchstmaß hinter sich, es geschah plötzlich, der Nervenprobe wegen vernachlässigte Dirigent Wagner die Übergänge. Um die gleiche Zeit war dem Veranstalter Arthur, unter Beistand seines trefflichen Sohnes, die Räumung des Saales von den meisten Ungehörigkeiten gelungen. Kamen noch Übergriffe vor, dann heimliche, bei denen schon wieder gelächelt wurde.

Nolus und der Intendant erkannten einander, oder angenommen, sie hätten während ihrer Szene gewußt, wer sie waren, dann täuschten sie nunmehr ein Wiedersehen vor. Händedruck, Gemurmel, Trennung beiderseits. Der Intendant erhob sich zum Empfang der Fürstin. Hinter seinem Rücken dachte Nolus: Was hat dieser Mensch. Der Intendant dachte: Ein Apoplektiker, sein Stündchen ist nahe.

Jeder versagte sich die Erklärung seines eigenen Ausbruches von Reizbarkeit. Sie hatte sich nun einmal Luft gemacht, und wahrhaftig nicht bei diesen beiden allein. Die zerrissene Schleppe der Fürstin bezeugte es. Dergleichen Abweichungen kommen vor, am einfachsten nennt man sie »irrational« und beruhigt sich deswegen. Über solche Abgründe des Widersinns hätte der lebenswichtige Kriegsindustrielle sich neigen müssen. Er tat es schwerlich. Wahrscheinlich ist, daß er seinen neuen Freund Poulailler, erholungshalber, vorerst vergaß bis auf den Namen.

Das beste wäre für den Lebenswichtigen die Selbstbesinnung gewesen. Das Weltgetriebe in Gang zu erhalten ist er nach wie vor berufen. Leider erweist sein Abgleiten sich als unaufhaltsam: er reckt den Hals, er sucht in allen Windrichtungen nach seiner Nutte. Es bleibt vergeblich, sie ist anderswo.

Während des voraufgegangenen Kampfgewühls war die hübsche Person an das häßliche Entlein geraten, die früher versäumte Auseinandersetzung wurde von Grund auf nachgeholt. Den Schaden hatte weniger die Häßliche, da keine ausgerissenen Haare sie zu ihrem Nachteil verändern konnten. Die hübsche Person hat mehr zu verlieren. Das geschwollene Auge, das die Verderberin des Präsidenten davonträgt, müßte sie ihm, menschlichem Ermessen zufolge, für den Rest des Abends verleiden.

Arthur hat es befürchtet. Als er den Konzertsaal von Ungehörigkeiten räumte, hat er mit dem ganzen Gesindel auch das reizende Geschöpf hinaus in die Halle befördert, es darf nicht weiter beschädigt werden. Er schickt André nach Nina. Hocherfreut schickt Nina ihre verkleideten Lohndiener nach Eiskübeln und leinenen Tüchern. Sie ist bemüht, das schwarz unterlaufene Auge zu kühlen, solange ihr Brotgeber noch zusieht. Andere Pflichten werden ihn abrufen, Nina darf ihrem Herzen nachgeben, sie lacht das beschämte Mädchen aus. Nicht viel, das ganze Gesindel hätte eingestimmt. Rechtzeitig erscheint Nolus.

»Man lacht nicht!« befiehlt der wuchtige Mann, seine Haare sträuben sich zur schwarzen Bürste, seine großen Hände voll schwarzer Büschel beseitigen Nina und wer sonst hinderlich wäre. Der Ausersehenen des Schicksals bietet er den Arm, gleich hiermit überzeugt er sie, daß ihre Berufung fortbesteht. Beim Abgehen, das unbedeckte Auge, wie es nun ist, der ohnmächtigen Menge zugewendet, spricht sie kühl und spröde:

»Kommt keiner mit?«

Die Kapelle spielt das Menuett aus »Manon«, bei seinen zierlichen Klängen beschritt die Ausersehene, auf Nolus gestützt, den Mittelgang. Ihre rechte Hand drückte das Tuch auf das Auge, seine linke hielt den Kübel. Allerseits verfolgte man ihren Weg mit Schweigen, aber sie fühlte: nicht zu meiner Schande verstummen die Leute, sondern mir zu Ehren. Davon wandelte sie lässiger. Ihre Linie, vorzüglich die rückwärtige, verständigte jeden, der es wollte, von ihrer unbegrenzten Gleichgültigkeit.

Die Bühne war verhangen, aber Beachtung fordert auch die gewohnte Einzelheit. Wo rollt man den Vorhang noch hinauf? Wo täuschen gemalte Schnüre und Klunker vor, daß man an ihnen ziehen könne? Das große Stück Leinwand zeigte ein konventionelles Gelage griechischer Götter mit ihren blühenden Gefährtinnen, allesamt in rosiges Licht getaucht, während silberne Wölkchen die Gruppen der Säulen umspielten. Schablone bis zur Herausforderung, aber das möchte wohl mancher, auf echten Marmorstufen und diesen schwellenden Pfühlen ruhen. Alles rührte an Kindergemüter.

Fürstin Anastasia, erste Parkettreihe links, wurde durch den Vorhang von dem Arger über ihre Schleppe abgelenkt. »Woran ermahnt mich der reizend altmodische Anblick?« fragte sie ihren Nachbarn, den Intendanten.

»Eine jugendliche Dame an nichts Erlebtes«, behauptete er. Zu seiner anderen Seite träumte eine sympathische Greisin. »Uns, an unser frühestes Sommertheater«, sagte der Intendant ihr ins Ohr.

Hier wurde derselben würdigen Dame etwas zugemutet, es ist unerhört, bis jetzt begreift ihr armer Kopf nichts. »Herr Nolus, meinen Sie wirklich?«

Es ist sein Ernst. Sie soll den Sessel räumen: eine Großmutter, die sie ist, bedeckt mit Brillanten in nicht mehr üblicher Fassung, soll aufstehen und ihren Platz abtreten. »Wem?« fragt sie unerfahren, als wäre nicht der Präsident des Konserventrustes ihr Gemahl, als hätte sie nicht einen Sohn verstoßen müssen, da er seine Geliebte heiratete, als hätte sie mit einer Tochter nicht gebrochen, seitdem die Unglückliche eine Lehrerin wurde und in unrichtiger Einstellung ihrer Gesellschaftsklasse weiter nichts verbrauchen wollte als ihr Gehalt.

Von den traurigen Neuerungen persönlich verfolgt, soll sie nunmehr weichen, wem? Einer Person, die sie nicht kennt, nicht kennen will und in der ersten Überraschung wirklich nicht unterbringt. Aber Nolus wird schamlos deutlich. Umsonst, ihm nicht zu glauben: ihr Nachbar zur rechten, kein anderer als der Gebieter der Rüstungsindustrie, macht in der Tat das Schlimmste wahr. Gewappnet, wie er nach seiner lebenswichtigen Bestimmung sein müßte, bewegt ihn dennoch der abstoßende Zustand einer Dirne, die aus Prügeleien kommt. Ihr bringt er tröstliche Worte dar, jeden Augenblick kann er selbst zum gemeinen Schauspiel herabsinken.

Schon geben sie das Spektakel dem aufmerksamen Publikum, alle, die hier vorn den sichtbarsten Raum einnehmen. Es sind eine interessante Aristokratin, ein weltbekannter Inhaber von Kreuz und Sternen, eine first lady der herrschenden Schicht, sowie der Lebenswichtige schlechthin. Ihr attraktiver Mittelpunkt: eine Nutte, die gleichgültig gegen jede Öffentlichkeit, das Tuch in den Kübel taucht. Sie veranlaßt den Bankier, das Gefäß bequemer aufzuheben, und ruhig kühlt sie ihr verquollenes Auge.

Sind dem Skandal noch Grenzen gesetzt? Die beleidigte Matrone hofft es, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Ihre beharrliche Nichtbeachtung rettet allenfalls die Lage, obwohl es bezweifelt wird. Weiter hinten würden Wetten abgeschlossen werden, nur die Zeit fehlt. Die Person, auf die es nun einmal ankommt, hat nach ihrer eigenen Meinung lange genug dagestanden. Niemand kann sagen, daß sie die Geduld verliert. Bei ihr kommt das meiste, wie es muß. Sie hat gestanden und nimmt Platz. In Ermangelung anderer Gelegenheiten läßt sie sich auf die Knie ihres Freundes nieder. Der Präsident, nun, er empfängt sie.

Die Konserven-Präsidentin, in Ohnmacht fallen war eins. Der Intendant sie auffangen, Madame Babiline ein ironisches Lorgnon auf die Dinge richten, Nolus, den Kübel wegstellen zu jeder Hilfe erbötig, dies alles gleichzeitig bildete die zweite Bewegung. Die dritte wäre die Sache der Zuschauer gewesen, sie aber rührten sich weder noch ließen sie Entrüstung merken. Sind sie in diesem Grad abgehärtet durch zerrüttete Zeitläufte? Wird hier tatsächlich eine Wette ausgetragen? Der Rangälteste einer Gesellschaft, die ihre Gipfel hochhalten sollte, wohin kommt man: er ist besetzt. Der gewölbte Körperteil, der auf ihm sitzt, reicht bis an sein Frackhemd, ein entblößter Rücken lehnt sich gegen das kahle Haupt, das er senkt.

Zu viel, oder es gibt kein Halten mehr. Die entseelte, vornehme Matrone geht in einem hin, was überstiege denn noch die sittliche Entkräftung der Welt, die einfach zusieht. Gesund und im Sinn der Lebenserhaltung zulässig ist allein, daß einer wirklich ausruft: »Zu viel! Man muß einschreiten!« Arthur übernahm es. Arthur, auf der Höhe seines Berufes, rief es nicht zu laut, aber sein »Zu viel! Man muß einschreiten!« gelangte zur Kenntnis mehrerer Personen, die ihm nachblickten, wie er den Hintergrund absuchte, wonach? Das wollten sie wissen. Ihre Neugier griff um sich. Um Zeugen zu sein wie Arthur den bärtigen Konserven-Präsidenten, sehr gegen seinen Willen aus der wimmelnden Halle zog, erhob sich, Reihe um Reihe, das ganze Parkett. Es stand fortgewendet von den unrühmlichen Vorgängen im Schoß der Elite.

Die Gefügigkeit der versammelten Leute wird schwer ermessen. Vielleicht, als sie die vordere Edelauslese nicht mehr vor Augen hatten, faßten sie schon wieder die schuldige Achtung. Wenn die Mächtigen sich bloßstellen, gebrauchen sie schließlich nur eines ihrer Vorrechte. Mit beschränkten Befugnissen wären sie vorsichtiger, und die Leute weniger geneigt, ihnen zuzusehen, abgehärtet aus Respekt, oder durch Ergebenheit schamlos, falls zwei Ungleiche einander erklären sollten.

Den Rüstungsmann kitzelte es im Nacken, er fühlte sehr wohl die gewagte Lage, und daß hinter ihm sein Ansehen eine scharfe Probe bestand. Die Schadenfreude der Leute, wer will sie leugnen, aber sie scheiterte an ihrer Unterwürfigkeit, wie seine Rückseite mit Spannung verfolgte. Als er bemerkte, daß ein neuer Vorgang die Zuschauer ablenkte, enttäuschte es ihn.

Die Gefügigkeit der Leute ist größtenteils aus ihrer Gleichgültigkeit gemacht, darüber wurde der Lebenswichtige bitter. Meine merkwürdige Kameradschaft mit Herrn Poulailler ist ihnen entgangen, dachte er unbefriedigt. Damals traten sie einander tot: ihre gewöhnliche Beschäftigung, wenn sie besser daran täten, auf unsereinen aufzupassen. Nun, sie scharren schon wieder. Entweder geht jetzt der Vorhang auf, oder diesseits wird gespielt.

Um selbst den Anfang zu machen, im Übermut der Ereignisse, nicht im eigenen, begann er den entblößten Rücken zu küssen. Wozu die Menge nackter Haut, und andererseits, ist es nötig, öffentlich davon Gebrauch zu machen?

»Wozu?« fragte die Inhaberin der duftenden Reize selbst, hob die Schultern, ihr verquollenes Auge winkte herüber, gelassen sprach sie die Tatsache aus: »Bemühe dich nicht, niemand sieht zu.«

Es ist wahr, sein bärtiger Greis machte es Arthur nicht leicht, ihn aus dem Knäuel zu wickeln. Der Konservenmann hatte sich mit der jugendlichen Bevölkerung der Halle tief eingelassen, an Hals und Arm hingen ihm schöne Fräulein, reizende Knaben, ihm war alles recht. Er sagte:

»Kinder! Bei euch hört der Präsident auf, ich bin ein Mensch. Wünscht euch etwas!«

Die Beträge, die ihm zugerufen wurden, blieben hinter seiner Begeisterung zurück. Er konnte froh sein, daß der Zudrang ihn verhinderte, sein Scheckbuch zu ziehen: er hätte sich vergessen.

Ein junges Mädchen, das er »gelöst und entzückt wie er nun war« nicht wiedererkannte, ermahnte den hohen Herrn des Konserven-Trustes:

»Herr Präsident! Das Beispiel des anderen Herrn, der heute ausgeartet ist, auf Sie trifft es nicht zu. Erinnern Sie sich bitte!«

»Ein Kuß, wieviel?« fragte der graue Bart.

»Von mir? Fragen Sie lieber, was Sie einer Sekretärin zahlen, wenn sie in Ihrem Direktionsbüro täglich sechs Stunden lang getippt hat.«

Endlich erkannte er Stephanie.

»Bist du das? Dein Gehalt ist ab morgen verdoppelt!«

»Das will ich nicht gehört haben«, war die Antwort, sie erregte Murren in weitem Umkreis.

»Spielverderberin!« sagten die Jugendlichen, die den alten Hals, die klapprigen Arme umfangen hielten. Sie gaben alles frei, in gewalttätiger Absicht gegen das unbequeme Mädchen, wie zu vermuten stand. Hier erhielt Arthur die Gelegenheit, sich des unbesonnenen Greises zu bemächtigen.

»Danke, Stephanie.«

Sie ergriff ihren Oberbefehlshaber von der anderen Seite, beide vereint, schleppten sie ihn ab, in Richtung seiner offenkundigen Pflichten, die er vernachlässigt hatte.

»Besinnen Sie sich!« riet Arthur ihm höflich.

»Auf Ihren Empfang können Sie stolz sein«, wurde ihm unsanft erwidert.

Stephanie unterrichtete ihren hohen Chef von dem Unglücksfall seiner Gemahlin, als hätte er das Ereignis nicht vor Augen gehabt.

»Sie waren anderswo befaßt«, erinnerte Arthur ihn mit Bedauern.

Der Konservenmann brummte:

»Seien Sie froh, daß ich anderswo befaßt war. Sonst hätte ich durchgreifen müssen. Ihr Skandal wäre grenzenlos.«

»Mein Skandal?«

Die unvorsichtige Frage des Veranstalters erlaubte dem beleidigten Gast, stehenzubleiben und grundsätzliche Erklärungen abzugeben. Erstens sei er gegen gesellschaftliche Vermischungen und gemischte Geselligkeit. Daher mißbillige er die persönliche Berührung mit den Künsten. »Samt und sonders wimmeln sie von sozialem Ungeziefer«, behauptete er und erhob sich rednerisch über seine gewohnte Ebene.

»Sie meinen die Nutten?« fragte Stephanie mit reiner Stirn.

»Fräulein, sind Sie –?« Der Präsident stammelte. Plötzlich fiel ihm ein, was sie sei.

»Sie sind entlassen«, bestimmte er, die Stimme mild, das Auge blitzend. Da erschrak er: man sah sich nach ihm um. Das Publikum, trotz aller Abhärtung, nahm Anstoß, es wußte nur nicht woran.

Es hatte selber zu laut geschnattert. jetzt vollführt es seinen bekannten einhelligen Ruck und will zuhören.

An Arthur war es, die Unterhaltung in das allgemeine zu retten.

»Herr Präsident! Vermeiden Sie Ihrerseits die Vermischungen, wenn ich gehorsamst gebeten haben darf. Die Konserven sind ein hervorragendes Produkt der Zivilisation. Indessen muß festgehalten werden, daß die Gesittung wesentlich eine Kunst ist. Die frühesten, mehr als triebhaften Regungen des Menschengeschlechtes kennen wir aus den Künsten. Die Konserven treten später auf, ich will sie deshalb nicht nachgeordnet nennen.«

Der versöhnliche Schluß bestimmte auch den anderen Teilnehmer des Gespräches zum Entgegenkommen.

»Tatsächlich«, gab er zu. »In meinen Betrieben lasse ich neuerdings sogar Musikplatten laufen. Die statistischen Erhebungen, ob deshalb mehr geleistet wird, schweben noch.«

Arthur, den allgemeinen Betrachtungen nur zu sehr geneigt, hätte auch diese fortgesetzt. Stephanie blieb fest auf das Sachliche gerichtet. Nachgerade war ihr klar, daß der alte Biedermann nur redete, um Zeit zu gewinnen. Viel weniger unbesonnen, als man meinte, hatte er sich in den Hintergründen zum Gespött gemacht, lieber als daß er ganz vorn in die Angelegenheiten der Edelsitze und in lauter Dornen langte. Er tat ihr nicht leid, auch die Absicht, ihn zu quälen lag ihr fern. Sie sprach einfach:

»Die Dame fiel vor genau zwölf Minuten in Ohnmacht.« Stephanie las es gewissenhaft von ihrer Uhr ab. Wie richtig hatte sie auch im übrigen gerechnet! Ein einziger unbewachter Augenblick, schon wollte der Greis sich drücken, ein vorgestreckter Fuß verhinderte es, er hätte den Flüchtling zu Fall gebracht. Es war der Fuß des häßlichen Entleins, das nochmals eingeschlichen und voller List in den Besitz eines Eckplatzes gelangt war. Soviel auf sie ankam, sollte nichts versäumt werden, damit ihre Feindin unter vernichtenden Umständen von den Knien, die sie besetzt hielt, und aus dem Saal entfernt würde.

Der Konservengreis, den Arthur gerade noch auffing, verlegte sich auf das Jammern. »Ich wäre wirklich bald zu Schaden gekommen. Ihr Empfang, mein Lieber! Ohnmacht! Kennen Sie eine Ohnmacht von zwölf Minuten nach der Armbanduhr?«

»Reden wir nicht länger!« verlangte Stephanie. Im Gegenteil, forderte Arthur.

»Ein letztes Wort! Herr Präsident, Sie sprachen, übereilt oder versehentlich eine Entlassung aus. Wenn ich Ihnen aus der Klemme helfe, nehmen Sie die Kündigung Ihrer Mitarbeiterin zurück?«

»E bleibt dabei«, der Präsident schöpfte Atem – »daß ich ihre Bezüge verdoppele.«

Jetzt machte er sich freiwillig auf den rechten Weg.

»Halt!« befahl der Gründer des Opernhauses. »Die Fürstin Babiline hat einen hohen Betrag gezeichnet. Ich werde sie von ihrem Fauteuil auf einen Strapontin verweisen müssen. Sie wird nicht zahlen. Wer tritt statt ihrer ein?«

»Ich«, sagte der Präsident als ein wahrhaft Mutiger, der den Zufällen in das Gesicht blickt, welches immer sie annehmen.

Nur drei Sitzreihen fehlten bis zu der verhängnisvollen ersten. Dem Schöpfer des Kunstinstitutes in das Ohr drückte der neue Hauptaktionär seine ganze Bewunderung aus:

»Sie erpressen mich, wo ich wehrlos bin. Soll ich mich weigern, der Erwählten des Mächtigsten unter uns den Platz meiner armen Frau abzutreten? Soll andernfalls der Zusammenbruch einer Greisin die Fortsetzung finden, daß wir unter dem Hohn der Menge aus dem Hause wanken? Ich zahle, du Muster eines Geschäftsmannes, ich zahle.«

»Sorry«, erwiderte Arthur. »Zeuge unserer Abmachung ist Ihre Sekretärin.«

»Deine Geliebte?« wurde gefragt.

»Familiennachrichten später«, hiermit legte Arthur einen Arm um die Schulter des freundlichen Alten. Sie waren am Ziel.

Dort stand oder lag alles wie vorher. Nolus bediente mit kalten Umschlägen die ohnmächtige Matrone, die in den Armen des Intendanten zusammengesunken, an ihrer Bewußtlosigkeit festhielt. Zur Rechten war die Haltung der anderen Gruppe womöglich noch weiter entartet. Die anmutige junge Person benutzte, um sich auszustrecken, den Rüstungsindustriellen nunmehr als Sofa. Ihre Beine, sicher waren es preisgekrönte Beine, hatte sie vollends frei gemacht, erhob sie in ganzer Länge bis zu dem Rande der Bühne und stützte die Füße dagegen.

Madame Babiline auf ihrem Eckplatz links, war genau genommen nur noch Lorgnon. Ihre Schleppe, dies gefährdete Stück, zwei, drei aufgestickte Diamanten waren sein letzter Halt – Anastasia gedachte der Schleppe zu wenig, als es Zeit gewesen wäre. Ein Ruck, der Fetzen flog fort, es rollten die Edelsteine.

»Wer hat gewagt?« fragte die Fürstin zu spät.

Arthur, ein Mann, dem niemand Ungeschicklichkeiten zutrauen wird, überging die Frage, er forderte vielmehr:

»Hoheit wechseln bitte den Platz.«

Vor Staunen erbleichte die Frau.

»C'est un ordre?«

»Sie hätten es von selbst tun können«, wurde ihr tatsächlich im Ton des Befehls erklärt. Sie erkannte die dienstbereite Stimme nicht wieder.

»Je vois, que vous vous passerez de ma Carmen, et de mon argent.« Sie überstürzte sich, sie bebte. Ihr hochmütiges Gesicht war jetzt schneeweiß.

»C'est le cadet de mes soucis«, bekam sie zu hören von diesem Agenten, ihrem Domestiken. Er erlaubte sich sogar eine geschwollene Stirnader zu haben. Madame Babiline mußte sehr irren, wenn der Mensch sie nicht anfuhr.

»Seit zwölf und einer halben Minute verfolgen Sie den Skandal, der meine Oper ruiniert.«

»Vous m'interessez«, sagte sie kalt und stand auf, bevor man sich vielleicht an ihr vergriff.

Die einzige wirkliche grande dame des Empfanges hätte ihn mit allen Zeichen der Mißbilligung verlassen. Auch nicht übel, dachten die abgehärteten Gäste, soweit sie etwas bemerkt hatten, aber die Musik spielte stark.

Nun ist es wahr, daß Fürstin Anastasia innerlich die Bewegung des hoch aufgerichteten Abgehens machte. Sichtbar war vielmehr, daß sie das nächste Gestühl umklammerte und nicht den Fuß heben konnte. Wie sehr sie unglücklich war, erfuhr sie selbst erst, als jemand sie anredete.

Nicht, als ob Stephanie einer reichen Person, die eitlen Sorgen nachging, ein unerbetenes Mitleid aufdrängen wollte. »Ihre Diamanten, Madame«, sagte sie einfach und hielt die Steine auf der offenen Hand hin. Gerade die Schlichtheit war es, sie erschütterte das ärmste Weib, unter Verzicht auf andere Stützen gab es sich ganz in den kräftigen Arm, der ihr geöffnet wurde.

»Ich kenne Sie nicht«, stammelte sie. »Ich kann Sie nicht einmal sehen.« Sie versuchte es, durch den Schleier von Tränen.

»Ich bin nur das Gewöhnliche«, sagte Stephanie. »Nichts von Ehrgeiz wie Sie, Madame.«

»Mein Kind, Sie können nicht verstehen, was es heißt: ›noch einmal zu leben hoffen, und nicht als dieselbe‹.«

»Sie werden die Carmen singen«, hiermit erwiderte Stephanie das schwere Geständnis.

»Sie sprechen bestimmt, obwohl Sie gleichgültig sprechen. Waren Sie gewöhnt, daß Ihnen gehorcht wird?«

Die Vermutung lief in merkwürdiger Weise der Wirklichkeit zuwider. Stephanie indessen fühlte, daß sie nicht enttäuschen dürfe.

»Die Hauptsache ist, daß Sie sich setzen«, riet sie der Dame, die es sich nicht einfallen ließ zu widersprechen. Ein schmales Brett wurde für sie heruntergelassen – neben der siebenten Parkettreihe, die vorderen hatten keine Strapontins, wie Arthur die Notsitze nannte.

Da saß nun eine Fürstin Anastasia, der zum erstenmal im Leben die Lehne fehlte, und wo bleiben ohne sichere Rückendeckung die Hoheit, Anmut, unbeteiligte Haltung? Sie aber empfand keine Erniedrigung, das unbekannte Mädchen hatte wunderbar von ihr genommen, was zuviel gewesen wäre. Die Frau überzeugte sich nicht erst, ob hinter ihr das Kind stehe; sie glaubte es ohne Augenschein.

Wir beide, dachte sie, ließ die geretteten Steine von einer Hand in die andere gleiten und entspann mit der Unsichtbaren, die auch wieder sie selbst war, ein nahezu heiteres Gespräch. Wir beide verstehen uns. Nichts von Ehrgeiz. Wozu singt man und verschenkt seine Seele? Für eine ganz verwahrloste Gesellschaft? Dort vorn die Gestalten, die uns vormachen, wie schamlos man sich ausstellt?

Mit Stephanie, die in Wirklichkeit nicht mehr da war, zählte sie her, wer alles vorn agierte: drei weibliche Mitglieder und von männlichen ein verwirrter Haufen. Wir spielen nicht mit, wenn die abscheuliche Greisin noch länger an Stelle ihres weggerutschten Diadems die kahle Platte zeigt, die entblößte Schönheit aber ihre derben Fesseln endlos von sich streckt. Auf der Rampe liegen die anschaulichen Extremitäten, höher als der Kopf und dick wie das unterlaufene Auge. Dafür meine Carmen?

Der inspirierten Dame wurde rückwärts eingeflüstert: Da haben wir ihn! Dieser hilflose alte Bart hat meine Schleppe abgetreten. Welch ein Jammer, wie er die Entseelte, seine Legitime wahrscheinlich, aus der Klemme losmachen möchte und nicht kann! Der Domestik im roten Frack will mittun, sie sind einander nur im Wege. Der Intendant gibt sie nun einmal nicht frei; unter dem Vorwand zu helfen, wird er ihr den schlaffen Hals abreißen.

Himmel! Daß alle mit dem Leben davonkommen möchten! Glauben Sie es? fragte Madame Babiline ihr zweites Ich, das bereitwillig antwortete: Man muß das Schlimmste befürchten. Der Kriegsindustrielle in Person erscheint nunmehr erschöpft und dem Zusammenbruch ganz nahe. Das schwarze Individuum, dessen Haare erstaunlich tief angewachsen sind, legt jetzt einem Verlorenen die Kompressen auf seine fliehende Stirn. Vorher der Schönheit auf das Auge, der Greisin auf die Glatze.

Beide Stimmen, die innere der Fürstin und die abwesende ihrer unbekannten Freundin, vereinigten sich zu einem Stoßgebet: Maestro Tamburini! Sagen Sie ab! Sie sehen doch, hier werden zahllose Kompressen benötigt, mitnichten Ihr einziger Kehlkopf. Wo so viel Eiswasser verfehlt, Absterbende zu erfrischen, würde der Atem Ihrer Brust nur über die Toten hinwehen. Dies erfleht inständig Ihre niedrigste Schülerin, die verzichtet hat. Verzichten auch Sie! Sagen Sie ab!

Die gutgläubige Anastasia seufzte tief, ihr Sinn war beruhigt, das erstemal wieder seit ihrer schrecklichen Besessenheit. Da sie sich erlöst von ihrer Carmen fühlte, wünschte sie dem verehrtesten Künstler dasselbe Glück. Er hatte ihr abgeraten, der Öffentlichkeit zu trotzen, und sollte recht behalten, unter der Bedingung, daß er sich selbst mit einbezog. Wir haben begriffen, mein herrlicher Meister. Désormais nous n'écouterons que notre respect humain. Nous lui devons le silence.

Wirklich hielt sie für ausgemacht, der berühmte Sänger werde um seiner Menschenwürde willen das Schweigen erwählen, als ob sie auch nur ihrer eigenen Enthaltsamkeit ein für alle Male versichert gewesen wäre. Jenseits des Vorhanges mit dem Gelage der Götter wartete der Erfahrene, Bejahrte, an den sie unbedachte Zumutungen richtete. Er hatte Geduld, hinter der Bühne rauchte er die gewohnte Zigarette, wie vor jedem anderen Auftreten, bis man ihn riefe.


 << zurück weiter >>