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4.
Balthasar hat aufgegeben

In der Stadt gibt es keine Entfernungen, die Automobile sind überflüssig. Dies war die Meinung des alten Reichen, der nie eines besessen hatte. Als er noch reiste, benutzte er die Eisenbahn, hatte eine der Linien selbst ausgebeutet, solange die öffentlichen Einrichtungen es zuließen. Darum verstand er dennoch nichts vom Fernverkehr; vertraut und durch Erinnerungen herzlich verbunden war er mit der Postkutsche, wo man tunlichst vorn beim Lenker saß, den Blick auf der nahen, geruhigen Welt, aber dem eigenen, vielfältigen Innern mit heiterer Andacht zugewendet.

Arthur und André wußten hiervon das eine durchaus, daß die Anfahrt im Luxuswagen ihren Vater und Großvater verstimmt haben würde, angenommen, er wäre heute wohlgemut gewesen. Sie trafen zu Fuß ein. Die vereinsamte Straße hatte einst Bedeutung, vielleicht auch mehr Licht gehabt. Durch die Vorderseite des Hauses war nicht immer der zackige Riß verlaufen. Die geschlossene Tür und ihr Klopfer, eine kupferne Hand, blieben sich gleich. Als eine lebendige Hand die geschmiedete fallen ließ, folgte dem harten Schlage nichts. Beide Besucher warteten stumm, in sinniger Betrachtung des mittleren Stockwerkes, eines seiner festangezogenen Fensterläden.

Der tatkräftige Geschäftsmann bekam hier, je länger er hingehalten wurde, den Ausdruck der Geduld und Entspannung. Der Zeichner, ein Beobachter wider Willen, fand einen ungewohnten, aber schon erblickten Arthur wieder, er hatte ihn seit dem vorigen Male nur vergessen. Die Seiten der Natur, die zufällig in keine seiner Kompositionen paßten, entfielen ihm für einige Zeit. »Arthur, wie wird dir?« murmelte er, ohne daß weder Künstler noch Menschenbehandler ihren hoch gelegenen Gegenstand aus den Augen ließen. Das Dachgeschoß überschattete das mittlere: weiter unten blinkten lang und breit die Spiegelscheiben des herrschaftlichen Stockwerkes. Tiefer als der Gehsteig lagen die Kellerluken, bedeckt vielleicht mit Eisen und jedenfalls mit Staub.

Ein zweites Klopfen unterblieb: im Hause und in der Straße wäre es peinlich aufgefallen. Der bestens eingehakte Laden wird aufgetan, wenn man Geduld hat. Auch dann könnte noch manche vonnöten sein. Aus den langsam bewegten Brettern neigte sich ein graues Gesicht; verschwand, erschien nochmals, jetzt mit der Brille. Die uralte Magd Irene hatte erkannt, wer Einlaß begehrte: sie zog sich endgültig zurück. Es bedeutete keine Weigerung, im Gegenteil, die Reihe kam nun an Nepomuk. Die Besucher verständigten sich hierüber mit den bloßen Lippen. Viel hing davon ab, welche Weile der Diener Nepomuk brauchte, bis er das Tor entsicherte, einen Spalt eröffnete und den blanken Schädel anständig senkte.

»Besonders, da er seit dem letzten Jahr tot ist«, flüsterte Arthur.

André berichtigte:

»Seit vorletztem. Tu nicht unerfahren, Arthur! Du warst öfter hier. Du kennst den Trick nicht seit gestern.«

»Ich übersehe Lächerlichkeiten wie seine Verkleidung. Wird er bald fertig sein?« fragte Arthur, für dessen friedlichen Zustand nachgerade zu fürchten war. Er sprach laut, aber auch die Schlösser und Riegel dort innen verursachten Geräusche – worauf denn der Diener in seinem verschossenen Frack dastand und Reverenz erwies.

Nach ihrem Eintritt verrammelte er die Haustür mit aller Sorgfalt. Die beiden sahen zu. Geboten war, daß niemand früher als Nepomuk die Treppe bestieg. Sie war weitschweifig und flach, dennoch umklammerte der Greis unter Ächzen das Geländer, um ihnen vorauszugehen. Seine Gebrechlichkeit machte er zu anschaulich, und hohler als nötig, ersuchte er die Angelangten, im Säulensaal gefälligst Platz zu nehmen, bis sein Herr in der Lage sei, sie zu empfangen. Er zeigte ihnen noch einmal die glatte Decke seines Schädels und entfernte sich.

»Säulensaal« war viel gesagt. Der Raum ergab bequeme Verhältnisse. Seinen Boden bildeten grau gestrichene Flächen aus Fichtenholz, hier und da zierten ihn bestickte Vorleger. Das allseitig ausgebogene Sofa, so groß es war, in braunes Tuch gekleidet und mit Roßhaar aufgefüllt, besetzte allerdings den ganzen Abstand zwischen zwei runden Trägern, wirklicher Marmor wie bekannt. Die Stuckatur begann erst unter dem Plafond: hier erhob sie sich sogar zu musizierenden Englein. Es ist möglich, daß ein verträumtes Kind namens Arthur, von dem doch etwas übrig sein muß, voreinst durch sie erfahren hat, was ihm bestimmt war.

Die Tapete bauschte sich locker auf den Wänden: ihre Werther-Landschaft suchte, oft wiederholt, tiefe Aussichten vorzutäuschen, und wenn keine glaubwürdigen Hintergründe, gelang ihr wenigstens die Herstellung gefühlvoller Beziehungen zu dieser Art von Natur. Silbergraue Lichter streiften in dem alten Papier die Bäume und Gewässer; man dachte mit einem Anflug von Sehnsucht: wie fern! Oh, wie unnahbar! André, ein Gast nur, fand zur Rührung wenig Grund. Arthur dagegen – nun, er hütete sich vor Erinnerungen, die ihn beirrt hätten.

Er blieb auf den Füßen, von Minute zu Minute ging er eilig durch das Zimmer bis an die Schwelle eines zweiten, das sonst ähnlich, nur kleiner war. Jenseits folgte, in freier Aussicht, wieder ein geräumiges, dann das Kabinett mit den Bücherwänden – und so fort, man weiß. Arthur jedenfalls kannte es nicht anders, als daß Türen offenstehen. Eine Wohnung hat Türen nur wegen der Durchblicke: diese Willensmeinung seines Vaters Balthasar hatte er von hier mitgenommen, nie in seinem Agentendasein hatte er sie eingeschränkt. Überall hinsehen, hinhören, regte sein Geschäft an und befriedigte sein Gemüt.

Indessen, die Schwelle überschritt er nicht. Von jedem seiner Gänge kehrte Arthur zurück nach dem Sofa, wo André die Haltung eines wohlerzogenen Besuchers wahrte. Irgend etwas flüsterten sie immer, zum Beispiel André: »Der Diener ist altersschwach, er hat die Schuld, wenn Großpapa lange ausbleibt.«

Arthur antwortete, als er wiederkam: »Meinst du es scherzhaft? Vielleicht ironisch? Das würde ich mir verbitten müssen. Es ist mein Vater.«

André war hiervon recht betreten. Seine eigene Person erlaubte Arthur dem Sohne leicht zu nehmen. Für seinen Vater verlangte er Ernst. Er bestand darauf nicht grundsätzlich, nur gerade heute. Neunzig Jahre, erkannte der Junge, da hört der Spaß auf.

Als Arthur das nächste Mal an ihm vorübergehen wollte, bat er ihn leis und dringend: »Versteh mich recht, Papa! Der Geheimrat besitzt meine Achtung, so wenig an ihr liegt.«

Der Geheimrat war in vorigen Zeiten mit dem Titel entschädigt worden für die Wegnahme seiner Bahn und seines Kohlenschachtes.

»Doch. Deine Achtung zählt für eine Kleinigkeit.« Arthur war schnell beruhigt. »Siehst du, einem alten Mann, der verarmt ist, stirbt sein Diener. Er ersetzt ihn nicht. Seine Pflicht zu repräsentieren, bleibt dieselbe. Er geht nicht aus, und selten will jemand von ihm empfangen werden. Dann zieht er selbst die Livree an, als Diener Nepomuk führt er sogar Unwillkommene seinem Herrn zu, und gekleidet wie der Millionär und geheime Rat tritt er wieder ein.«

»Ich verstehe ihn«, versicherte der Enkel. »Eher verstehe ich die Wunderlichen als die Tüchtigen, dir muß ich es nicht sagen. Nun verzögert er aber seinen Auftritt über Gebühr.«

»Wir sind jung und haben Zeit«, sagte Arthur. »Ihm mit seinen neunzig fällt das Um- und Wiederanziehen beschwerlich.«

André fragte besorgt: »Sollte es nicht auch mit seinem vorzeitigen Tode zusammenhängen? Verzeih den Ausdruck, ich meine seinen Anspruch, nicht nur Nepomuk, sondern sich selbst für verstorben auszugeben?«

»Er wird wissen, welche Vorteile es ihm einbringt«, urteilte Arthur.

»Die zwecklosen Wunderlichkeiten schätze ich noch mehr«, schloß André.

Hier hielten sie an. Aus dem Bücherkabinett, eigentlich von noch weiter als sie bemerkt hatten, bewegte Balthasar sich herbei. Er schritt ohne Eile, aber strack aufgerichtet, kein Vergleich mit dem vergreisten Gehaben seines Dieners. Dazu trug er nicht die blanke Platte, sondern braunes Haar. An den Schläfen war es leicht gerollt und nach vorn gelegt, wie 1860 oder 1870. Natürlich hatte er seither manche andere Mode befolgt. Den Haarschnitt des ehemaligen Zwanzigjährigen nahm er später wieder auf. Bei seinem Näherkommen unterschied man ergraute Stellen neben gelichteten.

Der alte Kopf wirkte vornehm durch gewölbte Brauen, den Mund mit Falten der Überlegenheit. Über dem gebieterischen Blick der weitoffenen braunen Augen vergaß man vorerst, daß derselbe Mensch in Gestalt des Dieners Nepomuk eine gemäßigte Unterwürfigkeit annehmen konnte. Noch mehr wurde anfangs übersehen: die dunklen Flecken der Haut, und daß sie nirgends mehr fest auflag; die Stirn, so hoch sie anstieg, nur knochig anstatt erhaben; die blassen Ohren scheinbar im Begriff sich abzulösen von einem Gebilde, das verfiel.

Das Ganze, sobald man es erkannte, jagte Furcht ein. Natürlich verging sie bald. Aber diese verlorene Echtheit des Lebendigen, und abgelegte Zugehörigkeit zu uns allen, erschreckte plötzlich. Es war nur der Gegenschlag nach der kurzen Täuschung über den Zustand eines vom Tode Gezeichneten, der seine Frist verstreichen läßt und dableibt. So war bei seinen eigenen Nachkommen der Eindruck des verspäteten Greises. Daß er die Schmach, noch älter zu werden, vermeiden möge! Daß er nur bei unserer Anwesenheit nicht hingestreckt wird! Beides hatten sie im Sinn, während sie ihn begrüßten, aber nicht berührten. Er verzichtete selbst darauf. Die rechte Hand verwahrte er in der Brust, die linke auf dem Rücken. Sein Enkel hatte, kaum daß der Alte in Sicht kam, das Sofa verlassen, nahm den geziemenden Abstand und brachte mit heller Stimme, etwas heller als er wollte, seinen Glückwunsch vor. Er bekam keine Antwort. Die vorgehabte Anrede Arthurs ging in Gemurmel unter. Sie standen als ein Dreieck, jeder zwei Schritte vom anderen, und es war still.

Die stattlichste Haltung gab sich der Älteste, in seinem Leibrock, der lang, hechtgrau und von den Hüften abwärts nicht ohne Schwung war; man wurde gemahnt an die verschwundenen Kunden untergegangener Rennplätze. Außer dem beabsichtigten Faltenwurf verriet das Kleid keine einzige Leerheit, nichts von einem Körper, der nachgegeben hätte. Waden sogar waren deutlich vorhanden. Die beiden Kinder senkten den Blick. Wie gut nachgemacht, wie mutig getragen! In die enge, dennoch ausgestopfte Hose passend einsteigen, zur Sicherung ihrer Form die Bügel unter die Füße gürten, das schon allein rechtfertigte die Länge der Zeit, die sie gewartet hatten.

Als lange genug geschwiegen war, besann Arthur sich auf das Päckchen in seiner Rocktasche. Er machte den Versuch, es zu überreichen wie es war – umsonst, er mußte selbst das Band entknoten, das Papier öffnen, die silberne Truhe glänzen lassen. Hier endlich zog Balthasar die Hand aus der Brust. Es war eine Hand ohne bewegte Geschichte: nur etwas schmaler, mit spitzen Fingern hätte sie eine Damenhand vorgestellt. Wenig benutzt, das konnte jeder ihr ansehen und mußte zugeben, daß sie nachgerade überempfindlich erschien mit ihren hoch aufgetriebenen Adern in Hellblau. Haare brachte sie nicht hervor, oder sie war rasiert. André fand sich außerstande, dies zu entscheiden. Arthur, der es wußte, hatte vordringliche Sorgen.

Die Hand übrigens griff zu; man hätte gesagt, daß sie sich krallte, aber wer traute dem Augenschein. Unser Balthasar freut sich, dachten sie, da er sein verfärbtes, beflecktes Antlitz in der metallenen Fläche spiegelte. Hiernach wog er allerdings den Kasten und fand ihn zu leicht, um viel wert zu sein. Unser Balthasar ist unzufrieden. Er roch an der hölzernen Füllung, der Inhalt wurde vermißt, der Beschenkte machte es sehr sichtbar. Sogar der unbeteiligte Enkel geriet davon in Verlegenheit. Arthur aber, eine Gebärde der Beschwörung, und wahrhaftig stammelte er:

»Die Zigarren sind zu Hause liegengeblieben. Auf niemand ist Verlaß. Entschuldige den Irrtum, Vater. Es war bestimmt deine Lieblingsmarke.«

Arthur, wie unsicher! Wo sonst die Lügen so leicht fließen und sehnsüchtig geglaubt werden! Sein Vater sagte mit heiterer Geringschätzung: »Was fiel mir ein, daß ich dich nach einem Philosophen benannte!«

Er setzte sich auf das Sofa zwischen den Säulen, winkte den Zwanzigjährigen neben sich und stellte ihm den unnützen Zigarrenkasten auf die Knie. André handelte hier geistesgegenwärtig. Er machte Miene, das Ding seinem Vater zurückzugeben, wobei er munter sprach:

»Morgen, Großpapa, bekommst du ihn wieder, mit allem, was fehlt.«

Alsbald nahm der Neunzigjährige den Gegenstand an sich und schob ihn unter das Polster.

Sein fünfzigjähriger Sohn wendete sich halb fort, um insgeheim zu lächeln und dreist einen Stuhl zu ergreifen. Ihm war keiner angeboten.

»Geheimrat Balthasar, du bist mein Stolz«, bekannte er mit beifälligem Nicken. Der Alte ließ sich nicht betören:

»Kaum wegen der Taten und Erfolge meines abgeschlossenen Lebens; denn du bildest dir ein, sie weit zu übertreffen, mein tüchtiger Sohn. Sondern, irre ich nicht –«

»Du irrst nicht.« Arthur war ihm ins Wort gefallen. »Dein hohes Alter meine ich. Damit bist du schlechthin mein Prunkstück – des Anstandes wegen vermeide ich die Bezeichnung Paradepferd. Du hältst es für eine Redensart, aber mich kitzelt es die ganze Zeit, dich zu streicheln.«

»Ich glaube es dir. Unterlasse es gefälligst!« gebot Balthasar und entblößte sein gutes Gebiß.

Arthur beruhigte ihn: »Es war kein ernster Vorsatz. Statt dessen eine Bitte. Heute abend ist bei mir großer Empfang. Sei gnädig, Vater! Erscheine!«

»Du hast es richtig ausgedrückt: erscheine! Erscheinen ist alles, was wir Toten können.« Der Greis vertiefte sich gern in seinen ungewöhnlichen Zustand nach dem Ende des Lebens. Seine Stimme wurde eher stärker. »Wir begeben uns nirgends hin: wir sind dort und treten in Erscheinung. Du, ein geschäftiger Reisender, bist ausgeschlossen von so stillen Geheimnissen. Sie haben Grabesstille.« Dies letzte richtete er an den jungen André, der ihn von der Seite scheu und begierig ansah. Vielleicht überlegte André bei sich die erste Schwindelei mit dem gespielten Nepomuk, in ihrem Verhältnis zu dieser zweiten Abweichung. Dennoch verlangte die Natur von ihm, sowohl Grauen wie Wissenslust wirklich zu fühlen. Übrigens zeichnete er innerlich.

Arthur kam ihm zuvor, falls André hätte antworten wollen. »Ich! Ausgeschlossen von dem Sinn für das unerwartete Auftreten? Das wäre!«

Er hielt sich, wie es ihm zukam, im Ton der gewohnten Tatsachen. »Ich gewinne meine Siege blitzartig. Bevor eine Versammlung schwächlicher Interessenten mich kommen gesehen hat, stehe ich mitten darin und entscheide die Schlacht.«

»Schlachten.« Das Achselzucken des Ältesten zeigte seine Nichtachtung an. »Ich habe, als ich lebte, nie gekämpft. Millionär wurde ich durch ein passives Bergwerk und eine Lokalbahn, die leer fuhr. Der Staat überzahlte mich und den Plunder sinnlos. Derselbe Staat hat mir, um vieles später, meinen Reichtum wieder abgenommen vermittels eines Verfahrens, das ich noch heute nicht begreife. Es soll Inflation geheißen haben.« Nochmaliges Heben der Schultern, obwohl die kunstvolle Anordnung des Leibrockes darunter leiden mußte. »Mein Sohn, du bist im Irrtum – über das Vorher und das Nachher. Mir ist, als ob dein kleiner junge mehr als du ahnte – vom einen wie vom anderen.«

André konnte sich unmöglich noch länger enthalten. Unter dem Schutz des geschweiften Möbelstückes notierte er insgeheim einige Striche in sein Skizzenbuch. Sein Großvater bemerkte, ohne hinzublicken, daß er porträtiert wurde. Sogleich bekam er das Gesicht der feierlichen Umstände und seine strengste Haltung. Zeremoniös, ganz mit sich selbst allein, das Rätsel künftiger Betrachter, saß er auf seinem eigenen Sofa zu Besuch.

Geschäftsmann Arthur handelte nach seinen Begriffen klug, er staunte theaterhaft: »Geheimrat! Mir erscheint, damit es beim Erscheinen bleibt, der einflußreiche Notable aus meinen Kindheitstagen, in aller unnahbaren Herrlichkeit. Die Stunde der Bittsteller ist da. Nepomuk öffnet die Tür, er meldet die Namen, damit Sie die Zugelassenen bezeichnen.« Sie, sagte der arme Sohn. Auch mit den gefalteten Händen verrichtete er die schuldige Devotion.

Es half ihm nichts. Der alte Mensch erging sich nur tiefer in seinen merkwürdigen Zustand, wovon der jüngste die äußeren Züge festhielt. »Du blinder Lebenskämpfer«, sprach Balthasar in jedem Sinne unbewegt, »hast recht mehr als du weißt, da die Ewigkeit das Geld weder kennt noch anerkennt. Die Bittsteller, ob sie erst vor der Tür oder schon zugegen sind, finden mich als den gleichen wie vor der Zeit, als die Vergänglichkeit mich reich, dann mäßig arm machte. Ich bin unverändert, seit ich abschied und du nichts mehr fandest.«

Dem Sohn verging der Mut zu leugnen. Er murmelte nur, die Ewigkeit sei ihm zu lang. Auch Balthasar mache sie erst zwei Jahre mit. »Oder ich wäre falsch unterrichtet. Jedenfalls, bis dahin haben Sie mich geschäftlich einmal sanieren können.«

»Zweimal«, berichtigte der Verewigte, »und beide Male mit der vergeblichen Warnung vor weiteren Unternehmungen. Ich errate, daß sie dich nunmehr wieder an den Rand der Selbstvernichtung geführt haben.«

Wer hiervon Herzklopfen bekam, war André. Er wendete sich gegen beide und sagte: »Fürchterlich!«

Arthur blieb ruhig. »Zum Revolver greifen? Weniger als je. Ich hänge am Leben, in voller Kenntnis seiner Fallen. Macht und Geld wollen erkämpft sein, nicht im Schlaf verdient und verloren.«

»Ich besaß allerdings eine unrentable Grube und Eisenbahn.« Der Geheimrat wiederholte seine Geschichte, nur undeutlicher, als wäre sein vorzügliches Gebiß verrutscht. »Il radote«, schloß er, wie wenn ein anderer Greis »gemurmelt« hätte.

Geschäftsmann Arthur war dem Ende seiner Ausdauer nahe. »Vater! Ich versuche als Lebender zum Lebenden zu reden.«

»Gesetzt, du könntest.« Balthasar wußte, daß André aufgehört hatte, seine Eindrücke zu notieren. Daher verzog er das Gesicht zu einer unedlen Grimasse: die Fältchen der Spottsucht waren noch das beste. »Immer der Leichtsinn und Tunichtgut. Ein so lebendiger Bursche, und vergißt die Zigarren!«

Arthur beeilte sich, ihm seine eigene lederne Tasche aufgeschlagen anzubieten, und wirklich, Balthasar nahm eine. »Für den jüngsten Tag.« Sein Ausdruck wurde vollends boshaft. »Im Schlaf verdient, das allein hält vor.« Bezog er sich auf die Zigarre?

Arthur, vom Zorn getötet, wäre hier in die Worte ausgebrochen:

Alter Betrüger! Dann hast du Geld, bist keineswegs verarmt. Ein schlauer Geizhals rettet sich und seine Habe in eine vorgeschützte Ewigkeit! Indessen, der Gedanke zog vorbei, schon lohnte es nicht mehr ihn auszusprechen; er war ihm zu unwahrscheinlich. Der Millionär, der selbst die Livree seines verstorbenen Dieners anlegt aus Dürftigkeit und Prahlerei! »Wenigstens dein Nepomuk ist dir geblieben«, sagte Arthur tröstlich, zu besorgen war: mit Herablassung. Daß er sich nur nächstens nicht weidet an den überflüssigen Verirrungen seines guten Alten!

Dieser war der eingetretenen Wendung des Gesprächs längst nicht müde. »Warum dein heutiger Besuch, mein Sohn?« fragte er. »Weil ich nach deiner Meinung neunzig Jahre alt bin?«

Erschüttert war André. »Wie, Großpapa! Du wärest noch nicht neunzig?«

»Nicht mehr«, lautete die Antwort. »Da ich aus dem Kalender gestrichen bin, legt ihn weg! Was denkst du wohl, daß ein Zeitloser sich aus der Zeitrechnung macht? Ihr hättet morgen kommen können so gut wie am dritten Säkulum nach diesem. Die Unendlichkeit breitet sich vor und nach meinem irdischen Augenblick aus. In ihren Räumen verschwindet mein Kohlenschacht, meine Kleinbahn, der Titel, den ich für ihren Verlust bekam, und der Staat, der mich auszeichnete, der mir, beides auf einmal, Millionen aufdrängte und enteignete. Das Ganze ist wie nie gewesen. Man erzählt Geschichten. Il radote.«

»Mit fünfzigtausend wäre mir geholfen«, brachte Arthur vor, unvermittelt offenbar. Er wunderte sich, hatte er doch die unauffällige Herbeiführung seines Gesuches fertig im Kopfe gehabt.

Balthasar hielt den Vorwand fest, er spräche nur für André: »Du, mein Kind, kannst dich an den Erfahrungen eines Vergangenen bis jetzt noch bereichern. Darum bleibe, wenn dein Vater uns verläßt, um seinen unaufschiebbaren Geschäften nachzueilen.«

Arthur stand schon auf. Er wollte schnell hinausgehen, dennoch wurde er langsam, als Balthasar seinen Enkel belehrte: »Alles eitel. Ich habe mich um die unaufschiebbaren Geschäfte nie bekümmert, um Erwerb so wenig wie um Verlust. Ich kämpfte nicht, ich überließ es anderen. Sie machten Krieg. Sie machten nochmals Krieg. Ich starb in Frieden.«

Bei der Tür angelangt, kehrte Arthur festen Fußes um. »Vater! Ich habe unbefugt in deine Erinnerungen eingegriffen. Die Gegenwart läßt sich ihre Forderungen nicht verbieten. Leihe mir fünfzigtausend! Du wirst den Nutzen davon haben. Die Gelegenheit ist einzig, mein Unternehmen zu erweitern.«

»Bis wohin?« fragte Balthasar, nach eingehender Betrachtung Arthurs oder der eitlen Gegenwart. »Bist du unsterblich? Deine Sachen hätten kein Ende? Ich bemitleide dich. Erst fünfzig, im Leben, wo es am dichtesten ist. Das muß schrecklich sein.«

»Nun denn, vierzigtausend!« verlangte Arthur, dreist und gediegen wie vorher.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Du erfüllst die Förmlichkeiten des Aberglaubens, wie du als Knabe unter dem Bett nachsahst, wo doch nichts war.«

Der Sohn errötete, erstens weil er dasselbe noch jetzt tat. Auch schämte er sich seines Anleiheversuches, der auf nichts beruhte, und um infolge eigener, unvernünftiger Nötigung hatte er ihn gemacht. Daher ließ er diesmal seinen Zorn schießen.

»Wenn du es wissen willst, Vater, du bist ein Geizhals. Du stellst dich tot, damit du nichts geben mußt. Hüte dich! Der Geiz ist eine Todsünde.«

Der Greis verhüllte die Augen mit seiner feinen, entstellten Hand: »Mir ist, als hätte ich geizig sein können, vermöge derselben Gleichgültigkeit gegen den Besitz, die andererseits verschwenderisch macht.« Mit sich im reinen, erhob er wieder das Gesicht. »Die Fragen all sind längst erledigt. Mir hat der Staat das finanzielle Ende bereitet. Das andere ist ein Geschenk der Natur. Leb wohl, mein gesunder, reicher Sohn, mit deinen munteren fünfzig!«

Während Balthasar nicht hinsah, hatte André seinen Vater stumm und eindringlich ersucht, es genug sein zu lassen. Er selbst werde den Großvater versöhnen. Auch ohne die Ermahnung bereute der Geschäftsmann Arthur seinen schlecht begründeten Ausbruch mitsamt den unhaltbaren Unterstellungen, unwürdig seines beherrschten Geistes. Milder machte sein Bedauern ihn nicht.

»Um Vergebung, hochzuverehrender Geheimrat! Wenn ich sagte, daß ich Geld bei Ihnen vermute –. Nein, ein für alle Male nein. Ich werde Ihnen nie wieder Geld zutrauen. Sie weichen von der gesunden Vernunft gar zu weit ab. Ihr gehorsamer Filius verdankt dem Geld, ob er es hat oder haben will, seinen klaren Kopf.«

Dies war sein Abschied. Arthur verneigte sich, aufgerichtet verließ er den Säulensaal.

Mit seinem unheimlichen Vorfahren unter vier Augen, glitt der junge André sachte vom Sofa, er nahm den verlassenen Stuhl seines Vaters und blickte, die Hände ineinander, fromm auf seine Schuhe. Eine Pause; beide warteten unbestimmt, ob wirklich die Tür geschlossen bleibe. Hierauf Balthasar:

»Du, Kleiner, hast niemals um Geld gebeten. Wie kommt das?«

»Ich brauche keines«, André schlug reizend die Lider auf. Die Jugend kann schön sein, wenn sie nur will, dachte der Alte. Was er aussprach war:

»Du bist mit ähnlich. Ich wollte auch das Geld nicht. Gerade als meine Studien mich dem Handel und Wandel entfremdet hatten, drängte der Staat es mir auf, für eine uneinträgliche Kleinbahn und Kohlen, die ich mit Wissen nie gefördert hätte.«

»Mir drängt der Staat kein Geld auf«, versicherte der Enkel bescheiden. »Heute ist er emsig bedacht, daß meine Generation nichts hat.«

»Lobenswert«, entschied Balthasar. Der Junge erhob die Stimme ganz wenig, auch er ließ sie zittern:

»Meinem armen Vater war es schwerer gemacht als uns. Er und seine Altersgruppe erwarteten voneinander die äußersten Anstrengungen mit dem Ziel der gegenseitigen Beraubung. Er tat mit. Jede Zeitgenossenschaft befolgt ihre eigene, unausweichliche Übereinkunft. Aber keine Kritik! Entschuldige, bitte, meine Naseweisheit, guter Balthasar.«

»Warum nicht?« Der gute Balthasar beugte sich freundlich vor. »Füge aber hinzu, was immer wahr bleibt: Unrecht leiden ist besser, als Unrecht tun.«

André seufzte: »Ich danke dir, daß du unserem Arthur sein Schicksal verzeihst. Er war genötigt reich zu sein. Schreckliche Energie! jeden Morgen von vorn anfangen reich zu sein!«

Sein Großvater seufzte duldsam mit. »Um deinetwillen fühle ich mit ihm. Indessen, auch die dahingegangene Gestalt, die ich selbst gewesen sein soll, erregt mein Mitleid: sie hat viel geirrt. Bedenke! Diesen Sohn habe ich nach dem Philosophen der Erlösung, des Nichtwollens, Nichtmehrseins – Arthur genannt.«

Balthasar verhüllte sein Gesicht; vielleicht, daß hinter seinen Händen eine Träne rann. Wenn nicht echtes Salzwasser, war sie eben Philosophie. André wendete sich rücksichtsvoll ab. Über seine Schulter hinweg erkannte er als Grenze der vorhandenen Aussicht das Bücherkabinett. Dorther war sein Großvater gekommen. Überhaupt kam er von dort.

Balthasar hatte sich gefaßt, oder hielt er seine Erfahrung seines Gemütes für hinreichend ausgedrückt? Ohne das verhaltene Schluchzen, das seinem Enkel als der geeignete Übergang gefallen hätte, sprach er: »Der erste ist mir mißraten. Der nächste, du mein Kind, holst für ihn nach, was ich geplant hatte. Wenigstens machst du den Anfang, hinsichtlich des Geldes. Verzichtest du auch auf die Fortpflanzung?«

Überrascht erkundigte das Kind sich: »Meinst du die Liebe?«

»Man sagt so«, war die kühle Antwort. André überlegte, bevor er sich zur Ehrlichkeit entschloß.

»Aus Bequemlichkeit, wie auf das Geld.«

»Ich wollte, du hättest unumstößliche Gründe«, diese Mahnung empfing André, und zog vor, sie mit Selbstverkleinerung zu erwidern:

»Sieh meine lächerlich bedrohten zwanzig Jahre, und was alles mir zustoßen kann! Meine beste Hilfe ist noch die große Auswahl, die ich habe, und daß die Mehrzahl der möglichen Objekte genauso gern Arthur erhören würde. Höchstens wäre ihnen noch lieber: uns beide.«

»Die alten Irrsale«, sprach der Greis beiseite, nicht so sehr geringschätzig. Eher trauerte er den Versuchungen und Demütigungen nach.

In diesem Augenblick liebte André ihn. Er wünschte, ihm gefällig zu sein. »Im Punkt Geld bin ich schon jetzt verläßlich. Das Beispiel, das mich abschreckt, bleibt das gleiche, wie du weißt. Ich arbeite ohne Überzeugung in einer Konservenfabrik, und wozu? Meine Plakate würde ich allenfalls in gutem Glauben machen können, gäbe es keine Gegenden dieser Erde, wo der Weizen verbrannt, der Kaffee ins Wasser geworfen und aus Wein – Munition gemacht wird.«

Balthasar wies diese Meinungen zurück. »Du empörst dich ohne Berechtigung. Du willst leben. So nimm vom Leben auch den Unsinn hin.«

André entschuldigte sich. »Mein ganzer Widerstand ist die Enthaltung. Arbeiten, meinetwegen, aber möglichst wenig.« Was zu seiner Rechtfertigung noch fehlte, machte er durch eine angenehme Vertraulichkeit gut; sie war zart, mit etwas Übermut.

Morgen habe ich Urlaub genommen, Großpapa, weil du gestorben seiest.«

»Lang her, daß ich gestorben bin«, sagte Balthasar, abwesend, so gut wie verreist und sehr erleichtert, weil er mit der Hauptsache wieder allein war.

Hier wurde an die Tür geklopft. Der verreiste Alte überhörte es. Sein Enkel begann eine Bewegung und wagte sie nicht zu beenden. Das Pochen wiederholte sich. Diesmal beantwortete Balthasar es, nicht aufgeschreckt, nur zerstreut:

»Come in! Avanti!« Worauf im Gegenteil folgte: »On n'entre pas!« Da er ein Abwesender war, befand er sich überall und vermischte die Landessprachen.

Herein sah die greise Magd Irene. Näher zu treten, versagte sie sich; ihre graue Miene verriet in keiner Weise, warum. Ihrem Arbeitgeber mußte ihr Anliegen bekannt sein und im voraus von ihm abgelehnt sein. Er hatte sogleich das Sofa verlassen, stand vor einem der weiß lackierten Fenster und wendete dem Zimmer den Rücken.

André gehorchte dem Wink Irenes. Unter der Tür wisperte sie: »Junger Herr! Helfen Sie mir! Er soll essen und will nicht. Das ist immer so.«

»Immer?« fragte der Enkel, ernstlich besorgt.

»Man muß mit den Toten umzugehen wissen.« Sie machte sich nicht lustig, behüte. Sie nahm die Dinge wie sie waren. »Melden Sie ihm Gäste an! Seine Frau, Ihre Großmutter; – sie starb vor zwanzig Jahren, sie empfängt er, und auch den Freund, den sie mitbringt. Er schuldet es dem Besucher, Monsieur Million wäre jetzt älter als er selbst.«

»Eine Minute«, bat André und kniff sich in die Wange. Der Magd in das Ohr fragte er: »Du meinst Gespenster?«

»Was sonst«, bestätigte sie in aller Ruhe. »Ich kann ihn doch nicht verhungern lassen. Zuckerwasser und Albert-Keks des Nachts bei seinem Bett sind nicht genug, selbst wenn er sie anrührt. Nein, er braucht seine Gespenster. Mit ihnen am Tisch packt er auch ein, soviel sie vor seinen Augen verschlingen.«

»Aber hier sind keine Gespenster.« André wußte nicht, wie ihm geschah. Er betrachtete Irene, obwohl er sie von Geburt an kannte. Sie unterschied sich wenig von anderen alten Frauen, denen die frische Luft abgeht. In ihrem sonst leeren Munde war eine Brücke, von Zahn zu Zahn, wunderbar erhalten geblieben. Ihre viel benutzten Hände bestanden aus Sehnen und schwarzen Runzeln.

Sie wisperte: »Ich übernehme alles. Nur jetzt kein Wort! Er hört mehr, als Sie wohl meinen. junger Herr! Soll er an seinem Geburtstag nicht satt werden? Sprechen Sie mit ihm, um des Himmels willen!« Hiermit schloß sie die Korridortür.

André hatte begriffen, daß nichts mehr zu verlieren sei. Da es sein mußte, ging er jugendlich nach dem Fenster, dem Geburtstagskind über die Schulter sprach er hell und zuversichtlich: »Großvater Balthasar! Man kommt dir Glück wünschen. Es sind deine Mittagsgäste vom Friedhof.«

»Meine Selige. Monsieur Million. Auf ihren Besuch hatte ich gerechnet. Deuchte mir doch, daß der gelbe Landauer mit den beiden Rappen drunten vorfuhr.« Er log seinem Enkel ins Gesicht oder sagte die reine Wahrheit: ihm war der Unterschied nicht anzumerken. Für André besonders fügte er hinzu und berührte ihn sogar; zum erstem mal legte er ihm die Hand auf die Brust:

»In die Gesellschaft paßt du nicht, kleiner Junge. Ihr hättet euch nichts zu sagen. Darum mußt du noch nicht fortgehen. Du bekommst die Mahlzeiten für dich allein aufgetragen und wir sehen uns später. Wenn es ein Später gibt«, schloß er. »Nepomuk, wo bleibt der Alte?« fragte er sich selber. »Soll die Gäste hereinführen und schläft schon wieder.«

Hiermit begab er sich durch die Flucht der Gemächer nach dem fragwürdigen Aufenthalt seines Dieners. Kaum daß er außer Sicht war, erschien dem ahnungslosen Jüngling ein Gespenst – geräuschlos, wie es sich gehört. Es trug eine fahle Maske mit stark betonten Backenknochen, hatte sich übrigens vom Scheitel bis zum Boden weiß eingewickelt. »Erschrecken Sie nicht, junger Herr«, bat es ängstlich: aber André war auf eine verkleidete Irene nachgerade gefaßt gewesen. Trotzdem wurde ihm etwas kühl im Rücken. Er lachte: »Jetzt komme ich selbst daran?«

So war es. Sie zog aus ihrem Ärmel eine Larve, entnahm ihrem Gewand ein zweites Linnen und riet ihm, sich sorgfältig umzugestalten. »Wenn der Herr etwas merkt, steht er vom Tisch auf. Es wäre seiner Gesundheit unzuträglich. Inzwischen lege ich die Gedecke hin. Wir haben Zeit. Es dauert eine ganze Weile, bis Nepomuk erwacht und zu sich kommt.«

Tatsächlich entschwebte die brave Magd, so leicht es ihr irgend gegeben war, durch das nächste, kleinere Zimmer in das folgende große, wo sie leise Handgriffe machte. André bemühte sich vor dem Pfeilerspiegel, der aufgetragenen Funktion wenigstens äußerlich gerecht zu werden. Er war nicht unzufrieden. »Il a le physique de l'emploi. Ähnlich würde mein guter Balthasar sich äußern, wenn er dürfte. Spreche ich als Monsieur Million mein zweifelhaftes Französisch? Was sag ich überhaupt?«

Er ließ es dahingestellt und suchte im Speisezimmer nach seiner Spielgefährtin. Sie holte ihn stumm heraus, beide stellten sich im Vorraum wirksam auf. »Von der Straße muß er sich seine Gespenster nicht hereinholen«, erläuterte Irene. »Es würde ihn wundern, wenn die verschlossene Haustür uns gehindert hätte, einzutreten.« Sie standen und warteten lange. Endlich nahte ihnen Nepomuk in seiner verschossenen Livree, ein Schwarz, das an den Nähten rötlich wurde, seidene Kniehosen, Strümpfe aus Baumwolle und Schnallenschuhe, deren Lackierung sich entblätterte.

Seine gemäßigte Reverenz zeigte ihnen anstatt des Gesichtes seine blanke Platte. In derselben Haltung rückte er den Mittagsgästen die Stühle zurecht, beide nebeneinander. Hinter ihnen bat er beinahe lautlos, sie möchten einwilligen, ohne den Geheimrat mit der Suppe zu beginnen. Sein Herr vertrage keine Krebssuppe. Er selbst werde dem Verstorbenen inzwischen behilflich sein, sich fertig anzukleiden. Ein Toter dem anderen, das sei eine Geduldprobe, deretwegen Nepomuk die Herrschaften um Nachsicht ersuchte.

Sein Geraune endete hier, wahrscheinlich hatte er sich entfernt. André fürchtete gegen die Gebräuche zu verstoßen, wenn er sich umsah. Vielmehr legte er die Fingerspitzen auf den Rand des Tisches, wie als kleines Kind, wenn ihm Artigkeit befohlen und die Lage gespannt war. Da diese Sitzung weiter stumm verlief, gelangte André zu der Ansicht, Monsieur Million müsse eine noch so belanglose Äußerung tun.

»Ce bisque sent bon«, sagte er, denn wirklich, die Krebssuppe roch gut, er wagte nur seinen Löffel nicht zu ergreifen.

Zu seiner Überraschung räumte Irene alsbald die beiden gefüllten Teller weg. Offenbar hatte sie ihn mißverstanden. Sie sagte mit ihrer Stimme wie sonst, nur noch behutsamer:

»Es ist auch besser, junger Herr, Sie lassen das Essen, bis er dabei ist. Sie werden Ihre Kräfte noch brauchen. Wir müssen es ihm vormachen. Das ist gar nicht leicht.«

Inzwischen nahm sie von der Anrichte eine Schüssel nach der anderen, jede mit ihrer silbernen Kuppel, jede auf ihrer Spiritusflamme, und setzte alle in wohlgeordneter Reihe auf das damastne Tafeltuch.

»Nachher bedient niemand«, erklärte sie. »Keine Irene, kein Nepomuk.«

»Beide haben ihre Gründe, zu bleiben, wo sie sind«, bemerkte André lauter als ihm lieb war, aber wenigstens vermied er hell aufzulachen, soviel war gewonnen. Das andere Gespenst kehrte auf seinen Stuhl zurück. Es legte einen Finger auf die ausgeschnittenen Lippen seiner Maske. Von jetzt an verständigten die beiden Eingeladenen sich wieder im schicklichen Ton ihrer Rolle, obwohl sie dem Sinne nach unziemlich redeten.

Irene stöhnte: »Es gibt Pasteten, Lachs, Sauce Mousseline, Hammelkeule in Sahne, Rebhühner, Spargel sauer oder mit Käse, Plumpudding, verschiedenes Obst, fromage de Brie. Der Kaffee wird mit Marc de Bourgogne begossen, und der Weinsorten sind drei, eine schwerer als die andere. Wer das aushält! Er hat mich an Völlerei gewöhnt. Wo nicht, fastet er. Kann ich ihn verhungern lassen?«

André seufzte: »Nein. Das darfst du nicht. Halte ihm nur zugute, daß er es sich selbst noch schwerer macht. Seit ich hier zu Besuch bin, eine Stunde oder wenig mehr, zieht er sich das vierte Mal um, ohne Hilfe, aber peinlich genau. Man würde es nicht glauben, er übertrifft einen Schauspieler im rüstigsten Alter, und erreicht heute die Neunzig! Armer Balthasar!«

»Er wird sich überessen!« ächzte sie. »Die ganze Woche nichts, und auf einmal dann unmäßig: in seinen Jahren geschieht ein Unglück bald.«


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