Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16.
Das Büfett

Auf dem weichen Teppich wäre er nicht zu hören gewesen. Überdies schlich er, infolge seiner unvermittelten Ermüdung. So ist nun einmal unsere Wiederkehr, hiermit erklärte er sich seine Schwäche. Wir erscheinen – sind eingeladen und kommen. Die Lebenden werden, solange sie von dieser Welt sind, nie bemerken, was es uns kostet. Womöglich fürchten sie sich, als wäre unser Zustand nicht vor allem uns selbst gefährlich.

In den nächsten Sessel ließ er sich beschwerlich nieder. Meine letzte halbe Stunde, so sann er, war bloßer Übermut. Tote, die des Namens würdig sind, verachten Unfug und Schabernack. Diese begründen gerade die müßige Vorstellung, die Weltkinder sich von uns machen. Allerdings quittierte eine so leichte Ungebühr nur das Aussetzen meiner Selbstkontrolle: das aber verantworte ich. Unverzeihlich hatte ich an dem heutigen, jetzt schon gestrigen Tage ausgeschweift.

Ich badete in meinem Gold, gleichviel im Fluß der Ewigkeit, der nirgends entspringt, niemals mündet. Wundervoller Überschwang, wenn auch anstrengend außer jeden Vergleiches! Ich widerstehe nicht, bin weder fähig noch gewillt, mein Gesetz zu brechen und es will die Ausschweifungen der Passion. Verhängnisvoll wären sie? Mit, »dem Abberufenen«? fragte er, bewegte die Lippen kraftlos und hatte bei Gott keinen gebieterischen Blick.

Aber hätte ich nicht gebadet und soll es zu meiner Stunde wieder tun, was vermöchte über mich, den sie für neunzig halten eine leichtsinnige halbe Stunde mit einigen Geschöpfen gemeiner Ordnung, Nutten, Polizisten und so fort. Sie gehören in die irdische Zeitrechnung. Anders als wir, haben sie wirklich ein Alter, der Regen durchnäßt Sie nicht zum Schein, ihre Automobile und Gefängnisse gehen ihnen an die Nieren. Meinem Sohn Arthur seine Geschäfte. Ein drolliger Empfang bei der Welt wird dies sein.

Die Selbstbetrachtung Balthasars fiel in die bemessene Weile, als, mehrere Räumlichkeiten dahinter, das Konzertpublikum seinen Appetit beherrschte, sich vielmehr anstellte, als habe es alle begehrten Genüsse im Musiksaal schon empfangen, das Büfett sei vergessen. Die beladene Tafel wartete solange einsam

Silber oder Kristall klirrten wohl einmal heimlich, ohne menschliches Dazutun, hätte einer gedacht. Indessen, von den vier Aufwärtern, die kostümiert die Wand entlang standen, war dem oder jenem eine Berichtigung des Aufbaus eingefallen. Er begab sich an die Stelle. Sein Gang war lautlos, seine Hand behutsam, auch wahrten sie ihre Zungen, gewiß aus Scheu vor ihrem eigenen, unerhörten Werk. Dies hieß ein Büfett. Aber dreißig Jahre mußte beim Geschäft sein, wer es das vorige Mal gesehen haben wollte. Der älteste Lohndiener flüsterte davon, mit völlig geisterhaften Lippen.

Gesetzt, nebenan lauschte ein Gespenst, konnte es bislang nicht einwenden, es hätte sich zeigen dürfen. Da brach eine Stimme die Beschwörung. Eine unbedingt lebendige Stimme, sie sagte: »Mich wollen Sie neppen?«

Das war die hübsche Nina, der unsichtbare Balthasar erkannte sie, obwohl er sie nicht sah. Die Stimme war unnachahmlich spröde, hier und da brach sie; dann folgte der gewisse tiefe Ton, der an die Sinne rührt.

»Mensch!« fügte sie hinzu; zweifellos tippte sie dabei ihren Zeigefinger an die Schläfe. »So schlau wie Sie bin ich auch. Mein Zimmer braucht er! Und was noch?« Hier kniff sie gewiß ein Auge zu. Der Mann, nach dem Gehör ein Unbekannter, sprach bezaubernd auf sie ein. Über welchen Gegenstand? Das wußte er zu verschleiern.

»Sie haben das Ding gar nicht. Lassen Sie sehen!« forderte Nina.

»Ich habe es. Ich muß es einfach abholen, wo es ist. In Ihrem Zimmer will ich die Gelegenheit erwarten. Sie lassen mich ohnehin ein.«

Dieser Satz des Mannes war im Durchgangszimmer zu verstehen.

Die Sprechenden hatten, ihrer Heimlichkeiten wegen, die inneren Gemächer verlassen – Frühstücks-, Billard-, Sitzungszimmer, was es sein mochte. Sie waren hinausgetreten in die Galerie, wie der Korridor genannt wurde. Bekanntlich war er stattlich genug, vorgebaute Glaskästen mit Sehenswürdigkeiten besetzten seine Seiten. Balthasar mochte beruhigt sein, die Schränke deckten ihn. Ihrerseits ließen die beiden aufgetauchten Figuren ihrer Erregung den Lauf, ohne Rücksicht auf neugierige Lohndiener oder Tote.

»Abholen!« wiederholte Nina. »Er nennt es abholen. Wenn es so einfach wäre, brauchten Sie mein Zimmer nicht. Ich tät es selbst.«

»Tun Sie es!« sagte er weich und gefährlich. »Sie haben den richtigen Schlüssel.«

Sie lachte. Wahrscheinlich hob sie die Schultern und senkte sie ausdrucksvoll; Balthasar ermangelte nur des freien Ausblicks. Er war überzeugt, dieselbe Geringschätzung, einbegriffen das Lachen und Achselzucken, hatten ihm von seinen beiden Straßenmädchen gedroht, falls er in einem seiner Wagnisse versagte.

»Natürlich haben Sie mir einen anderen Schlüssel gegeben, Sie gestiefelter Kater!« Dies waren ihre Worte. »Die morsche Kommode öffne ich mit der Haarnadel, und das Armband kann ich so gut verschwinden lassen wie Sie.«

»Die Polizei wird es wiederfinden, wenn sie eine anonyme Anzeige erhält.«

»Auch Sie kann man anzeigen.«

»Eben nicht. Oder ohne Erfolg, denn ich habe Beziehungen. Lesen Sie die Morgenblätter! Meine enge Freundschaft mit dem wichtigsten aller Präsidenten wird, bildlich dargestellt, auf Seite eins stehen.«

Sie sprach, als ob sie die Hände in die Hüften stemmte: »Naiv! Der Präsident hat natürlich das Bild verboten.«

»Er könnte es«, gab die weiche Stimme zu, weich aus echtem Wohlwollen; einer furchtbaren Schärfe war sie fähig, das hörte man hinter den süßen Lauten. »Aber mein Freund hat es satt, anderen und sich selbst die Ungehörigkeiten zu untersagen. Auch mit seiner Nutte läßt er sich für die Presse aufnehmen.«

»Is that so?« fragte Nina, merklich erschüttert. Noch einmal besann sie sich. »Nein, Poulailler. So liegt es nicht. Ich soll Sie in meinem Zimmer verstecken, damit ich Ihre Complice bin. Sie haben es nötig, mich unschädlich zu machen.«

»Sie sind mir allerdings gefährlich, nur nicht wie Sie meinen. Sondern so.« Hiermit mußte der Kavalier einen tätlichen Angriff unternommen haben. Nina kreischte auf, sie lief ihm weg – wenige Schritte; weiter vorn wäre sie dem Eingang des Saales zu nahe gelangt. Poulailler holte sie alsbald ein. Nina, als praktische Person, machte keine überflüssigen Umstände. »Das mußte sowieso kommen«, stellte sie schnell noch fest, schon legte sie den Oberkörper rückwärts um, im Vertrauen auf seinen starken Arm. Er tat mehr, auf seinen Fingerspitzen ließ er sie schweben, ihre Füße durften sogar den Boden verlassen.

»In der Hauptsache bist du von Eisen«, erklärte sie in ihrer waagerechten Lage und bot ihm den geöffneten Mund an. Er erreichte ihn wirklich, wer hätte es geglaubt: eine horizontale Luftfee deren Brust unter seiner hingeschmeichelten atmet, indessen ihr Rücken auf seinen Fingerspitzen ruht! Es war eine akrobatische Nummer mancher; mancher hätte darüber vergessen, daß es ein großer Akt der Sinne war. Balthasar nicht.

Der tote Balthasar begriff die Lebenden besser als zu den Zeiten, da er auf ihrer Seite war. Er sagte sich: Diese beiden sind Verbrecher, was man so nennt; ihr gespanntes Dasein macht sie empfänglich füreinander. Über das gemeine Maß vermögen sie zu genießen, weil jeder dem anderen zum Verhängnis wird, sobald er will. Nicht das Fleisch allein ist ihr Teil, auch gleich das Zuchthaus, das es dahinnehmen soll, und gerade darum lieben sie außerordentlich. In dem Zimmer, wo der Dieb auf die Diebin wartet, wohin sie sich schleicht, das Geschlecht zum Geschlecht, werden blendende Sachen vor sich gehen. Die Scheinwerfer vom Dach könnten es mir nicht deutlicher machen. Genug damit. Ab, das Paar!

Balthasar befahl stumm, aber siehe, man gehorchte. Poulailler stellte die luftige Nina auf ihre Füße, bei seiner eigenen Person zupfte er an den Manschetten. Sie ordnete sich, las Haarnadeln auf, befestigte Strumpfhalter, alles so gut wie auf einmal. Ihm drohte die mit den gefalteten Augenbrauen, er habe zurückzubleiben, was er ohnedies wußte. Er sah sie die ersten der eingetretenen Esser empfangen, schon bot sie Teller und Bestecke an, ihre Haltung war musterhaft, die Würde und Lieblichkeit.

Der aufmerksame Poulailler vergaß dennoch, hinter den Türflügel zu sehen. Übrigens war der Sessel tief und sein Inhaber darin zurückgezogen bis zur völligen Abwesenheit. Wie erstaunte der Kavalier, als er im Begriff, glänzend wie immer, aufzutreten, sich überholt und schlechthin beseitigt fand. Wer war das? Woher so plötzlich ein alter, steifer Herr, dem schnelle Bewegungen nicht zugetraut wurden? Als ob er erscheint, ohne gekommen zu sein! dachte der abergläubische Poulailler und machte Platz. Hierbei wurde er angeblitzt.

Ja, er hatte sich dergestalt gewendet, daß die Monstre-Dekoration auf der Front des Erschienenen ihm in die Augen stechen mußte. Dasselbe geschah mehreren, aber alle halfen sich in der gleichen Art. Um nicht die Augen mit der Hand zu schützen, was die erste Regung gewesen wäre, neigten sie die Stirn. Es sieht wie eine Begrüßung aus, verstößt jedoch gegen die Gleichberechtigung; man grüßt aufrecht!

So erwünscht wie taktvoll war der Einfall des Wirtes und maître de plaisir. Er breitete die Arme in seinem roten Frack weit aus, er tat als stürzte er an die Brust des Störenfriedes. Er deckte ihn, der höchst Dekorierte wurde zur einfachen Unterlage für seinen erfolgreichen Veranstalter. Während der Umarmung mit Kuß, die er selbst, ohne Teilnahme Balthasars besorgte, sagte er ihm in das Ohr, leise aber stark:

»Vater! Habe Dank! Du erscheinst, ich wußte es und behielt es für mich. Bemerke die Wirkung! Du allein bist die große Attraktion, gegen dich fällt jede ab. Meine Künstler werden heiser, meine Präsidenten verreisen.«

»Ich höre es von ihren Chauffeuren«, sagte Balthasar. Arthur ließ dies gut sein, ihm lag nur an der gebrauchten Redewendung. Eine neue accolade, doppelter Kuß auf beide Wangen, gemimt von dem Fünfzigjährigen. Der Neunzigjährige hielt so still, als wäre er nicht zugegen.

Indes er den Gegenstand seines Überschwanges schon freigab, sagte der Sohn noch:

»Mein Kredit war nie so unerschütterlich verbürgt wie seit diesem Auftreten meines edlen Vaters, mit dem grand cordon an seinem ehrwürdigen Hals! … Mein Herr Vater!« Dies laut an die Versammelten gerichtet.

Beides war nunmehr bloßgestellt, der eindrucksvolle Greis und seine überwältigende Auszeichnung. Ihm gegenüber, fünf Schritte in gerader Linie, zeigte sich der Rüstungspräsident. Es stimmte, dort mußte er stehen, er nahm die gesonderte Mitte von übrigen Ranggleichen ein. Nicht unmöglich, daß der Präsident gewartet hatte: jetzt jedenfalls trat er vor.

Balthasar, der mitnichten entgegengekommen wäre, wurde von Arthur scheinbar zart geleitet. In Wirklichkeit erhielt seine Rückseite einen Stoß, infolgedessen er zwei Schritte tat. Drei machte der Präsident.

So trafen diese beiden aufeinander, von der vorhandenen Öffentlichkeit aufmerksam begleitet, gewiß auch stumm verglichen. Der Präsident hatte ein langes Gesicht bekommen, Balthasar sardonische Mundwinkel. Er schwieg, sogar noch, als der Präsident schon sein erstaunliches Wort gesprochen hatte. Es sagte aber der Präsident, der sich selbst nicht wiedererkannte:

»Mein Verehrung, Exzellenz!«

Wenige hatten bis jetzt gewagt mit Geschirr zu klappern. Bei diesem Wort hörte alles auf.

Der Präsident, prominent vor jedem anderen, verehrte einen alten Mann. Für seine Dekoration: soweit richtig. Wofür, näher bedacht? Wofür im Grund zuletzt? Das muß jeder mit seiner Erfahrung ausmachen, oder es bleibt seiner Einfühlung überlassen. Keine der beiden Gaben fehlte hier ganz.

Ihr unbekannten Anfänger, die auf dem Empfang der Welt ihre Nahrung und Namhaftigkeit suchten, mußten nicht viel überlegen. Kein großer Mann, wäre er der Beherrscher der lebenswichtigsten Industrie, sieht ihnen aus, als sollte er immer oben liegen. Heute mir, morgen dir. Einen überlebten Jubilar, der ausgelitten, aber den Krieg gewonnen hat, klar, unser großer Mann verehrt ihn.

Indessen war da der Intendant, mit seinen zwei Sternen links und rechts, die auf einmal nichts mehr bedeuteten. Es ging soweit, daß er eine Geste, die sie zugedeckt hätte, wenigstens markierte. Der Intendant denkt bei sich: Hallo! Ein Auferstandener. Solche Gestalten hatten wir, wo sind sie hin, woher dieses Wiedersehen? Die Zeit kehrt nicht zurück, als der einzelne Millionär mir mein Opernhaus gestiftet hätte – aus kulturellem Standesgefühl, nicht um Steuern zu hinterziehen oder damit kein Geld den höheren Gewalten in die Hände fällt, wenn sie sich an seine Stelle setzen und wenn er abreist. Zu spät, dieser Tote bleibt mir massenhaft Geld schuldig. Dieser Tote, dachte der Intendant. Aber nicht viel hoffnungsvoller beurteilte er die Wohlerhaltenen oder die es sein wollten, die ganze anspruchsvolle Gesellschaft – ach! der Intendant war dafür bezahlt zu wissen, was von ihr noch zu erwarten stand. Nichts. Kurzfristige Selbsttäuschungen, anfangs beflügelt von der Aussicht, andere zu mißbrauchen, bis man merkte: der erste der Hereingefallenen bin ich selbst. Der Intendant, seinen Erkenntnissen, die nicht neu waren, ungewöhnlich hingegeben, seufzte schwer auf.

Bankier Nolus klopfte ihm auf die Schulter, davon kam der Intendant weder zu sich. Nolus meinte es freundlich, er sagte sogar »Verehrtester!« Er machte es deutlich, Verehrung, wo sie am Platz sei, müsse gewahrt bleiben: sonst gebe es für die gegenseitige Nichtachtung keine Schranke mehr.

»Sonst wird man gleich zum Tellerlecker und Schlinggewächs«, bestätigte der Intendant.

»Oder man heißt alter Gauner«, ergänzte Nolus. Interessiert sahen beide Teile aneinander vorbei.

»Sollte man es glauben?« fragte der eine. »In dem Konzertsaal, unserem vorigen Aufenthalt, ist zeitweilig etwas vorgefallen: am besten schließt man auf akutes Irresein. Überkommt uns unversehens, verläßt uns ebenso schnell.«

»Warum uns?« fragte der andere. »Es war eine Massenpsychose. Der einzelne verantwortet sie nicht. Er ist als Individuum kaum beteiligt.«

»Um so eher als Zugehöriger, Mitgerissener, nach dem Verlust der üblichen Hemmungen. Gauner! Das Wort gebrauchen nicht wir.«

»Tellerlecker! Schlinggewächs! Nur eine Gesellschaft im ganzen bringt es über die Lippen, und sie muß bei vorgeschrittenem Befinden sein.«

»Sagen Sie ruhig: hysterisch! Vor dem Kollaps!«

»Richtig. Ich behaupte: aller Welt ist es übel.«

»Sterbensübel.« Beide überboten sich, keiner glaubte genug zu tun.

»Bemerken Sie diese auffallende Wendung wie sie den Leuten nunmehr beliebt, zum Anstand, ja, zur Verehrung! Das ist so wenig gesund wie vorher das Gegenteil.«

»Wem sagen Sie es. Man sieht den drohenden Symptomen eine Weile noch zu.«

»Bei gepackten Koffern« – der Intendant blinzelte an dem Bankier vorbei, und Nolus an ihm. »Nach Abhebung aller nicht eingefrorenen Guthaben«, schloß Nolus, mit Blinzeln an dem Intendanten vorbei.

Hierauf tranken sie auf beiderseitiges Wohlbefinden, was außer ihnen viele taten. Das geleerte Glas streckte man von sich, schon hatte ein schwitzender Bedienter den Champagner nachgefüllt.

Die vier Perückenmänner arbeiteten auf die Gefahr der völligen Erschöpfung. Das Publikum, ein ungewohntes, wie sie feststellen mußten, nahm ihnen keinen Handgriff ab. Entgegen allen ihren Erfahrungen unterließ es diesmal, sich auf das Büfett zu stürzen. Die hungrigsten der jungen Leute wollten dennoch nicht die gierigsten sei. Manche, darunter sogar das häßliche junge Entlein, betrachteten den Aufbau der Tafel mit andächtigen Augen, die Hände untätig über dem Magen.

Diesem Mädchen, das sich sonst zu helfen wußte, da es weder Vater noch Mutter hatte, mußte man einen Teller mit Pastete und Truthahn dringend anbieten. Schließlich hätte es ihn genommen, aber ihr freiwilliger Beschützer, hübsch, auch nicht geldlos, ging in der Güte sogar weiter. Er führte das Entlein zu einem der Tische im Klub- oder Spielzimmer und ließ sich ihr Leben erzählen. Von ihrem Talent und Ehrgeiz durfte sie sprechen, zum erstenmal auf ausdrückliches Verlangen. Damit hatte sie sonst nur ungefragt angefangen, bald unterbrach man sie. Finden Sie nicht, daß es hier langweilig ist? – oder ähnlich. Nicht so dieser wirklich anständige Junge.

Er machte aber keine Ausnahme. Ein anderer, hochblondierter hatte sich mit der Künstlerin Adrienne dahin verständigt, daß ihnen der Dienst am Kaviar zufalle. Zu würdigen bleibt hier das besondere Opfer. Kaviar ist die ersehnte Lieblingsspeise der begabten Adrienne, die ihn nur niemals bekommt. Ihr erster, unverzüglicher Eindruck vom Büfett: die Schüsseln grauer Körner, auf anmutigen Maschinen mit Eis, das von innen rosig schimmerte. Löffelweise! In jeder anderen Nacht hätte sie die endlich erreichte Köstlichkeit mit Löffeln gegessen.

Statt dessen nahm sie an der Seite des Blondierten, auch ein Kaviarfreund, den speziellen Dienst auf. Sie wendeten sich an die reiferen Notabeln, denen ein Zugreifen im Gedränge nicht angestanden wäre! Überall traten die beiden gemeinsam auf; der Verdacht fiel weg, als suchte jeder seinen heimlichen Vorteil. Bei dem Intendanten angelangt, schlug das Mädchen die Augen nieder und gab den Vortritt dem Jüngling.

Der Intendant selbst stellte die Dinge richtig. »Liebes Kind« sagte er, »Sie kennen mich wohl nicht mehr? Ich hätte es verdient. Was ist einem nur, daß man Versprechungen ableugnet, wo sie einzuhalten vor allem ehrenhafter wäre. Außerdem hat meinesgleichen seine Erfolge hauptsächlich dank euren Begabungen. Ihr seid natürlich engagiert.«

»Joe auch!« Adrienne triumphierte, nicht für sich, nein, für den anderen, der ihr noch nie etwas gewesen war. Sie bat: »Im Zweifelsfall, Herr Intendant, ziehen Sie Joe vor!«

»Nicht mich! Adrienne!« verlangte dagegen Joe. Vor Erregung hatte er plötzlich seine Stimme verloren: selbst damit konnte er sich nicht schaden bei dem Intendanten. Vielmehr nahm der Intendant den Kaviar unter der Bedingung entgegen, daß beide mit ihm äßen Sie gehorchten. Als dann jeder der drei an seinem belegten Graubrot kaute, fiel dem Intendanten wohl ein, daß seine Gefährten armselig, er aber notabel sei. Es erschreckte ihn gar nicht. Nun wohl, er überraschte sich bei einer Anwandlung von Demut. Er hatte sie weder berechnet noch kommen gesehen, daher fühlte er sich beschenkt

Er streckte den Arm mit dem geleerten Glas aus. Die Aufwärter befanden sich anderswo; wer füllte sein Glas? Keine andere als die Fürstin Babiline, eine Beleidigte und Erniedrigte: der Intendant hatte sie fallengelassen im Bunde mit aller Welt. Ihre Rache war, daß sie ihn bediente. Keineswegs wünschte sie dafür zu hören, sie solle die Carmen nun dennoch singen. Sie hörte es gleichwohl, während sie sich schnell entfernte. Der Intendant war ihr anfangs auf dem Fuß. Natürlich wurde er aufgehalten.

Was geschah hier noch alles des Merkwürdigen! Nolus widmete sich dem greisen Präsidentin, die er vordem von ihrem Konzertsitz rauh entfernt hatte. Mit Glas, Besteck und gehäuftem Teller brachte er sie an einen bequemen Platz: gerade dort pflegte der Sohn des Hauses zu frühstücken und mit der Jungfer zu schäkern. Nicht genug daran, trug Nolus dem Kapellmeister auf, die »Letzte Rose« zu spielen: sicher gehörte sie zu den freundlichen Erinnerungen der Greisin. Beim Fortgehen trat der schwere Mann leicht auf.

Das war noch wenig. Poulailler, gewiß eine starke Eigenart, spürte, wie jeder, die Atmosphäre. Sie enthielt einen außergewöhnlichen Zusatz von Menschenfreundlichkeit – wobei die »Letzte Rose« erklang und das sanfte Geriesel der indirekten Beleuchtung den Gestalten die geschlossenen Umrisse nahm: sie wurden unfest.

Poulailler fühlte den Drang, der Sängerin Alice zu danken für das herrliche Armband. Schließlich, mit ihrem, wenn auch unabsichtlichen Beistand hatte er es stehlen können. Er hielt es so gut wie in seiner Hand, dessen war kein Zweifel. Er küßte ihren Arm. Inbrünstig, dennoch mit Anstand, was nicht leicht war, küßte er den Platz, wo der breite Reif gelegen hatte. Der ausdrücklichen Danksagung enthielt er sich gerade noch. »Je donne dans les vieilles«, bemerkte er, aber es war kein Tadel.

Am schwersten hatte er es mit Melusine, damit er sich ihr nicht unvorsichtig näherte. Der Bestohlenen selbst hätte er gar zu gern gebeichtet – nicht eigentlich aus Ehrfurcht, auch, ungleich dem Intendanten, ohne Demut. Er ließ unentschieden, was ihn antrieb, vielleicht einfache Sympathie, sei es für die Person der Banquière, oder gleich für das Menschengeschlecht. Ein Mann wie dieser liebt es. Die große Menge Leben, die er in sich fühlt, erwärmt ihn für alle, insbesondere für die Benutzten, von denen er Armbänder hat.

Der Verlockung durch Melusine, die übrigens andere Sorgen hatte, entrang Poulailler sich. Dafür geriet er an die Nutte – ja, an die große nachlässige Nutte des ersten Präsidenten. Und das muß mir passieren! dachte er bei klarer Besinnung, während er der Person einen nackten Antrag machte. Wie verhielt sie sich?

»Mensch!« sprach ihre gleichgültige Stimme. »Wir kennen uns vom Wegsehen. Sie haben Ihr Fach, ich meines, sonst ist alles gleich. Mit mir wollen Sie es wissen?«

»Darum eben«, sagte er weich, so weich, so dringlich. Sie hob mattschimmernden Schultern, ihr Arm erwies sich ungeahnt kräftig: er holte mit Schwung, ohne daß sie auch nur das verquollene Auge hinwendete, ihren Präsidenten nach vorn. »Dein Freund«, berichtete sie frei von jedem Pathos, »will es plötzlich mit mir wissen. Sag ihm selbst, daß ich treu bin!«

Der Präsident, für den Meisterdieb: »Sie werden lachen, lieber Freund, aber ich glaube diesem Mädchen. Halten Sie sich ruhig für belehrt.«

»Ich bin es. Mehr konnte ich nicht wünschen.« Poulailler schien bewegt, wie denn nicht: er war es. Der Präsident glaubte mit demselben Recht dem Freund wie der Geliebten. Jeder einen Arm um die Front des schönen Wesens, den anderen hinter ihr, schüttelten die Männer einander beide Hände.

Diese drei trennten sich, jeder ging eigenen Geschäften nach; Poulailler aber stieß noch mehrmals auf Gedanken, die abwichen von seiner bekannten Art. Ja was denn! Sie läßt mich nicht nur abfallen, bei ihrem Alten macht sie mich lächerlich, ils rigolent, und ich freue mich. C'est moi, le cochon sans rancune.

Er achtete sonst niemals auf sein Wohlbe?nden, es stand damit bestens. Jetzt ?el ihm auf, daß nicht nur die erlebte Niederlage seinem Gleichgewicht behagte: noch reizvoller waren die Ideen, auf die sie ihn brachte. Nicht, daß sie schmeichelhaft gewesen wären.

Der glänzendste Kavalier des Empfanges traf in der dargebotenen Menschheit durchschnittlich alle zwei Minuten auf eine Bewunderin.| Das war sein Schicksal und sein Beruf, es wäre ihm sonst nicht aufgefallen. Wohlverstanden verlor er jetzt und hier von seinen Mitteln nichts: er bezauberte. Nur, indes er eine relative Schönheit gewohntermaßen für sich einnahm, ihre Augen, ja, ihre Glieder zu unverbindlichen Versprechungen verleitete, vielleicht züngelte sie – gerade hierbei wiederholte sich mehrmals sein Einblick in die ernsten Tatsachen. Die Nutte, die es mir gab, war die einzig Richtige! »Elle va au fond des choses!«

Das geradzügige Geschöpf zeigte ihm, was er eigentlich hatte, was ein Don Juan schließlich hat. Die beiden reifen Damen, Alice und Melusine, konnten ihm immer noch in die Arme sinken, so wenig sie geneigt schienen; aber sie hatten Kummer. Ganz unangreifbar wußte er Stephanie, die jede Bemühung gelohnt hätte. Es genügte zu sehen, wie sie, am Tisch mit anderen, ihrem faden André kaum Platz machte neben ihrem Stuhl. Sie hat die Keuschheit ihrer Leidenschaft|. Mir nie begegnet. Ich und Nina! Wir ?nden uns im Vergnügen, weil es mit den Geschäften zusammentrifft.

Bleiben als Liebhaberinnen ohne Nebensinn die Zünglerinnen und relativen Schönheiten, je weniger schön, um so eher. Gesetz des Don Juan, die Häßlichen nicht auszulassen! Von ihnen abgesehen, wäre die Liste kurz.

Mitten im Austausch von Süßigkeiten mit einer Elevin, die ihm wirklich gefiel trotz ihrer kleinen Augen, überkamen ihn schon wieder befremdliche Einblicke: seinen Sinn erheiterten sie sogar. Bei dieser kann ich vom Fleck weg glücklich sein. Sie selbst wäre noch glücklicher. Hindert nicht, daß ich der völlige Herzensfreund erst bin, wenn ich ihr einen Beschützer wie den Intendanten zuführe. Da ist etwas, das sie allein nicht fertig bringt, ich aber erweise mich allmächtig.

Alles in Ordnung, beschloß er denselben Augenblick, als er die Begehrte stehenließ. Warum ?el ihm eine andere ein? Bekannt war sie ihm nur dem Namen nach als das Entlein. Die bietet gar nichts. Niemand kommt in ihr Gehege: ich bin das Wunder, sie hat es nie erhofft, sie erstirbt, ihr erübrigt kein Wunsch, nach Intendanten, Präsidenten, nach der Herrlichkeit der Welt … Er konnte wissen, daß dies auf keine zutrifft, am wenigsten auf diese. Gleichviel, die Atmosphäre. Sie lockerte sogar einen Poulailler.

Den unvorhergesehenen Gegenstand seiner Träume, Poulailler entdeckte ihn endlich. Sie lag in demselben Sessel eng vereint mit einem recht wohlgestalteten Jungen, auch nicht geldlos. Das umfängliche Möbel hat früher am Abend ein erstes Paar, André und Stephanie zusammengefaßt, was niemand wissen muß. Die öffentliche Schaustellung ließ kaum Zweifel übrig, daß die beiden sich soeben verlobt hatten. Nicht das häßliche junge Entlein, das strahlte oder je nachdem weinte, der hübsche Jüngling unterrichtete jeden, der ihnen nahe genug kam, in voller Seligkeit: »Verlobt! Verlobt sind wir.«

Hiervon erfahren, und Kapellmeister Wagner spielte seinen beliebten Hochzeitsmarsch. Zu früh! meinte mancher, besonders einer, der in der Absicht, den Wohltäter zu spielen, hergekommen war. Jetzt fand er sich geteilt zwischen Ärger und Mitleid. Eine Verlobung, die ein Erzeugnis der Atmosphäre und auf sie angewiesen ist! Konzertsaal, wir erinnern uns, herrschte keine menschenfreundliche Luft; Verlobungen aus Güte fanden nicht statt, sondern wir waren Zyniker. Einer harten Epoche folgt jedesmal die weichere. Je besser die Vorsätze, die es tragen, um so unzuverlässiger ist das Zeitalter der Liebe. Wir fürchten, ja, fürchten sehr für das Entlein.

Kein Grund, insofern es dieses besondere Mädchen angeht! Der hübsche Junge ist schwächer als sie, was sie sofort erkannt hat, als er sie, hilflos gegen seine eigene Güte, fütterte und verwöhnte. Wäre sie nicht gewiß gewesen, ihn zu haben und zu halten, sie hätte es bis zu einer Erklärung nicht kommen lassen. Immerhin –.

Das häßliche junge Entlein wird vom Glück nicht leichtsinnig. Vorsorge ist immerhin geboten: ein möglichst anschaulicher Akt sogar, damit die Verlobung unwiderruflich wird. Die Glückwünsche, die man ihr im Vorbeigehen spendet und gleich vergißt, bieten keine Sicherung. Unter Tränen, beim Aufblenden der Freude, in jedem ihrer Zustände prüft sie dennoch über beide Schultern das Haus, welche Gelegenheit sich ihr empfehle. Die gewaltige Dekoration des ältesten Gastes zieht aber so lange den Blick an, bis sie auf Gedanken bringt.

Balthasar nahm, ganz für sich, das mittlere der breiten roten Sofas ein. Auf den anderen wechselten die Inhaber, bis der Moment kam, wo sie leer blieben. Der Saal wurde darum nicht gemieden; im Gegenteil übte er nunmehr eine unvergleichliche Anziehung, wenn auch diskreter als vorher mit seinem fabelhaften Büfett. Wer sich anstellte, als wünschte er hier zu plaudern oder käme nach verzehrbaren Dingen, täuschte andere und sich.

Getränke waren kein passender Vorwand. Sie wurden schon längst in sämtlichen Räumen gereicht, nach den entlegensten nahm man sie mit. Arthur empfahl Paaren, die sich abzusondern verlangten, das Kabinett der Pompadour. Unnützerweise machte er einen Versuch, André mit Melusine dorthin zu schicken.

Dies hinkte nach, wie er sich hätte sagen müssen. Im ganzen blieb Arthur klar trotz festlicher Gehobenheit, unabhängig nahezu als einziger, von der besänftigenden Atmosphäre, auf die kein Verlaß war. Existenzkämpfer Arthur erinnerte sich mehr oder weniger ausdrücklich: Und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab! Deiner Gläubiger gedenke! Heute abend gibt es nur gute Menschen. Morgen werden sie ins Telefon sprechen: What about my check?

Nun war der Sohn, obwohl ein Fünfziger und von seinen Jahren die Hälfte im Erwerbsleben, noch keiner Chance begegnet wie dieser! Er hatte Balthasar in Wirklichkeit nicht erwartet, begriff auch nicht, warum der Alte da war– noch dazu als grand cordon: sein erster und einziger Auftritt seit den Zeiten, als die selige Mutter ein Haus machte. Damals wog er Goldmillionen. Heute, auf das grand cordon hin, traute die Welt sie ihm noch einmal zu. Solange sie in der Stimmung ist, versteht sich. Morgen – alles weggeblasen. Man verliere keine Zeit!

Der Sohn hatte beschlossen, bevor der Empfang sich auflöste die Schecks einzusammeln, ja, die Runde zu machen mit der offenen Hand. Die Gegenwart seines Vaters ermächtigte ihn: dem Reichen wird gegeben. Daher wiederholte er unentwegt: »Mein Herr Vater.« Er sagte: »Herr Präsident, der Geheimrat, mein Herr Vater wird sich besonders freuen … Mein Herr Vater, erlauben Sie mir, Ihnen den Präsidenten der Konservenindustrien vorzustellen. Die lebenswichtigsten nach den Kriegsindustrien, wenn nicht sogar in gleicher Ordnung mit ihnen, wie Sie wissen.«

»Ich weiß gar nichts«, ließ Balthasar vernehmen, die Stimme unbeteiligt wie die Haltung. Er reichte nie die Hand. »In meinem Hause verkehrten Gelehrte, die seit dreißig Jahren tot sind. Ich selbst –«

Arthur griff schleunig ein. »Sie selbst nahmen in den Wissenschaften, genau wie in den Geschäften, einen Rang ganz für sich ein. Diese Kombination ist angesichts unserer üblichen Begrenztheit selten genug, daß sie blendet!« Hierbei drückte Arthur hinter seinem Rücken auf einen Knopf. Alsbald traf von oben ein wohlgezielter Lichtstrahl das überlebensgroße Ordensgestirn. Sein Träger schien nicht zu bemerken, daß der vorgestellte Präsident oder wer es war, zurückprallte wie gebrannt. Kurzweg verabschiedet, quittierte der Überrumpelte mit einer Verbeugung, bestände sie auch nur in gesenkten Augen. Alles war verlaufen, als wäre der Vater mit dem in Sohn verabredet gewesen.

Die Zugänge des Saales standen mittlerweile unter dem Druck von Zuschauern, die sich in die Mitte nicht vorwagten. Die Leute fragten einander: »Hat der Hundertjährige Sie auch schon erschlagen?« Niemand bekam heraus, wie es zuging. Die Neugier nahm ungesunde Züge an. Arthur winkte dem Millionär, der ihm gerade reif schien. »Auf Sie wartet mein Herr Vater schon!« Bevor der kalte Herrenmensch bei dem Sofa ankam, hatte sein Herrentum gelitten, und er war erhitzt.

Entgegen sah ihm ein olympischer Geheimrat, etwas äußerst Großartiges – gesetzt, der Augenblick, es zu bemerken, wäre da. Der alte Kopf, vornehm wie höchstens Porträts; die gewölbten Brauen der launisch geschwungene Mund mit Falten der Überlegenheit. Unnachahmlich gebieterisch, der Blick dieser weiten offenen braunen Augen! Die Stirn, so hoch sie anstieg, war knochig anstatt erhaben, was der Betrachter, sein unbeirrtes Urteil einmal angenommen, zugunsten des Gesamteindruckes übersehen hätte. Ergraute Löckchen ringelten sich sinnreich über beiden Schläfen; wer denkt an Perücken, und wenn schon.

Fürstin Anastasia Babiline hatte heute abend manches besichtigt: zuletzt war alles nur mit Vorbehalt ernst zu nehmen, ihre eigene, so anschauliche Ausweisung aus der vorderen Parkettreihe, ja sogar, daß sie jetzt wieder die Carmen singen sollte. Maestro Tamburini, bis zu einem gewissen Grade ein Weiser, verweilte über seine Zeit auf diesem Empfang der Torheiten, nur ihretwegen, wie sie meinte: um sie vergessen zu lassen, was er verfehlt hatte, seine nunmehr berichtigte Weigerung, neben ihr den José zu geben.

Er findet nicht fort, meinte sie. Seine Zeit, schlafen zu gehen, ist vorbei. Mag sein, er hat sich in mich verliebt; pour un homme de la classe moyenne, une princesse a toujours trente ans. Ohne daß sie es ernster nahm als den Rest. Nach allen Eindrücken dieses Abends war Madame es gründlich müde, aus fremden Existenzen, wären sie sogar absonderlich, viel zu machen. Was alles fühlte ich für diesen Sänger, als er, vereinsamt und bedroht, oben stand? Oh! nichts. Wir haben an unserer eigenen Schwäche genug. Auch verehren könnten wir mit demselben Recht uns selbst.

Etwas weiterhin rührte der Sohn Arthur die Trommel für seinen Herrn Vater. Rot befrackt wie es richtig war, rief er seine Sehenswürdigkeit aus. Wer da noch mal will! Wer da noch mal Lust hat! Sie kamen nachgerade weniger leicht. Die Neugier hielt an, aber Vorsicht, wenn nicht Mißtrauen, war hinzugekommen. Eine unverhohlene Absage holte Arthur sich bei der berühmten Alice. »Du bist berühmter als je«, begann er. »Dein Erfolg ist unbestritten. Ein übriges! Ich führe dich meinem Herrn Vater vor.«

»Laß deinen Schwindel, Arthur!« sagte sie, wirklich leise genug, aber die Babiline hörte, über andere Gespräche hinweg verstand sie. »Wenn du einen reichen Vater hast, kaufe meinen verfallenen Schmuck zurück! Mindestens kannst du sein grand cordon versetzen. Es hat auch gar keinen Zweck, daß er aussehen möchte wie Goethe.«

Genau dies letzte hätte Anastasia einwenden können. Sie wunderte sich, daß ihr ein Wort oder Name bis jetzt gefehlt hatte. Endlich bemerkte sie auch, was ihren Maestro, entgegen seiner geordneten Einteilung, hier zurückhielt. Sie begehrte er nicht, trotz allem was von ihr übrig war, sex appeal und Titel. Um so schlimmer für ihn. Während ihrer Bemühungen, der Rede Alicens zu folgen, war er noch kleiner geworden; etwas mehr, er hätte unter dem Tisch gesessen.

»Was suchen Sie da?« fragte sie ohne echtes Erstaunen. Natürlich verschaffte er sich mittels einer Lücke zwischen den Beinen der Leute, anders ging es nicht, den Anblick des gespenstischen Geheimrates. Von ihr ertappt, kam er hoch, aus Beschämung legte er den Ton auf das sachliche Interesse der Erscheinung.

»Le phénomène en vaut la peine. Ce pesonnage serait-il, par hasar, décédé?« Er sah sie groß an. Sie erwiderte ernst:

»D'accord. Il se pourrait que ce monsieur ne soit pas, à proprement parler, de ce monde. Les revenants vous rebutent? Pas moi?«

Beide hatten sehr schnell gesprochen. Sonst erwägt man wohl eher zögernd die Gegenwart von Toten, und ob Gespenster etwas Abstoßendes hätten. Hiernach geradezu gefragt, zuckte Tamburini mit den Lidern. Auch ihr wurde bewußt, daß dieses Gespräch die Grenzen des Erlaubten zu verlassen drohte. Peinliche Pause; dann sagte sie mit gewollter Nichtachtung, aber kleiner Stimme etwas von der Maske des »Interessierten«, die, unpassend gewählt, übrigens schlecht befestigt sei.

»Il en impose à tous ces boutiquiers, avec sa copie éberluante d'un modèle qui, lui non plus, ne m'avait jamais convaincue.«

»Suppusons pourtant que l'imitation soit réussie?«

»Ce ne serait jamais qu'une édition posthume d'un grand âne solennel, ainsi que s'exprime l'écrivain Gide. C'est, en tout cas, ce que j'ai entendu répéter.«

»Et vous n'en avez pas cru vos oreillesl«

Tamburini ereiferte sich, in dem Augenblick als er einen großen Mann herabsetzen hörte. Gleichviel ob dieser, oder meinetwegen Rossini und Präsident Roosevelt –. In seiner Bestürzung stellte er zusammen, was ihm einfiel. »Eines weiß ich«, dies feierlich gesprochen »ohne das Beispiel und die beständige Gegenwart meiner großen Männer – ja, ihre innere Gegenwärtigkeit, entfiele mir auf einmal der Mut.«

Sie begriff ihn, ob sie wollte oder nicht. Nur war die Ärmste gerade jetzt in der Verfassung, Bilder zu stürzen und nicht wohl sondern wehe zu tun. Sie bedauerte ihren folgenden Ausspruch noch bevor er heraus war. Dieser Empfang müsse ihn vollauf befriedigen sagte sie dennoch. Gleich das Orchester umfasse ein Dutzend seiner geliebten großen Männer.

Er schwieg strenge. J'ai jeté un froid, sah sie. Il n'est pas près de mepardonner ce mot, que j'avais voulu spirituel et qui se révèle à peine méchant. Als er tatsächlich aufstand unter Berufung auf die späte Stunde, reichte sie ihm kühl die Hand zum Kuß, aber er küßte in die Luft. Tant pis pour lui, dachte sie. Um zusammen aufzutreten, müssen wir nicht befreundet sein. Im Gegenteil sollen wir einander schaden.


 << zurück weiter >>