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23.
Schöne Nacht

»Schöne Nacht, o Liebesnacht!« sang Poulailler, als er seinen mächtigen Wagen aus dem Innern der Stadt lenkte.

»Ewig ist der Sternenhimmel über uns und das Sittengesetz in uns«, deklamierte André, wie er es von seinem Großvater Balthasar gehört hatte. Stephanie, in der Enge an ihn gedrängt, sagte ihm unter die Nase: »Du und dein Sittengesetz!« Hieraus ergab sich ein hingehauchter Kuß; beide schonten das Zartgefühl ihres Nachbars. Schlank wie sie waren, hatten sie reichlich Platz neben dem Fahrer. Zwei Arme, die sie umeinander legten, sparten Raum.

Das Verdeck war geöffnet, im Licht der Gestirne erblickten sie einander bleich – die glitzernde Blässe der Glücklichen, die von der Welt nichts wollen, und was sie aus sich selbst sind, sind sie. Er erklärte es ihnen auch. »Ich sehe gut aus«, sagte er. »Denn ich fühle, daß die Chance für mich ist.«

»Wir sind jung!« antworteten sie einmütig.

»Erstens«, sagte der Abenteurer auf bestem Wege nach den Vierzig. »Und dann denkt euch einen Schrank!« Er ließ Nina unerwähnt, beschrieb ihr Zimmer nicht, nur den Schrank und was er mit ihm aufgeführt. »Denkt euch das gewaltige Möbelstück!« André, der es kannte, sagte leise: »Die Hälfte.«

»Es senkt sich, droht umzufallen, wird jemand tödlich treffen.« Poulailler dramatisierte, noch dazu ohne Hände, da er steuerte. »Droben ich, wie Gott mich geschaffen. Ein Menschenleben hängt einzig an der Kraft meiner Beinmuskeln, die den Schrank aufhalten, ihn unglaublicherweise rückwärts bewegen. Es hängt an meiner geistigen Befähigung, dem höheren Sinn, den man hat oder nicht hat, für das immanente Gleichgewicht der Existenz und Welt.«

»Hing es nicht vielleicht an einem Nagel?« vermutete André. Aber Poulailler hatte den Haken fortgedacht und fand ihn nicht wieder. »Wieso?« fragte er, ohne sich dabei aufzuhalten.

»Ich gestehe, daß ich glücklich bin«, sprach er rein und schön. André bemerkte: »Aber Poulailler, mit einer Tenorstimme wie Ihrer müssen Sie doch nicht einbrechen. Wenden Sie sich an Arthur!«

Stephanie: »Ich glaube fest, daß er auf dem Empfang bei der Welt das einzige starke Talent war. Trotzdem muß er einbrechen, wenn noch so oft erfolglos.«

Poulailler: »Nicht der Erfolg entscheidet, sondern die Energie des Abenteurers. Mir fehlt das Anfangskapital, sonst brächte ich es gleich einem Trustmagnaten bis zu der Entfesselung von Kriegen, der universalen Verarmung, meine natürlich ausgenommen. Es wird kommen. Ich verzweifle nicht, im Gegenteil. Hat schon ein Liebender auf dem Weg zu dem begehrten Gegenstand den Mut verloren?«

André: »Nie sah ich Sie so angeregt.« Stephanie ins Ohr: »Aber auch indiskret.«

Sie wurde ganz leise; das Geräusch der Fahrt machte so gut wie unmöglich, sie zu verstehen. »Laß ihn ausplaudern! Uns kann er nichts mehr verraten.« Auch André wollte reden, aber sie legte die Finger auf die Lippen, da ließ er es. Anstatt seiner flüsterte sie:

»Er fährt zu seinem Einbruch bei Melusine. Er meint, sie habe die Schecks von Nolus.«

Trotz Verbot sagte André: »Du selbst hast gesehen, daß Nolus sie ihr gab.«

Stephanie, nicht mehr hörbar: »Er gab ihr ein Päckchen. Interessant ist seine Geschichte mit dem Schrank. Er leistet akrobatisch das mögliche. In der Kleidung, die der andere an, oder nicht mehr anhat, liegt das richtige Päckchen. Ach Unsinn«, schloß sie.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte André gehört: »Der Unglückliche!« rief er halblaut. Poulailler war es, der ihm recht gab.

»Der Unglückliche wird versucht sein, Selbstmord zu begehen, wenn alles wieder dahin ist. Aber seit lange gewohnt, das Unhaltbare mit Anstand verloren zu geben, wird er bald eine ungeahnte Erleichterung fühlen.«

»Von wem reden Sie?«

»Von Ihrem leichtsinnigen alten Herrn. Fällt Ihnen nicht auf, mein Junge, daß soviel Geld in seinen Händen tödliche Verlegenheiten heraufbeschwören muß? Wie kann er es wieder los werden?«

»Unbesorgt, das Mittel findet er«, meinte der Sohn. Stephanie berichtigte:

»Auf Umwegen – ja. Seine Bemühungen, mit dem Geld fertig zu werden, führen nach aller Wahrscheinlichkeit über Zusammenbrüche, Gefängnisstrafen von Hunderten von Jahren, massenhafte Entlassungen, was noch. Das soziale Dickicht ahne ich nur.«

»Sie ahnen vorzüglich, meine Dame«, bemerkte der Mann am Steuer. »Unsere Weltanschauungen decken sich nicht, aber man könnte sie verwechseln.«

»Tatsächlich, Stephanie«, sagte André. »Aus ähnlichen Gründen bedauerten wir unsere Eltern, ihre übertriebene Vitalität. Poulailler seinerseits leidet daran auch.«

»Ich, leiden?« Poulailler widersprach nicht weiter, er sang: »Pour-quoi me réveiller – Au souffle du printemps.«

Hier atmete im Hauch des Morgens eine Spur von Flieder sie an. Sie waren nunmehr in der üppigen Parkstraße, die weder Sorgen noch Gewissen kennt; sondern jede der wenigen Villen hält ihre eigene Bodenerhebung besetzt und weiß sich auf der Höhe. Die Sterne sind verblaßt, ein Himmel, fahl wie nach zahllosen Umarmungen, umfängt die hingegebenen Gärten: ihre Laubwolken schlummern in Farben, die noch unnennbar sind. Einziger starker Fleck: die kreidige Fläche eines Hauses weit drüben, soviel die Bäume von ihr aufdecken.

»Hier sind wir« – André deutete nach dem offenen Gitter. Aber Poulailler lenkte schon hinein. Er hatte die Zähne aufeinander, wie man sah. Er überhörte, was Stephanie verlangte: »Hier wünsche ich auszusteigen.«

Seine Veränderung erschreckte Stephanie. Sie riet dem Jungen: »Besser gleich ein Kinnhaken?«

»Wenn Sie erst lange fragen, bin ich schneller«, murrte der Kavalier zwischen seinen geschlossenen Zähnen.

»Soeben sangen Sie«, sagte das Mädchen, um sich zu entschuldigen. André, während der Park schon anstieg: »Sie haben sich uns anvertraut. Sie kennen uns als moderne junge Menschen.«

»C'est à dire, des imbéciles«, sprach er hinter seinen Zähnen, es konnte auch etwas anderes bedeuten.

»Ihre Geheimnisse sind keine mehr. Wollen Sie lieber davon absehen einzubrechen. Ich würde bedauern.« Da Stephanie ihn anstieß: »Wir beide bedauern wirklich.«

»Kein Grund. Ich werde nicht einbrechen. Sie tun es selbst.« Niemand begriff ihn, aber Poulailler hatte Zeit; den weichen Weg fuhr er langsam und geräuschlos. Inzwischen lernten sie verstehen. »Ich wünsche in der Sache unsichtbar zu bleiben«, erklärte der Mentor. »Sie als Sohn eines Beteiligten werden unauffällig die Schecks erheben. Es ist nicht nur das. Ich freue mich, euch das Leben in voller Gestalt zu zeigen. Gebt doch eure Skepsis auf. Les plus dégoûtés sont les plus dégoûtants«, sagte er, wenig zart, aber war die Lage es?

Das Haus war nächstens erreicht, zwischen ihm und der Entscheidung kein Raum mehr. André begegnete einer Hand, die Stephanie umwendete, das Innere nach oben. Es hieß klar, als ob sie gesprochen hätte: Nichts zu machen, und wozu.

Poulailler fragte stumm, er wendete nur das Gesicht: geduldig zeigte André ihm die Durchfahrt. Die lange Rückseite des Gebäudes hatte unter allen Fenstern nur ein erhelltes, und auch nur schwach. Dort legte Poulailler an.

»Falsch, warum fragen Sie nicht. An der Treppe nach der Wohnung der Tochter sind Sie vorbei.«

»Sie werden die Mutter nicht ängstigen wollen«, behauptete die Tochter. Poulailler, über Rücksichten hinweg:

»Dies ist ihr Schlafzimmer.« Schweigen. Die Feststellung war bestätigt. »Ans Werk«, raunte der berühmte Spezialist. Man mochte wollen oder nicht, er forderte Bewunderung. Ein Griff, das Verdeck des Wagens war aufgerichtet, eine Handbewegung wies den Jungen an, hinaufzusteigen.

André betrachtete es von außen. »Es ist nicht fest genug«, äußerte er. Seinen wirklichen Zweifel, ob das Gesimse des Fensters ihm nicht zu hoch liege, hätte er für sich behalten. Der Meister durchschaute ihn.

»Junger Mann! Das erstemal in Ihrem Leben sollen Sie sich sozial einordnen und ein Risiko übernehmen.«

Stephanie sagte: »Schäme dich, André.« Scheinbar ließ sie im ungewissen, wessen er sich zu schämen habe. Nach dem Verdeck hinauf gab sie Zeichen ihrer Augen, legte auch den Kopf auf die Seite, wohin sie sich zu wenden gedachte, während er kletterte. Der Wagen trennte sie von Poulailler, er sah von ihrem Manöver nichts; trotzdem antwortete er pünktlich:

»Fräulein, tun Sie, was Sie vorhaben, aber verlieren Sie möglichst wenig Zeit! Ihre Wohnung hat eine Verbindung nach diesem Schlafzimmer. Sie könnten Ihre Frau Mutter aufwecken, Sie werden es sich versagen.«

»Ganz gewiß«, sagte Stephanie und kam auf seine Seite. »Schon weil sie nicht schläft.«

»Meinetwegen schläft sie nicht, hat sogar Gesellschaft und bewacht ihren Schatz.«

»Alles sieht er voraus!« sagte Stephanie entzückt. André versuchte sich an der Fassade.

Poulailler: »Ich weiß mehr. Sie, das wohlerzogenste Mädchen, werden unserem Amateur in das Fenster hineinhelfen. Mit den Geheimnissen des Schreibtisches machen Sie ihn bekannt. Sie sind es, die mir das Portefeuille zuwerfen wird.«

Stephanie, die Atmung etwas beschleunigt: »Das heißt im Grunde: ich betrüge ihn – mit seinem unsterblichen Vorbild? Das sind Sie, Meister?«

Poulailler: »Drücken Sie es ironisch aus, es bleibt, wie es ist. Ich habe im Existenzkampf noch nichts unternommen, das nicht erotisch bestimmt gewesen wäre, und siegte ich, hatte ich auch die Frau.«

Stephanie: »Aber Meister! Sie schwärmen und verplaudern sich. Inzwischen hört man uns. Wer weiß, wie es ausgeht.«

Poulailler: »Skandal – für dies Geld? Seien Sie froh, wenn ich es abhole! Aber Sie sind erleichtert, sind beglückt!«

Sie schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Möchten Sie nicht Ihr Stalingrad erleben!« wünschte sie ihm und verschwand. Kurz darauf öffnete sie von innen das Fenster. Tatsächlich streckte sie beide Arme hinunter als den Halt, dessen ihr Verlobter mehr als je bedurfte. Die Hände an dem glatten Gesims, kam er nicht weiter, er wäre immer noch abgestürzt.

Poulailler verharrte regungslos, das Gesicht irgendwohin anstatt aufwärts gerichtet: er wartete nicht. Bevor ihm zumut wurde, als wartete er, begann er zu rauchen. Droben kam ein Raunen auf, überflüssig, außer bei einschneidenden Veränderungen. »Wozu das remue-ménage?« Er überzeugte sich endlich, daß die Lampe ihren Platz gewechselt hatte, die Schatten hinter der Gardine wurden besonders scharf. Eine Weile, die er langwierig fand, schienen sie unbeschäftigt.

Plötzlich wuchsen sie hoch, ein Rätsel, was vorging mit den Schatten. Sie bekamen ruckartige Bewegungen, eher anspruchsvoll, meinte der unzufriedene Betrachter. Parodierten sie ihren außerordentlichen Fund? Diese jugendlichen Verächter waren alles imstand, nur nicht das Nächste, ihre einfache Pflicht. Poulailler fühlte sich vergessen.

»Ich warte«, sprach er ruhig, aber zu hören war, daß er im Augenblick droben sein werde. Alsbald geschah ihm sein Wille. Aus dem Spalt des Fensters langte ein nackter Arm. Etwas Weißliches schwenkte er hin und her, als scherzte er darüber, als lockte er damit. Hiervon gebannt, bemerkte Poulailler erst die zehnte Sekunde nachher, daß Stephanie auch ihr Gesicht in den dämmernden Morgen hielt und daß sie ihm die Zunge zeigte. Mir? Die Zunge? Aber ich erkenne die lockere Art, wenn sie handeln sollen. Beide Kinder sind verrückt geworden.

Er nahm es nicht zur Kenntnis, öffnete nur die Hand: »Öffnen Sie Ihre kleine Hand!« bat dieses Mädchen; und er fing auf, was sie fallen ließ. Aus dem Umschlag riß er den Inhalt, beugte sich, blätterte, beugte sich tiefer, blätterte fieberhaft. Schuld hatte das ungewisse Grauen der Frühe. Die Schuld trug seine lächerliche Erregung. Er wäre besser nicht zu Nina gegangen. Mehreres hätte er sich schenken können, der Tag war zu voll besetzt gewesen und sollte ausreichen für diesen Abschluß – nicht des Tages allein: einer Laufbahn, eines kühnen Kampfes, wenn jemals einer kühn ist, um das Glück, mehr, um die Existenz!

Er fühlte: diesmal war es zu viel. Man darf es schwer haben in einem ungewöhnlichen Beruf. Nichts dawider, wir sind abgehärtet. Dies überschritt jedes Training der Mißerfolge. Ihm war kalt geworden; nur deshalb fand er sich auf den Kissen seines Wagens wieder: Nicht um zu lesen. Die Lampe drehte er gleich wieder aus, sie war schwächer als was der Himmel an Beleuchtung bewilligte.

Poulailler hatte weiße Lippen, aber niemand sah es. Augen wie Schrauben waren nie vorher an ihm bemerkt worden, er kannte sie selbst nicht. Der Gedanke, dessentwegen er hier saß, bohrend und todbleich: Ich werde morden. Es ist der Fall, dem ich nie zu begegnen dachte. Herr, dein Wille geschehe! Er lästerte nicht, denn seine Tränen stürzten hervor. Sein Atem ging heftig genug, um droben gehört zu werden. Man rief ihn. Er erwachte aus seinem Schreckenstraum.

Sein Herz schlug normal, der Ausbruch von kaltem Schweiß war beendet, seiner Miene nichts anzusehen, als er in das Fenster der ersten Etage stieg. Ihm mußte kein schöner Arm hineinhelfen. Er hatte nicht einmal das Verdeck seines Wagens benutzt, stand nunmehr im Zimmer mit seinem höflich harten Kavaliersgesicht. Gegenüber hatte er wohl die Kinder, von denen er wußte, aber auch ihre Eltern, die nicht vorgesehen waren. Ihm machten sie nichts aus.

Er grüßte in die Runde, sein Kinn blieb erhoben. Die Stimme verstärkte er nicht. »Die Herrschaften sind vollzählig zugegen. Niemand von Ihnen will das Gelingen seines Scherzes versäumen.«

Nichts erfolgte, keine Erwiderung, und wäre sie gemimt. Die Stellungen waren vorher eingenommen, die Figuren sahen sämtlich in die Luft, Arthur hielt einen Arm waagerecht in der Schwebe, den ihren ließ Melusine von seiner Schulter hängen. André und Stephanie hatten vielmehr ein Tischchen zwischen sich gebracht, seine Haltung war aus Verlegenheit unbescheiden. Die einzige, nicht im Schlußbild einer Oper mitzuwirken, war Stephanie. Da er nicht die Wahl hatte, wendete Poulailler sich an sie.

»Mein Fräulein! Sie sind scheinbar allein noch liquid. Die eingefrorenen Mitglieder Ihrer Familie sollten durch Sie erfahren, wer ihnen die Ehre eines Besuches schon bei grauendem Morgen erweist.«

»Ehre erweist«, wiederholte Stephanie geduldig, um es zu behalten. »Erstens ein Tenor höchsten Ranges, wie Sie wissen. Der Künstler ist Millionär und weltberühmt, sobald es ihm beliebt.« Auch dies mußte einmal heraus, das einzige Mal, so Gott will. Die in sich abgeschlossenen Figuren, ihre szenische Anordnung reizte Poulailler unwiderstehlich, daß er sich gehen lasse. Stephanie warnte ihn. »Sehen Sie sich vor, Poulailler!«

Hieran nahm er Ärgernis. »Dégonflez-vous! Ich bin normal, hier bin ich der einzige. Ihr alle seid das gerade Gegenteil. Wer uns sähe, die Polizei sogar hätte unfehlbar den Eindruck, ich sei erwartet, sei gerufen: es steht in allen Mienen. Sie selbst flüsterten auf der Herfahrt von den Schecks – aber wozu noch flüstern, Bandit Nolus übergab sie einer bekannten Schönheit, ich sah es selbst. Man ließ es mich sehen.«

»Mich auch. Aber was sahen wir wirklich?« warf Stephanie ein. Ihn hielt es nicht auf. Die furchtbare Wahrheit, die ihn bedrängte und alsbald überwältigen mußte, zu betäuben, wenn noch so schwach, war sie nur mit Reden.

»Dieses Geld ist aller Welt unbequem geworden, den Gebern, Empfängern, einem Nolus, der es stehlen wollte, und euch, feinfühligen Damen und Herren, denen er zuletzt vorzog, es auszuliefern. So verdient man nicht, bei freiester privater Initiative nicht.«

»Sie unterschätzen uns«, meldete hier Arthur und ließ seinen schwebenden Arm fallen. »Wir waren entschlossen zu verdienen.« Umsonst, er fand keine Beachtung. Angst vor dem unausweichlichen Ende beherrschte Poulailler ganz. Jetzt gab er selbst die Figur in festgelegter Stellung. Für lange war es nicht, aber ein Fuß schien beflügelt und beide Hände schätzten mit gespreizten Fingern den Hals.

»Mir die Kehle zudrücken, etwas Klügeres konnte den Herrschaften nicht einfallen. Im Besitz des echten Paketes spielen Sie mir diesen falschen Plunder zu« – das Genannte durchmaß wie von selbst die Luft, plötzlich lag es auf dem zierlichen Möbel zwischen Stephanie und André. Lieber betrachteten sie es von oben, als daß sie den Wirrsalen eines Unglücklichen folgten. Sie hatten ihm alles vorausgesagt, aber man weidet sich nicht.

»Angenommen, ich stecke es unbesehen ein«, sprach Poulailler, das Letzte, was Klang und Würde hatte. »Noch heute wird man erfahren, daß ich flüchtig bin. Wahr oder nicht, ich kann nichts machen, ihr behaltet das Geld. Wer steht hier mit dem größten Recht und wahrt es?« Eine Frage voll bitteren Triumphes.

Was Redner nach Lage der Dinge nicht erwarten konnte, alle blickten schuldbewußt. Waren sie besseren Glaubens als er selbst? André sagte sogar: »Entschuldigen Sie den Vorfall, Herr Poulailler.« Aber wie man ihn kannte, hätte er sich entgegenkommend geäußert, auch wenn der Kavalier die authentischen Werte an der Brust trüge und sie mit der Waffe verteidigte. Nein, André überzeugte nicht. Er hätte jedem Beliebigen recht, sich unrecht gegeben, dies aus bloßer Bequemlichkeit.

Es wurde Zeit, daß ein ernst begründetes Wohlwollen zu Worte kam. Melusine nahm ihren Arm von der Schulter Arthurs, sie machte Miene, ihn Poulailler hinzureichen; nur bestand keine Einigung, wer dem anderen entgegengehe. Genug, Melusine sprach.

»Ihre Auffassung, Herr Poulailler, ist richtig. Wir haben Sie hergelockt. Wenn es besser klingt, haben wir Sie eingeladen. Beglückwünschen Sie mich, ich bin glücklich. Arthur und ich werden heiraten.«

»Ich wäre der Erste –?«

»Sie sind es. Die beiden Kinder wußten auch nichts, aber ihre eigene Verlobung interessiert sie mehr als unsere.« Mit der Hand, sehr flüchtig, warnte sie die jungen Leute, sich zu rühren, bevor nicht Poulailler erledigt wäre. Sie hätten sich ohnedies der Kundgebungen enthalten.

»Das Geschäftliche?« Melusine hob ihre schönen Schultern. »Gewiß behält es seine Rechte. Haben Sie gefunden, daß Existenzkampf und Liebe einander widersprechen?«

»Das wäre die verkehrte Welt«, sagte Poulailler, bevor Arthur etwas Ähnliches sagen konnte; er ließ es bei der Geste.

Melusine, etwas verschleierte Stimme, denn schließlich, eine beruhigende Aussprache war dies nicht: »Wir sitzen nicht einmal.« Nachdem sie gewartet hatte: »Gut, wir stehen. Ich sagte, das Geschäft bleibe, was es ist; in keiner Ekstase vergäße man es ganz. Hiernach glauben Sie mir meine Aufrichtigkeit. Die Entdeckung, daß Nolus uns betrogen hat, war vielleicht, als wir sie machten, keine wirkliche Entdeckung mehr. Feststeht: er hat uns betrogen. Sie zweifeln nicht, es ist Ihnen anzusehen.«

Ihm war hauptsächlich anzusehen, daß er die Augen schloß und sogleich zusammenbrechen werde. »Einen Stuhl!« sagte Melusine, aber Arthur hatte ihn schon hingeschoben; er wachte darüber, daß Poulailler nicht zu Boden falle.

Die Ergriffenste war Stephanie. »Und ich habe ihm nicht deutlich genug gesagt, daß hier nichts zu holen sei. Ich, die es wußte! Aber wußte ich es? Können Sie mir verzeihen, Herr Poulailler?«

André kam mit Kognak, vermochte ihn nur leider dem Verunglückten nicht beizubringen. Sein Kinn war eisern an die Brust gedrückt. Unter seinen Lidern hervor quollen Tropfen und benäßten das Frackhemd.

Arthur sagte: »Eigentlich ohnmächtig ist er nicht. Abwesend, armer Kerl, ich kenne das.«

Melusine, die es nie gedacht hätte, fand den Kavalier reizend, jetzt im geschwächten Zustand. Was ihr Geliebter diese Nacht an ihr getan, machte sie nicht unempfänglich, im Gegenteil. Sie strich sanft über sein entfärbtes, feuchtes Angesicht. »Ein Mensch wie wir«, seufzte sie. »Muß sehr leiden – im Grunde durch uns.« Sie sah umher, niemand war ausdrücklich anderer Meinung.

Da nahm Poulailler ihre Hand von seiner Stirn fort und küßte sie.

»Sagte ich es nicht?« bemerkte Arthur. »Sein Kollaps war moralisch.«

Dies bezeugte alsbald der Patient selbst, mit einer Tränenflut, jäh und rücksichtslos; Melusine entzog ihm die überschwemmte Hand.

»Weinen Sie nicht so furchtbar! Sonst weine ich mit!« André war es, der ihn beschwor. Poulailler, anstatt zu hören, krümmte sich aufgelöst bis zwischen seine Knie. Man erwartete, er werde auf allen vieren seiner Wege gehen.

»Das ist zuviel Reue für einen versäumten Gewinn«, sagte Melusine.

»Ihn reut das versäumte Leben«, sagte Stephanie.

Arthur erklärte: »Der Existenzkampf kennt diese Krisen.« Poulailler hatte selbst etwas mitzuteilen. Infolge vieler Feuchtigkeit kam es anfangs etwas unverständlich aus seinen weißen Zähnen. Er zeigte sie, man konnte meinen, daß er sie fletschte. Nach dem Kopf hob er den Rücken, endlich stand er auf zwei Beinen und schrie.

»Seinen Frack! Er hatte ihn ausgezogen.«

»Wer? Wo?« fragte Melusine unbesonnen.

Stephanie, sachlich: »Nolus. Bei Nina.«

»Ich, auf dem kippenden Schrank über ihm, er, gelähmt von Angst, und in seinem Frack, vor meinen Augen, das Paket! Wenn das wahr ist, bin ich ein toter Mann, habe nie gelebt. Nie gelebt!« kreischte der Betrogene und machte sich auf, durch das Zimmer zu laufen, die Hände um beide Ohren. Es war schwer, noch mitzugehen.

»Die Zumutung an meine Nerven ist übertrieben«, murmelte André und wollte sich setzen. Der Rasende zog ihm den Stuhl weg, er schmetterte das zarte Stück gegen die Wand.

»Kennen wir alles«, wiederholte Arthur, an dessen Schulter sich Melusine lehnte, diesmal des Schutzes wegen.

»Er ist gerettet, er spielt Komödie«, meinte Stephanie.

Poulailler, der einsam durch seine Wildnis irrte, blieb sofort stehen. »Meine Komödie wird Ihnen gefallen, Fräulein. Ihres Beifalls bin ich sicher, wenn ich mit diesen meinen Händen einen Herrn Nolus erwürge.«

»Ein Mord?« Melusine wendete sich an Arthur privat. »Ist das in Geschäften schon zulässig?«

»Crime doesn't pay«, antwortete Arthur.

»Wieso?« fragte Poulailler. »Meine Verbrecherlaufbahn war nicht ergebnislos«, behauptete er, während er von dem gefährlichen Kavalier das Wesentliche zurückbekam. »Die Laufbahn meines Freundes, des allmächtigen Präsidenten, sieht im Formalen anders aus. Seit gestern hat er mir nichts abzuschlagen. So gut wie ihm, wäre auch mir ein kleiner Mord erlaubt.«

»Richtig«, Arthur sprach angeregt. »Endlich, lieber Freund, sind Sie angelangt, wo ich Sie längst erwartete.«

»Beim Mord?« fragten mehrere gleichzeitig.

»Bei Verhandlungen. Wenn wir Nolus hier an den Tisch bekommen, kann er sich für erledigt betrachten. Wir nehmen ihm, sei es auf unblutige Art, das meiste wieder ab.«

Der in Rede stehende Tisch, eine durchbrochene Schnitzerei mit seidener Platte, war angenehm zu berühren. Einmal die Hand darauf, ließ Arthur sich an ihm nieder. Melusine folgte alsbald. André holte seinen Stuhl von der Wand, gegen die Poulailler ihn geschleudert hatte. Er dachte, Stephanie mit ihm zu versorgen, aber sie hatte schon einen von Poulailler, der auch sich einen Platz nahm, ohne Umstände zu machen.

Er saß sogar zwischen den Damen, mit weichen Augen stellte er die Verbindung her. Auch erkannte er nunmehr den seidenen Tisch, das gesteppte Bettgestell in silbernem Rahmen, und die Vorhänge aus rotem Damast, zwischen denen er eingestiegen war. Alles fand den sicheren Weg zu seinen Sinnen. Während Arthur umsonst seine Aufmerksamkeit geschäftlich beanspruchte, bat Poulailler um die Erlaubnis, ein Kleid Melusines vom Bett zu nehmen, und beurteilte es ohne Schmeichelei, nur kenntnisreich.

»Auch als le bon faiseur hätten Sie bei uns Glück gehabt«, sagten die Damen, bestrebt, ihn für das Ausgestandene zu entschädigen. Er verbeugte sich, einverstanden, ihr Schneider zu sein.

Arthur, zu Melusine: »Gesunde Wiedergeburt, nach einer vernichtenden Niederlage. Jetzt wäre der Moment, in den Keller hinabzusteigen.«

Poulailler, hört »Keller«: »Kein Keller!« schreit er auf.

Arthur: »Ein Rückfall? Ich meinte doch nur –«

Poulailler, hört nicht, würde vom Stuhl aufspringen, wenn Stephanie ihm nicht hinter der Lehne die Hände zusammenhielte. In dieser Lage: »Ihr habt das Gold im Keller vergraben! Ich bin abergläubisch, ich will es nicht suchen, ich nicht mehr. Damit ich eine Leiche finde? Die Leiche Nolus? Mich schickt ihr in den Keller!«

Dies war eine Unterstellung, keine gute, überdies heller Wahnsinn, wie Melusine es auch nannte. »Der arme brave Mensch ist noch recht anfällig«, sagte sie zu Arthur. »Er glaubt noch immer, wir hätten ihn um die Schecks geprellt, und jetzt sollen wir ihn in den Verdacht eines Mordes bringen wollen, haben den Mord aber selbst begangen. Es ist viel auf einmal.«

»Er wird es vergessen«, erwiderte Arthur unbesorgt. »In seinem Beruf – nun, und unserer? – ist man par définition labil. Sich erziehen zur Beharrlichkeit! Ich hatte meinen Plan, als ich ihm deinen sac vor die Nase hinlegte. Es bleibt dabei.«

»Ich bewundere dich«, sagte Melusine.

Arthur rief: »Poulailler, Keller! Nun gut, auf das Wort Keller hören Sie. Jetzt versuchen Sie zu begreifen, daß ich einfach Wein holen will aus dem Keller.«

Vielleicht, daß Poulailler begriff. Jedenfalls hatte er leere Augen und war schneeweiß. Unruhe zeigte er nicht, obwohl Stephanie seine Hände freigegeben hatte. Sie wendete allen den Rücken, sie und André brachten ihre Gesichter einander nahe. Beide steckten die Köpfe zusammen, je unerwarteter die Anspielungen, die zu fallen schienen.

Abwechselnd flüsterten sie:

»Gold im Keller vergraben.«

»Eine Leiche finden.«

»Einfach Wein holen aus dem Keller.«

Sie wußten, was sie meinten. In der ersten Überraschung glaubten sie wahrhaftig, Arthur höre selbst den Doppelsinn seiner Rede; auch Melusine; sogar Poulailler. »Eine Leiche finden« – sie lasen es nochmals einander von den Lippen. In unbewußter Übereinkunft verließen sie ihre Sitze und verschwanden, wohin ging niemand an.

Sie begaben sich, immer ohne daran zu denken, durch die doppelte Tür nach der Flucht von Zimmern, wo das junge Mädchen bei sich zu Haus war. Sie gelangten bis an das Ende: Nur noch der Balkon; dort standen sie umgeben von einer Landschaft aus umlaubten Hügeln, Wogen von Blüten schlugen zu ihnen hinan, das Licht des Morgens badete sie. Einander in die Arme nehmen, wäre alles, was not tat. Hinter ihren Sorgen und Ängsten fühlten sie es wohl, aber in so geraden Zügen verläuft es für andere, nicht für uns.

Stephanie: »Du hattest recht, auch Arthur hat eine Ahnung. Er spricht von Gold und Wein. Das sind die Fässer, die du gesehen hast – im Keller Balthasars.«

André: »Ich habe sie nicht gesehen. Vielleicht ja, vielleicht nein.«

Stephanie: »Ich brauche keinen Augenschein. Ich bin überzeugt.«

André: »Es war nicht Arthur. Erinnere dich! Poulailler, in seiner Verstörtheit, sprach von dem Keller voll Gold und Wein. Nein! Wein sagte Arthur. Gold, der andere. Damit heute einer von Gold spricht, ein Wort statt einer Sache, muß er die Zusammenhänge verloren haben. Das ist nicht Arthur.«

Stephanie: »Noch schlimmer, daß auch Poulailler –. Dein Traum, was du so nennst, muß bekannter sein als wir meinen. Sprichst du im Schlaf? Gleichviel, warnen wir Balthasar! Es ist Zeit, alles sagt mir, wie sehr. Auch das Wort Mord kam vor.« Ohne Überzeugung: »Man meinte Nolus.«

André: »Eine Leiche finden, kam vor. Wer damit umgeht, die Leiche zu besorgen, verkündet der es? Und sie sprachen von Nolus. Redensart, wer ermordet schon Nolus. Den meinen sie nicht.«

Stephanie entsetzt: »Wen dann, wen? Der eigene Sohn wäre mit dabei? Warum nicht auch Melusine? Ihr Liebesglück kann bestimmt sein, sie vor Verdacht zu schützen. Oh! Ich bin schändlich.«

Sie brach in Schluchzen aus, und was der Frühling nicht vermocht hatte, der Schmerz warf beide Kinder einander in die Arme. André wimmerte hörbar. Das Schluchzen Stephanies erstickte stumm, um so inniger erfüllte es sie, schwer und ohne Trost. Er hielt es nicht aus. »Wenn wir uns lauter Unsinn einbildeten?« schlug er vor. »In unserem Zustand hört die Pietät auf – mit ihr jede Zuverlässigkeit –, wir reden irre.«

Sie rang nach Atem um zu sagen: »Könnte ich es glauben. Die Einzelheiten stimmen zu gut überein.«

»Aber die Personen, die wir kennen. Deine Mutter!«

»Ihr Existenzkampf. Mein armer Junge, kennst du jeden seiner Zustände? Ja: von deinem Vater.«

»Beide haben Poulailler um nichts zu beneiden«, gab er zu.

»Drei Verzweifelte« – sie riß weit ihre Augen auf, sie sah. »Drinnen sitzen drei Verzweifelte, in die Enge gedrängt, nichts kann mehr helfen als –«

»Als ein –.« Auch ihm wollte das verhängnisvolle Wort nicht nochmals heraus. »C'est vrai qu'ils sont acculés aux moyens forts«, sagte er und entschuldigte die gescheiterten Vorgänger.

Hier machten sie eine Pause, das Bedürfnis, sich abzulenken, litt keinen Aufschub. Er strich ihr verwehte Haare aus dem Gesicht. Dies erinnerte sie daran, daß sie ihren geröteten Lidern aufhelfen müsse. Einmal dabei, puderte sie auch ihn. Der Spiegel sagte ihr: Man sieht euch die Nacht an und den Morgen. Geht jetzt nicht zu Balthasar, ihr würdet ihn erschrecken!

Sie war in Verlegenheit wegen ihrer Sinnesänderung, da sprach André: »Schließlich ist er neunzig, wieviel darf man ihm zumuten? Wenn andere ihm übel wollen, was ich nicht glauben kann, tödlich wäre am Ende auch gewesen, was wir selbst vorhatten: ihn warnen.«

»Später mehr«, schloß Stephanie. Sie ergriff seinen Arm fest, damit er fühlte: Erleichtert. Nur sie kann es. Denn ihr selbst war es hiernach gewiß wie nie: Ihn hab ich, und nur ihn.

Nicht, daß sie hochgemut eingetroffen wären bei den Zurückgelassenen. Im Gegenteil, ihnen wurde zaghaft vom Näherkommen. Schließlich hatten sie ihren Austausch von Meinungen – und von Berührungen für sich allein gehabt draußen im Frühling. Die Personen hier drinnen waren unbeteiligt, sie saßen in ihrem eigenen Dunst, sogar die Lampen brannten. Die Auffassungen waren vielleicht ebensowenig abgestellt. Es wäre albern, aber schrecklich, übrigens sollte man es ihnen im Ernst nicht zutrauen. Die jungen Leute begannen damit, daß sie das Licht ausschalteten und die Fenster öffneten.

»Ein guter Gedanke«, bemerkte Arthur.

Melusine wendete das Gesicht fort, ihre Augen waren nicht angepaßt – stand auf, ging ein Zimmer weiter und schloß die Tür.

»Se faire une beauté und wieder neu sein wie der Tag, wundervoll!« sagte Arthur, worauf André: »Wir haben es auch getan.« Alles in der Absicht, die reife Schönheit möge es hören, gesetzt, sie ließe einen Spalt.

Poulailler saß im Sessel bequem, hatte ein Bein übergeschlagen und trank Rotwein, den er über die Zunge fließen ließ, mit wirklicher Hingabe an jeden Schluck. Nicht zu verkennen, daß dies ein anderer Mann war, abgelegt die ewige Gespanntheit, der gestiefelte Kater ruhte aus und schnurrte friedlich. Es machte ihn älter.

»Annähernd, natürlich fehlen einige Jahre, könnte ich euer Vater sein.« So begrüßte er das junge Paar. »Ich darf euch sagen, daß in eurem Alter eine tolle Nacht einfach ausgelöscht werden kann, durch Liebe.«

»Ihr seht erfrischt aus. Übrigens seid ihr eine ganze Weile fortgeblieben.« Dies sprach der echte Vater Arthur, trank aber nicht den Angeredeten zu. Mit seinem Kumpan stieß er an, worauf sie eine zweite oder dritte Flasche unternahmen. Jeder wollte dem anderen die Mühe, sie aufzumachen, ersparen: rechte Geschäftsfreunde, beide sind von der Teilhaberschaft befriedigt oder erwarten das Beste.

André holte nicht nur Gläser, er fand auch vor der Küchentür den Beutel mit den frischen Brötchen: ein Märchen aus uralten Zeiten, seine Großmutter, als sie lebte, erzählte davon. Märchenhaftes kommt vor. Wohlverstanden führte sein Weg ihn durch das Ankleidezimmer Melusines: sie war nicht hier, aber seitwärts ließ sich ein Plätschern hören. Sie saß in der Badewanne; ein Spiegel, der doch wohl mit Vorbedacht angebracht war, zeigte ihm den genauen Ausschnitt, nicht mehr als nötig, und gleich war er vorbei.

Zweifelhaft, ob sie ihn gesehen hatte. Tat er in dem fraglichen Augenblick einen einzigen Schritt vom Teppich herunter, sie hätte sich melden müssen; rief: Wer ist es? Oder befahl: André! Wäre er gekommen? Oh! nein. Aber sie hätte ihn auch nicht eingeladen, wieso denn. Vor – wie vielen Stunden, mag sein. Jetzt war beschlossen, daß sie Arthur liebte, er Stephanie. Das war wunderschön. Es war, wenn man wollte, auch langweilig.

Es schränkt die verschwenderische Jugend ein, wenn man nicht mehr vier Bewerberinnen unter Vorbehalt der Entscheidung hat, sondern nur noch die Erwählte und keine Wahl. Es könnte traurig machen. Ja, so verstanden, war der Beutel mit frischen Brötchen, der den hungrigen jungen Menschen aufrichtig erfreute, ein schwacher Trost für seine verlorene Freiheit. Er verschwieg es nicht: er hätte weinen mögen. Darum aß er sofort ein großes Hörnchen.

Auf dem Rückweg durch die Gemächer kaute er und hielt die Augen gesenkt. Das bewußte Geplätscher erregte diesmal seine Furcht. Seinen Abscheu, hätte er sagen wollen, um die Erwählte zu ehren. Die Übertreibung vermied er, beging indessen den Irrtum, zu meinen, daß Melusine ihn nunmehr hassen müsse. Wie er die reife Schönheit mißverstand, ihre schon geübte Vertrautheit mit dem Verzicht, ihr bequemes Verweilen!

Drinnen hätten sie ihm ansehen können, daß er als Flüchtling zurückkehrte, Arthur war mit seinen Sitten entschuldigt. Begegnung seines Sohnes mit seiner schwach bekleideten Geliebten: was weiter. Sodann war allen das Gebäck willkommen. Stephanie, als sie ihren Kringel bekam, deutete Applaus an. Ein wenig rührte ihn die Betrogene, ein wenig enttäuschte sie ihn auch. Aber eine Frau, die alles gleich durchschaut, wäre bald unausstehlich geworden. Als er sie mit Brot und Wein bediente, umhalste sie ihn. Poulailler sagte dazu: »Je lève mon verre.«

Arthur munter: »Ich war mit Erfolg im Keller.«

Poulailler behaglich: »Bordeaux, und keine Leiche.«

André, plötzlich erinnert an gestern, an die Völlerei der Gespenster: »Le Bordeaux n'est pas un vin.«

Arthur, nachsichtig: »Was weißt du vom Sonnengeflecht. Gelassen frage ich: was kannst du wissen. Wir: ist es wahr, Poulailler –?«

Poulailler, ohne die Frage abzuwarten: »Alles was du willst. Dein Wein beruhigt das Sonnengeflecht, mit dem du mich bekannt gemacht hast. Das hiernach beste Sedativ, wenn nicht das erste von allen, ist ein Freund, der mir das Meine gönnt, ja, kühn behaupte ich: der mich nicht begaunern will.«

Arthur, gerührt: »Dank, Dank!«

Diesmal ließen es die Genießer nicht beim Anstoßen, sie warfen sich einer auf des anderen Brust.

André: »Die sind ganz schön bezecht.«

Stephanie: »Warte! Hier ist etwas vorgekommen.«

Arthur, er hält sein Gleichgewicht mit seinen gestrafften Armen, die er gegen die Schultern des anderen stemmt: »Einig! Ein Donnerwort, einig sind wir!«

Poulailler sichert sich auf dieselbe Art. Sie gleichen zwei Ringern, die aufgegeben haben: »Einig, wie Neugeborene.«

André, kritisch: »Kennt man Neugeborene, die schon Kompromisse schließen?«

Stephanie: »Du warst einer.«

Arthur: »Du, mein Freund und Waffenbruder, näherst dich dem ehrlichen Nolus auf schonende Weise.«

Poulailler: »Nur im Notfall der Revolver. Der ist ihm angenehmer als die Polizei. Dir würde er zutrauen, daß du sie hinter dir hast. Mir – ausgeschlossen. Er unterschreibt ein gentleman agreement.«

Arthur: »Er bekommt die Hälfte, wir zwei Drittel.«

André: »Was ist geschehen, daß Arthur nicht mehr rechnen kann?«

Stephanie: »Er und Melusine haben sich immer verrechnet.«

Poulailler: »Ich übernehme den ganzen Betrag zu treuen Händen, deponiere ihn –.«

André: »Und verreist damit.«

Stephanie: »Nein, er ist ein anderer Mensch.«

André: »Auch der andere Mensch kann verreisen.«

Arthur: »Edler Mann, ich werde von dir zu melden wissen. Die verwechselten Pakete, wer hat davon Wind bekommen, ist hergeeilt noch in selber Nacht, hat uns vor Irrtümern bewahrt? Alles dies uneigennützig, aus Nächstenliebe – was sage ich, Selbstachtung!«

Neue Umarmung, von der sie schwer wieder hoch kamen.

Poulailler: »Nolus hat unwissentlich die Pakete vertauscht: auch er besitzt respect humain. Ehre, wem Ehre gebührt. Toi, noble Arthur, es qualifié plus que quiconque. Du warst tatsächlich der Dumme!«

»Aih!« schrie Poulailler alsbald: Arthur hatte ihn in das Ohrläppchen gebissen. Übrigens biß er zurück, aber Arthur trug es stumm.

André erklärte sich beruhigt. »Ich fürchtete für die beiden, aber wenigstens bleibt ihnen die Ironie.«

Die Tür sprang auf, Melusine fragte: »Wer schreit?«

»Ich – vor Bewunderung«, entschied bei ihrem Anblick der Kavalier. Aus Ergriffenheit stand er auf seinen beiden Füßen, hielt den Mund lautlos offen, faltete indessen die Hände zum Gebet.

Arthur, seines Zustandes eingedenk, vermied ihre Nähe. Er sprach beiseite: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen –«

»Ist dem Tode schon anheimgegeben«, schloß sie, klangvoll und beherzt. »Du nicht, mein Freund. Dich belebt sie.«

Sie kam zu ihm, an seinem Ohr, das scherzhaft blutete, sagte sie: »Nur darum will ich schön sein« – und küßte das Blut weg. Stephanie sah sich, spät genug, nach André um: er war nicht neben ihr, auch hinter ihr stand er nicht. Sie hatte plötzlich wissen wollen, welchen Eindruck das weggeküßte Blut ihm machte. Keinen, denn er war verschwunden. Ein gutes Zeichen? Eines, das störte? Ihm nach! Aber er wird auch in ihren Zimmern nicht mehr gefunden werden. Er hat ihre Mutter erblickt, erkennt den begangenen Fehler, das Unwiederbringliche treibt ihn in die Flucht!

Panik kreist in dem bleichen, auf einmal todbleichen Kopf eines jungen Mädchens, das an sich zweifelt und den Überfall ihres Versagens für das Ende hält. Nichts ist wahr, nur daß er ihre Mutter liebt! Sie geliebt hat, wieder lieben wird, und schwankt, und sich erinnert. Nicht an mich, pauvre fiancée de nuit blanche. Melusine hat ihn anders an sich gebunden. Ach, daß ich keusch war!

Sie hätte ihn übersehen können, blind wie sie war von ihrer großen Furcht. Er kniete vor ihrem Bett, das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten – wovon? Sie konnte es nicht glauben. Seinen ganzen Anblick glaubte sie nicht. Als sie ihn aber berührte, wendete er ihr, ohne Hast, kein Geheimnis bei dem er überrascht wäre, sein verweintes Gesicht zu.

»Ich liebe dich schon zu lange«, sagte er in aller Einfachheit.

»Dreiundvierzig Stunden. Solange wir uns kennen«, sagte sie, ernst wie er.

Er: »Du rechnest genau. Weißt du auch –?«

Sie: »Daß wir uns heute angehören werden, ich weiß es.« Er stand auf, sie zu küssen. Die Tür war, dank dem verwirrten Vorgang, offen geblieben. Wer den Kopf hereinsteckte, war Poulailler. »Kaffee, zur Ernüchterung!« rief er. »Ah! Schon wieder«, bemerkte er und schloß die Tür.

»Jetzt gleich haben wir einen Gang. Ich fürchte, er könnte indessen verhängnisvoll geworden sein.«

»Ich fürchte«, sagte André, still wie sie.


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