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Dreiundzwanzigster Abschnitt.

Von der Artigkeit und feinen Lebensart.

§ 141. Eine andere gute Eigenschaft, welche von einem gesitteten Menschen gefordert wird, ist seine Lebensart. Das Gegenteil davon hat zweierlei Quellen, nämlich alberne Verschämtheit (Verlegenheit) oder unanständige Nachlässigkeit und Achtlosigkeit im Betragen. Beide Fehler werden vermieden, wenn man die einzige Regel gehörig befolgt, nämlich nicht zu schlecht von sich selbst und nicht zu schlecht von anderen zu denken.

§ 142. Der erste Teil dieser Regel schließt keineswegs die Bescheidenheit aus, sondern nur den Hochmut. Wir sollen nicht zu vorteilhaft von uns selbst denken, noch auf unseren eigenen Wert uns so viel einbilden, daß wir gewisser Vorzüge wegen, die wir vor anderen zu besitzen glauben, uns über sie erheben. Doch müssen wir die uns angebotene Ehre, wenn sie uns mit Recht zukommt, mit Bescheidenheit annehmen und überdies so viel Selbstvertrauen besitzen, daß wir das, was uns obliegt und man von uns erwartet, ohne Blödigkeit und Bestürzung verrichten können; es sei zugegen wer da wolle, doch so, daß wir gegen einen jeden die Ehrerbietung und Bescheidenheit beobachten, die seinem Range und Stande zukommt. Gs gibt Menschen und vorzüglich Kinder, die in Gegenwart fremder und besonders vornehmerer Personen eine gewisse bäuerische Schüchternheit äußern; ihre Gedanken, Worte und Blicke geraten in solche Verwirrung, sie verlieren dermaßen alle Gegenwart des Geistes, daß sie nicht imstande sind, etwas vorzubringen oder wenigstens nicht mit der Freimütigkeit und dem gefälligen Anstände, der erfordert wird,, uns beliebt zu machen. Das einzige Mittel, diesem sowie jedem anderen Fehler abzuhelfen, ist die Gewöhnung zu einem entgegengesetzten Betragen. Da man aber mit Fremden und Leuten von Stande nicht anders umgehen lernt, als wenn man oft in ihrer Gesellschaft ist, so muß man, um diesem Mangel an guter Lebensart abzuhelfen, mancherlei Gesellschaften und besonders die von Vornehmern suchen.

§ 143. So wie nun der ebengedachte Fehler in einer übertriebenen Ängstlichkeit des Betragens besteht, so kann man auf der anderen Seite auch dadurch gegen die feine Lebensart verstoßen, daß man gar zu wenig Sorgfalt blicken läßt, anderen, mit denen man zu tun hat, gefallen zu wollen und ihnen Achtung zu bezeugen. Dieses zu vermeiden, wird zweierlei erfordert, nämlich erstlich eine aufrichtige Neigung, andere nicht zu beleidigen, und zweitens eine angenehme und gefällige Manier, diese Neigung zu erkennen zu geben. Das erste erwirbt uns den Anspruch auf Höflichkeit und das zweite auf Artigkeit. Die letztere besteht in einer gewissen Grazie und Wohlanständigkeit, welche unsere Mienen, den Ton der Stimme, den Ausdruck, die Bewegungen und Gebärden, kurz, unser ganzes äußeres Betragen beseelt, in Gesellschaft einnimmt und diejenigen, mit denen wir umgehen, zufrieden und vergnügt macht. Dies ist gleichsam die Sprache, wodurch sich die innere Höflichkeit des Gemüts ausdrückt. Da sie aber, gleich den wirklichen Sprachen, durch die Sitten und Gebräuche jedes einzelnen Landes verschieden modifiziert wird, so muß man die Regeln und die Ausübung derselben hauptsächlich aus der Beobachtung und in dem Betragen solcher Personen studieren, die in diesem Stücke für vollkommen musterhaft gehalten werden. Was das andere Stück betrifft, es liegt es tiefer unter der Oberfläche und besteht in dem allgemeinen Wohlwollen und einer gewissen Achtung gegen alle Menschen, die uns geneigt macht, in unserem Betragen weder Verachtung noch Geringschätzung gegen andere zu zeigen, sondern vielmehr nach der landesüblichen Sitte eine ihrem Range und Stande angemessene Wertschätzung auszudrücken. Es ist also eine gewisse Gemütsneigung, die sich in dem Verhalten äußert und dahin geht, niemand im Umgange zu beleidigen oder mißvergnügt zu machen. Der Schluß dieses Paragraphen fehlt im Revisionswerk.

Es gibt indes vier Eigenschaften, welche dieser wichtigen und reizendsten aller gesellschaftlichen Tugenden gerade entgegenstehen. Die Unhöflichkeit hat gewiß allemal ihren Grund in einer derselben, wo nicht in mehreren zugleich. Um demnach Kinder dagegen zu verwahren oder davon zu befreien, will ich sie hier kurz berühren.

1. Die erste dieser vier Eigenschaften besteht in einem gewissen rohen Wesen, vermöge dessen ein Mensch von Hause aus ungefällig ist und weder auf die Neigungen und den Charakter, noch auf den Stand anderer Leute Rücksicht nimmt. Es ist ein offenbarer Beweis des Mangels aller Bildung, wenn man gar nicht achtet, was denen, mit welchen man umgeht, gefällt oder nicht gefällt, und dennoch gibt es Leute, die, ob sie gleich nach dem neuesten Geschmack gekleidet sind, sich ihren Launen und Torheiten so uneingeschränkt überlassen, daß sie alles, was ihnen in den Weg kommt, anstoßen und überrennen, ohne sich zu bekümmern, wie es aufgenommen wird. Wer kann eine so brutale Aufführung sehen, ohne sie zu verabscheuen, und wer kann sich wohl dabei befinden? Wer also nur den mindesten Anspruch auf gute Erziehung macht, muß sich derselben enthalten. Denn der wahre Zweck und Gegenstand einer guten Erziehung ist, die natürliche Roheit abzuschleifen und unsere Sinnesart lenksam und biegsam zu machen, damit man sich in diejenigen, mit denen man zu tun hat, gehörig schicken könne.

2. Ein anderer Fehler gegen die Höflichkeit ist Verachtung und Mangel an Achtung, welcher sich in Blicken, Worten und Gebärden zutage legt und jederzeit Mißfallen und Unzufriedenheit nach sich zieht, es sei, von wem es wolle; denn niemand kann es dulden, wenn er sich verachtet sieht.

3. Ist auch die Tadelsucht und die Ausspähuug fremder Fehler der Höflichkeit gänzlich zuwider. Kein Mensch, er mag auch noch so fehlerhaft sein, sieht es gern, wenn man seine Gebrechen aufdeckt und selbige in seiner eigenen oder in anderer Gegenwart ans helle Tageslicht bringt. Man schämt sich allemal der Flecken, die einem anhängen, und die Entdeckung oder auch nur die bloße Beschuldigung eines Fehlers kann nicht gleichgültig oder ohne Unruhe aufgenommen werden. Spötterei ist bloß eine feinere Art, anderer Gebrechen ans Licht zu ziehen: allein da dies gewöhnlich nicht ohne Witz und seine Wendungen zu geschehen pflegt und die Unterhaltung befördert, so geraten manche in den Wahn, daß, solange man nur in den Schranken des Anstandes bleibe, die Höflichkeit dadurch nicht verletzt werde. Unter diesem Vorwande schleicht sich solche Spaßmacherei auch oft in bessere Gesellschaften ein, dergleichen Schwätzer finden nicht selten geneigte Ohren und werden von denen, die von ihrer Partei sind, mit lautem Gelächter applaudiert. Aber man sollte bedenken, daß derjenige, der mit so lächerlichen Farben geschildert wird, die Kosten der Unterhaltung allein tragen muß, welches in der Tat nicht ohne Verdruß und Kränkung abgehen kann: es sei denn, daß der Gegenstand wirklich etwas Lobenswürdiges und Empfehlendes wäre; denn da alsdann die lustigen Bilder und Vorstellungen, aus welchen die Spötterei besteht, mit dem Scherz zugleich Beifall veranlassen, so findet der, den es angeht, selbst seine Rechnung dabei und nimmt Teil an dem Vergnügen. Da aber dies eine sehr delikate und kitzliche Sache ist, wozu ein ganz eigenes Talent gehört und wobei ein kleiner Vorstoß leicht alles verderben kann, so will ich einem jeden und besonders jungen Leuten, wenn sie sich nicht gern Feinde machen wollen, wohlmeinend raten, sich alles Spottens sorgfältig zu enthalten. Ein geringes Versehen oder eine üble Deutung kann oft bei dem, der sich dadurch getroffen fand, ein bleibendes Andenken zurücklassen; besonders wenn er wegen einer wirklich tadelnswürdigen Sache auf eine zwar witzige, aber beißende Art aufgezogen wurde.

Außer der Spötterei äußert sich die Tadelsucht auch durch das Widersprechen, welches ebenfalls einen Mangel an guter Lebensart verrät. Zwar darf die Höflichkeit nicht so weit gehen, daß man allem, was in Gesellschaft behauptet und vorgebracht wird, geradezu beipflichtet, oder alles, was man uns vorschwatzt, stillschweigend mit anhört. Wahrheit- und Menschenliebe erfordern es zuweilen, daß man sich gewissen Meinungen geradezu widersetzen und den Irrtum anderer widerlegen muß; auch streitet dies gar nicht mit den Gesetzen der Höflichkeit, wenn es nur mit Behutsamkeit und Rücksicht auf die Umstände geschieht. Aber es gibt Leute, die vom Geist des Widerspruchs dermaßen besessen sind, daß sie allem, was von einer gewissen Person oder wohl gar von einem jeden in der Gesellschaft vorgebracht wird, widerstreiten, ohne sich an Recht oder Unrecht zu kehren. Diese Art des Tadels ist so auffallend und empfindlich, daß ein jeder sich dadurch für beleidigt halten muß. Jeder Widerspruch gegen das, was ein anderer behauptet, erweckt den Verdacht der Tadelsucht und wird selten ohne eine gewisse Empfindlichkeit aufgenommen; daher er auch auf die glimpflichste Weise und in den gelindesten Ausdrücken vorgetragen werden muß, damit man nicht glaube, es geschehe bloß aus Liebe zu widersprechen. Man begleite ihn endlich auch mit Äußerungen der Ehrerbietung und des Wohlwollens, damit man nicht, wenn man seinen Satz gewinnt, die Achtung der Zuhörer verliere.

4. Die Höflichkeit wird endlich auch verletzt durch allzu große Empfindlichkeit, nicht nur weil sie zu übelständigen und beleidigenden Ausdrücken und Begegnungen Anlaß gibt, sondern zugleich eine stillschweigende Anklage und Beschuldigung einer Unhöflichkeit enthält, die der, gegen den wir empfindlich sind, uns angetan habe. Solch ein Verdacht oder eine Äußerung kann nicht gleichgültig aufgenommen werden, und überdies pflegt ein so empfindlicher Mensch oft das Vergnügen und die Einigkeit einer ganzen Gesellschaft zu stören.

Da die Glückseligkeit, nach welcher alle Menschen ohne Unterlaß streben, im Vergnügen besteht, so ist leicht einzusehen, warum der Höfliche besser gelitten ist als der Nützliche. Selbst das anerkannte Verdienst, die Aufrichtigkeit und gute Absicht eines Mannes von Wert und Gewicht oder eines wahren Freundes ist selten vermögend, uns mit der Unbehaglichkeit auszusöhnen, die seine ernsthaften und nachdrücklichen Vorstellungen uns verursachen. Macht und Reichtum, ja die Tugend selbst wird nur insofern geschätzt, als unsere Glückseligkeit dadurch befördert wird. Wer demnach bei den Diensten, die er einem anderen zu dessen wahrem Besten leistet, sich auf eine ungefällige Weise benimmt, wird schwerlich seinen Zweck erreichen; wer im Gegenteil diejenigen, mit denen er umgeht, zufrieden zu machen versteht, ohne sich jedoch zu niedriger und kriechender Schmeichelei herabzulassen, besitzt die wahre Kunst zu leben und wird allenthalben wohlgelitten und geachtet sein. Höflichkeit ist also eine Sache, wozu Kinder und junge Leute vor allen Dingen und mit großer Sorgfalt angehalten werden müssen.

§ 144. Ein anderer Fehler gegen die guten Manieren ist ein übertriebenes Zeremoniell, und wenn man anderen mit Gewalt aufnötigt, was ihnen wirklich nicht zukommt und was sie, ohne Unverstand und ohne zu erröten, nicht annehmen können. Dies hat eher das Ansehen, als ob man sie in Versuchung führen als verbindlich machen wolle; wenigstens sieht es immer einem Rangstreit ähnlich, setzt allemal in Verlegenheit und kann daher auch nicht zur feinen Lebensart gehören, welche keinen anderen Zweck und Nutzen hat, als die Menschen in dem Umgange mit uns zufrieden und vergnügt zu machen. In diesen Fehler werden übrigens junge Leute selten verfallen; sollten sie aber sich desselben schuldig machen oder einen Hang dazu äußern, so muß man sie davor warnen und ihnen zeigen, daß es übelverstandene Höflichkeit ist. Das, was sie im Umgange in acht nehmen müssen, ist, einem jeden durch Beobachtung des Zeremoniells und der Aufmerksamkeiten, die ihm nach den Gesetzen der Höflichkeit gebühren, die gehörige Ehrerbietung, Achtung und Zuneigung zu beweisen. Dies zu tun, ohne sich der Schmeichelei, Verstellung oder Niederträchtigkeit verdächtig zu machen, ist eine große Kunst, welche man sich bloß durch gesunden Verstand und in guter Gesellschaft erwerben kann; aber sie ist im bürgerlichen Leben so wichtig und notwendig, daß sie mit dem größten Eifer studiert zu werden verdient.

§ 145. Obgleich die ebengedachte Kunst gewöhnlich unter dem, was man Wohlgezogenheit nennt, verstanden zu werden pflegt, als ob sie das eigentliche Produkt derselben wäre: so darf man doch, wie ich schon bemerkt habe, kleine Kinder nicht sehr damit quälen, nämlich, wie sie etwa nach der Mode den Hut abziehen oder Verbeugungen machen sollen. Führt sie nur, so viel ihr könnt, zur Bescheidenheit und Menschenliebe an: die feinen Manieren werden sich alsdann schon von selbst finden; denn die Höflichkeit ist eigentlich weiter nichts als ein vorsichtiges Bestreben, gegen niemand Verachtung oder Geringschätzung im Umgange blicken zu lassen. Von den hierzu diensamen Mitteln aber haben wir schon im vorigen geredet. Sie sind ebenso mannigfaltig und verschieden, als die Länder und Sprachen in der Welt; und wenn man's recht überlegt, so sind Regeln und bloß mündliche Anweisungen, die man Kindern hierüber geben wollte, ebenso unnütz und unzulänglich, als wenn man jemand, der bloß mit Engländern zu tun hat, dann und wann eine Regel von der spanischen Sprache beibringen wollte. Man sei unermüdet tätig, dem Zöglinge Ermahnungen und Lehren der Höflichkeit zu erteilen; seine Manieren werden doch nie besser sein als die der Gesellschaft, in der er sich befindet. Haltet einem Bauern, der nie aus seinem Kirchspiel gekommen ist, noch so schöne Vorlesungen über den Hofton: er wird denselben doch nie weder in seiner Sprache noch in seinem Betragen annehmen, d. h., er wird nie manierlicher werden als diejenigen, mit denen er umgeht. Es läßt sich also bei Kindern in dieser Hinsicht nichts weiter tun, als daß man ihnen, wenn ihr Alter es erlaubt, einen Erzieher gibt, der vor allen Dingen selbst ein wohlerzogener, artiger Mann sein muß. Im übrigen aber ist, wenn ich meine Meinung frei heraussagen darf, nicht viel daran gelegen, wie das Kind den Hut abnimmt oder einen Bückling macht, wenn sonst nur in seiner Aufführung weder Eigendünkel noch Widerspenstigkeit und Bosheit zu merken ist. Habt ihr es die Menschen lieben und achten gelehrt, so wird es nach Maßgabe seines Alters und der Manieren, zu welchen es gewöhnt worden, schon selbst schickliche Mittel finden, jene Gesinnungen auf eine gefällige Weise auszudrücken; was aber die Bewegungen und Stellungen des Körpers betrifft, so wird, wie ich schon gesagt habe, ein Tanzmeister ihn: zu gehöriger Zeit schon den äußeren Anstand verschaffen. Bis dahin wird kein Mensch von Kindern erwarten, daß sie dergleichen Zeremonien pünktlich beobachten sollen; vielmehr gesteht man ihnen in diesem Stücke gern einige Nachlässigkeit zu, welche diesem Alter ebensowohl ansteht, wie Erwachsenen die Komplimente; wenigstens verdienen diese Mängel, wenn man es so nennen will, so lange übersehen zu werden, bis die Zeit, der Erzieher und der Umgang sie von selbst verbessern. Es ist daher auch nicht der Mühe wert, Kinder damit zu plagen oder sie deshalb zu schelten, wie dies nicht selten geschieht. Nur von Trotz oder Bosheit muß man sie, sobald sich so etwas in ihrem Betragen äußert, durch Vorstellungen und Beschämung abzubringen suchen.

Obgleich nun Kinder von vielen Regeln über das äußere Zeremoniell verschont bleiben können, so gibt es doch eine Art von Unmanierlichkeit, die leicht mit jungen Leuten heranwächst, wenn man sie nicht beizeiten einschränkt, nämlich andere in Reden zu unterbrechen und ihnen durch einen Widerspruch ins Wort zu fallen. Ich weiß nicht, ob die Gewohnheit zu disputieren, womit man gewöhnlich den Ruhm großer Talente und Gelehrsamkeit verknüpft (als ob es das sicherste Kennzeichen und der beste Beweis von wirklichen Kenntnissen wäre), schuld ist, daß viele junge Leute so vorschnell sind, alles, was andere sagen, besser wissen zu wollen und keine Gelegenheit vorbei zu lassen, wo sie ihre Wissenschaft an den Mann bringen können; indessen ist so viel gewiß, daß selbst Gelehrte hierdurch oft sehr anstoßen. Man kann sich auch keine größere Ungezogenheit denken, als jemand mitten in seiner Rede zu unterbrechen. Denn wenn es eine große Unhöflichkeit ist, jemandem eher zu antworten, als man noch weiß, was er sagen will, so ist solch ein Benehmen wenigstens eine offenbare Erklärung, daß man es überdrüssig sei, ihn länger anzuhören, daß man das, was er sagt, geringschätze oder nicht für wert achte, die Gesellschaft damit zu unterhalten, und daß man selbst etwas vorzubringen habe, welches ihre Aufmerksamkeit mehr verdiene. Dies ist in der Tat eine große Kränkung, welche notwendig sehr beleidigen muß: und doch ist dies fast bei jeder Unterbrechung der Fall. Kommt nun noch, wie dies gewöhnlich zu geschehen pflegt, der Vorwurf eines Irrtums oder ein Widerspruch gegen das, was man behauptet, hinzu, so ist der Stolz und der Eigendünkel eines solchen Menschen noch auffallender, weil er sich unberufen zum Lehrmeister aufwirft und sich anmaßt, dem anderen in seiner Erzählung einzuhelfen oder die Fehler seiner Beurteilungskraft aufzudecken.

Übrigens behaupte ich keineswegs, daß in der Unterhaltung gar keine Verschiedenheit der Meinungen stattfinden sollte. Dadurch würde eine der größten Annehmlichkeiten des Umgangs und der Nutzen wegfallen, den man aus der Gesellschaft verständiger Leute ziehen kann. Denn die gegenseitigen Behauptungen einsichtsvoller Männer verbreiten erst ein wahres Licht über den vorliegenden Gegenstand, indem sie die verschiedenen Seiten desselben darstellen, die mannigfaltigen Gesichtspunkte, aus denen er betrachtet werden kann, und die Wahrscheinlichkeit der Gründe und Gegengründe: alles das würde verloren gehen, wenn ein jeder verbunden wäre, demjenigen beizupflichten und nachzusprechen, der die Sache zuerst in Bewegung brachte. Nicht die Verschiedenheit der Meinungen ist es, was ich mißbillige, sondern nur die Art, sie zu äußern. Junge Leute sollten angeführt werden, nicht vorschnell ihre Einfälle in das Gespräch einzuschieben, sondern zu warten, bis sie gefragt würden und andere Personen ausgeredet hätten und schwiegen: aber auch dann nur in dem Tone, als ob sie sich bloß belehren und unterrichten wollten. Der entscheidende Ton und die Miene eines Lehrmeisters ziemt sich gar nicht für sie; nur dann, wenn eine allgemeine Pause in der Gesellschaft ihnen Gelegenheit darbietet, mögen sie bescheidentlich als Lehrlinge ihre Frage anbringen.

Diese anständige Sittsamkeit wird ihre Talente nicht verdunkeln, noch die Stärke ihrer Gründe im mindesten schwächen, ihnen vielmehr eine desto günstigere Aufmerksamkeit erwerben und dem, was sie sagen, mehr Gewicht und Eingang verschaffen. Ein an sich schlechtes Argument, eine ganz gemeine Bemerkung wird ihnen, wenn sie sie auf diese Art anbringen und dabei ihre Achtung gegen das Urteil anderer höflich zu erkennen geben, weit mehr Beifall und Wertschätzung zuziehen, als der schärfste Witz oder die gründlichste Wissenschaft auf eine stolze, übermütige und abschätzige Art an den Mann gebracht. Solch ein Ton beleidigt allemal die Zuhörer und läßt einen üblen Eindruck von der Person zurück, wenn ihre Sache sonst auch noch so gut ist.

Man muß also ein sehr wachsames Auge auf junge Leute haben, diese Unart in ihrer Quelle zu verstopfen und ihnen im gesellschaftlichen Umgange ein entgegengesetztes Betragen zur Fertigkeit zu machen, um so mehr, da man unter erwachsenen Leuten, selbst von höheren Ständen, nur zu oft Voreiligkeit im Urteilen und Reden, häufige Unterbrechungen und laute Zänkereien wahrnimmt. Die Indianer, die wir für Barbaren schelten, beobachten in ihren Gesprächen und Unterhaltungen weit mehr Anstand und Höflichkeit als wir; man hört einander stillschweigend an, bis der eine ausgeredet hat, und dann antwortet der andere gelassen, ohne Geräusch und Leidenschaft. Ist es in diesem Stücke in unserer kultivierten Welt anders, so hat man es bloß einem Versäumnis in der Erziehung zuzuschreiben, welche dieses Überbleibsel alter Barbarei unter uns noch nicht weggeschafft hat. Welch ein komischer Auftritt! Zwei vornehme Damen saßen einst an beiden Enden des Zimmers, mit einer zahlreichen Gesellschaft umgeben, einander gegenüber; sie gerieten in einen Wortwechsel und wurden dabei so heftig, daß sie in der Hitze des Gesprächs allmählich ihre Stühle immer weiter vorwärts rückten, bis sie in kurzer Zeit sich in der Mitte des Zimmers dicht aneinander befanden. Hier setzten sie ihren Streit so wütend fort, wie zwei Streithähne in den Schranken, ohne im mindesten auf die übrige Gesellschaft zu achten, die sich indessen des Lächelns nicht enthalten konnte. Diesen Auftritt schilderte mir ein Mann von Stande, der ihn selbst mit angesehen hatte, und vergaß dabei nicht, die Unanständigkeiten zu rügen, zu denen man sich in der Hitze des Wortwechsels hinreißen läßt. Da dies nur allzu gewöhnlich ist, so muß man bei der Erziehung vorzüglich darauf Rücksicht nehmen. Zwar tadelt ein jeder solch ein Betragen an anderen, übersieht es aber an sich selbst; ja es gibt viele, die, wenn sie auch diesen Fehler an sich erkennen und den Vorsatz fassen ihn abzulegen, sich doch von einer so schlimmen Gewohnheit nicht ganz befreien können, weil er sich durch ein Versäumnis in der Erziehung zu früh eingewurzelt hat.

§ 146. Was ich oben bereits von der Gesellschaft gesagt habe, würde, wenn man weiter darüber nachdenken wollte, uns ein noch größeres Feld eröffnen und uns zeigen, wie groß die Wirksamkeit derselben sei. Nicht bloß die Manieren und die Höflichkeitsäußerungen sind es, welche sich durch den Umgang uns eindrücken, der Einfluß der Gesellschaft dringt weit tiefer unter die Oberfläche. Sollte man die Moralität und Religionsideen der meisten Menschen genauer untersuchen, so würde sich vielleicht finden, daß selbst diejenigen Meinungen und Zeremonien, zu deren Verteidigung sie das Leben aufzuopfern bereit sind, ihren Grund nicht sowohl in der inneren Überzeugung von der Wahrheit derselben haben, als vielmehr darin, daß sie in ihrem Vaterlande einmal eingeführt waren und von den Leuten, unter welchen sie lebten, angenommen wurden. Ich erwähne dies bloß, um den überaus wichtigen Einfluß zu zeigen, den die Gesellschaft, in welcher der Zögling aufwächst, auf sein ganzes Leben hat, welche ungemeine Sorgfalt also dieses einzige Stück bei der Erziehung verdiene, weil hierauf in der Tat mehr ankommt als auf alles andere, was man sonst tun kann.


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