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Sechzehnter Abschnitt.

Von der Wißbegierde der Kinder.

S 118. Die Neugier der Kinder ist nichts anderes als ein Trieb, ihre Kenntnisse zu erweitern. Siehe oben § 108. Sie ist allezeit ein gutes Zeichen und das wichtige Werkzeug, dessen sich die Natur bedient, die Unwissenheit wegzuschaffen, in der wir geboren werden, und die uns ohne jene geschäftige Wißbegier zu dummen und unbrauchbaren Geschöpfen machen würde. Die Mittel, sie tätig in uns zu erhalten, sind, wie ich glaube, folgende:

Erstens muß man die Nachfragen der Kinder nie mit Unwillen aufnehmen oder abweisen, noch darüber lachen, vielmehr muß man alle ihre Fragen beantworten, ihnen das, was sie wissen wollen, erklären und es ihnen so faßlich machen, wie ihre Fähigkeit, Alter und Kenntnisse es erfordern. Nie aber verwirre man ihren Verstand mit Erklärungen und Begriffen, die über ihren Horizont sind, oder mit zu vielen und mannigfaltigen Dingen, die zur gegenwärtigen Absicht nicht gehören. Bei ihren Fragen sehe man nicht sowohl auf das, was in den Worten liegt, als auf das, was sie ihrer Absicht nach damit sagen wollen. Habt ihr alsdann dem Kinde die verlangte Aufklärung gegeben, so werdet ihr sehen, wie seine Gedanken sich von selbst entwickeln werden, und daß man es durch geschickte Antworten viel weiter bringen kann, als man denken sollte. Denn Kenntnisse leisten dem Verstande ebendie Dienste wie das Licht den Augen. Kinder finden ein großes Vergnügen daran, besonders wenn sie sehen, daß man auf ihre Nachfragen achtet und ihre Wißbegierde aufmuntert und lobt. Ja, ich behaupte, die Hauptursache, warum manche Kinder sich gänzlich den abgeschmacktesten Spielen überlassen und alle ihre Zeit auf die dümmste Art verschleudern, ist keine andere, als daß man ihre Neugierde niedergeschlagen und ihre Nachfragen nicht geachtet hat. Hätte man ihnen mit mehr Güte und Achtung begegnet und ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortet, so würden sie zuverlässig auch mehr Vergnügen am Lernen und in Erweiterung ihrer Kenntnisse gefunden haben; weil diese wegen der Neuheit und Mannigfaltigkeit der Gegenstände in der Tat weit mehr Reize für sie hat als die einförmige Rückkehr zu denselben Spielen und Spielsachen.

§ 119. Zweitens sollte man mit den ernsthaften Antworten auf ihre Fragen und mit den Aufschlüssen über Dinge, die sie zu wissen verlangen, zuweilen ein kleines Lob verbinden; man sollte in Gegenwart solcher Personen, die sie schätzen, von den Kenntnissen reden, die sie sich in diesem oder jenem Stück erworben haben. Denn da der Mensch einmal von Kindes Beinen an ein eitles und stolzes Geschöpf ist, so schmeichle man seiner Eitelkeit wenigstens in wirklich guten Dingen und leite seinen Stolz auf etwas, das zu seinem wahren Vorteil gereicht. Man wird daher auch finden, daß das ältere Kind alles und jedes immer besser lernt und faßt, wenn man ihm sagt, daß es dereinst seine jüngeren Geschwister dasselbe wieder lehren solle.

§ 120. So wenig man nun die Anfragen der Kinder mit Verachtung abweisen darf, so sehr muß man drittens auch verhüten, daß sie keine falschen, spottende oder täuschenden Antworten erhalten. Kinder merken bald, wenn man sie verachtet oder hintergeht, und was noch ärger ist, sie gewöhnen sich dasselbe spöttische und verächtliche Wesen, dieselbe Falschheit und Verstellung an, die sie bei anderen beobachten. Nie sollten wir im Umgange die Wahrheit verletzen, am wenigsten aber im Umgange mit Kindern; denn wenn man ihnen was Falsches sagt, so täuscht man nicht nur ihre Erwartung und hindert das Wachstum an Kenntnis, sondern man verführt auch ihre Unschuld und lehrt sie eins der häßlichsten Laster. Kinder sind nicht anders zu betrachten als Reisende, die eben in einem fremden Lande ankommen, wo sie nichts kennen; es müßte uns daher eine Gewissenssache sein, sie nicht irrezuführen und ihre Fragen, wenn sie uns zuweilen auch sehr unbedeutend scheinen, immer ernsthaft zu beantworten. Denn wenn sie uns, die wir längst mit den Gegenständen bekannt sind, auch sehr überflüssig und unnötig vorkommen, so können sie doch für den ganz Unwissenden von Belang sein. Kindern sind alle Dinge fremd, die wir genau kennen; alles, was ihnen zum erstenmal aufstößt, ist ihnen ebenso unbekannt, als es uns einstmals war. Sie sind daher glücklich, wenn sie gute Leute finden, die mit ihrer Unwissenheit Geduld haben und sie davon zu befreien suchen.

Wenn wir jetzt mit aller unserer Kenntnis und Klugheit, auf die wir uns so viel zugute tun, daß wir die Einfälle und Fragen der Kinder verachten, auf einmal nach Japan versetzt würden, und wir uns von allem, was uns dort vorkäme, gehörig unterrichten wollten, so würden wir ohne Zweifel unzählige Fragen tun, die einem hochmütigen und gedankenlosen Japanesen sehr unnütz und abgeschmackt vorkommen müßten, obwohl uns deren Beantwortung sehr wichtig und wesentlich wäre; wir würden froh sein, einen Menschen anzutreffen, der die Höflichkeit und Gefälligkeit hätte, unsere Anfragen zu beantworten und unserer Unwissenheit abzuhelfen.

Wenn Kindern ein neuer Gegenstand vorkommt, so fragen sie gewöhnlich wie jeder Fremde: »Was ist das?« Und damit meinen sie gewöhnlich weiter nichts als den Namen des Dinges. Ihnen also diesen zu sagen, ist fast immer die passendste Antwort. Die nächste Frage ist sodann: »Wozu dient das?« Und hierauf muß man ihnen wahr und geradezu antworten; man muß ihnen den Gebrauch des Dinges erklären und die Art und Weise, wie es zu diesem Zweck angewandt wird, soweit es ihre Fähigkeit zuläßt. Fragen sie alsdann noch nach anderen Umständen, so sollte man sie nicht eher davon abbringen, als bis sie nach Maßgabe ihrer Fassungskraft völlig befriedigt wären, und dergestalt muß man sie durch die ihnen erteilten Antworten immer auf neue Fragen leiten. Vielleicht ist solch eine Unterhaltung selbst für einen erwachsenen Mann nicht so ganz uninteressant und leer, als man wohl denken möchte. Die natürlichen und naiven Einfälle wißbegieriger Kinder können oft dem Geist eines denkenden Mannes zu schaffen machen. Ja mich dünkt, man kann zuweilen aus den unerwarteten Fragen eines Kindes mehr lernen als aus den Unterredungen mancher Männer, die sich eine gewisse Fertigkeit erworben haben, ihre erborgten Begriffe und anerzogenen Vorurteile in einem wohlklingenden Fluß von Worten herunterzurollen.

§ 121. Zur Erweckung der Neugier dürfte es viertens auch nicht undienlich sein, den Kindern allerlei seltsame und neue Gegenstände vor Augen zu bringen, in der Absicht, sie zum Nachforschen zu reizen und ihnen zu Erkundigungen Anlaß zu geben. Sollten sie vielleicht auch nach Dingen fragen, die sie nicht zu wissen brauchen, so ist es weit besser, geradezu zu sagen, daß sie das nicht zu wissen nötig haben, als sie durch leere oder falsche Antworten zu täuschen.

§ 122. Zuweilen offenbart sich bei Kindern sehr frühzeitig eine gewisse Plauderhaftigkeit, Vorwitz, Naseweisheit. die aber selten mit einer starken Leibesbeschaffenheit verbunden zu sein pflegt und ebenso selten zu einer gründlichen Beurteilungskraft reift. Wäre so viel daran gelegen, das Kind früh zu einem munteren Schwätzer zu bilden, so, dünkt mich, könnte es an Mitteln dazu nicht fehlen. Indes halte ich dafür, ein weiser Vater werde lieber wünschen, daß sein Sohn dereinst ein wackerer und tüchtiger Mann werden, als daß er als Kind anderen bloß zur angenehmen Unterhaltung und zum Zeitvertreib dienen möge. Allein wenn auf das letztere auch wirklich etwas ankäme, so getraue ich mir doch zu sagen, daß ein Kind, welches richtig urteilt, mehr Vergnügen gewährt als eins, das angenehm schwatzt. Man ermuntere demnach seine Wißbegier durch Beantwortung aller seiner Fragen und suche seine Beurteilungskraft so auszubilden, als es seine Fähigkeit erlaubt. Sind seine Urteile nur irgend erträglich, so nehme man sie mit Lob und Beifall auf; sind sie aber ganz verkehrt, so weise man das Kind mit Sanftmut zurecht, ohne über seinen Irrtum zu lachen. Äußert sich bei ihm ein gewisser Drang, über vorkommende Gegenstände zu urteilen, so sehe man dahin, daß niemand diese Neigung unterdrücke oder ihr durch verfängliche, irreleitende Reden eine falsche Richtung erteile. Denn unter allen Fähigkeiten und Vorzügen des Menschen verdient unstreitig die Urteilskraft die größte Aufmerksamkeit und sorgfältigste Ausbildung. Die höchste Vollkommenheit, die ein Mensch in diesem Leben erreichen kann, besteht in der rechten Ausbildung und Übung seiner Vernunft und in der genauesten Befolgung ihrer Vorschriften.


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