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Fünfter Abschnitt

Man soll Kindern wenig Regeln geben. Methode, sie zu Beobachtung derselben anzuhalten.

§ 64. Es sei mir erlaubt hier eines Fehlers zu gedenken, der, wie mich dünkt, bei der gewöhnlichen Erziehung sehr häufig begangen wird. Man überhäuft nämlich das Gedächtnis der Kinder bei allen Gelegenheiten mit Regeln und Vorschriften, die sie oft gar nicht verstehen und ebenso geschwind wieder vergessen, als sie ihnen beigebracht worden. Soll das Kind irgendeine Handlung oder ein Geschäft verrichten und es vergißt es oder stellt sich verkehrt dazu an: so lasse man es immer ganz von vorn wieder anfangen, bis es sich die Sache recht geläufig gemacht hat. Hierdurch wird man zweierlei Vorteile bezwecken: Erstlich wird man dabei innewerden, ob es die Handlung wirklich zu verrichten imstande ist, und ob man sie von ihm erwarten kann; denn zuweilen hält man Kinder zu Dingen an, die sie, wenn es zur Tat kommt, gar nicht zu leisten fähig sind, oder wobei erst Anweisung und Übung vorhergehen muß, ehe sie sich selbst dazu anschicken können. Der zweite Vorteil ist, daß, wenn man die Kinder anhält dieselbe Handlung so lange zu wiederholen, bis sie in Fertigkeit übergeht, so wird sie ihnen völlig natürlich werden und nicht bloß das Resultat der Erinnerung oder des Nachdenkens sein, Eigenschaften, welche man nur vom reifen Alter und von der Überlegung, nicht aber von der Kindheit erwarten kann. Sich gegen den zu verbeugen, der uns grüßt, oder den anzusehen, der mit uns spricht, ist durch beständige Gewohnheit einem wohlerzogenen Menschen so natürlich als das Atemholen: es bedarf dazu weder Nachdenken noch Überlegung. Hat man einem Kinde nach dieser Methode einen Fehler abgewöhnt, so ist die Besserung gewiß von Bestand, und auf diese Weise kann man immer eine Unart nach der anderen ausrotten, und dafür dem Kinde alle guten Fertigkeiten beibringen.

§ 65. Ich habe Eltern gesehen, die ihre Kinder dermaßen mit Regeln überhäuften, daß es den armen Kleinen unmöglich fallen mußte, nur den zehnten Teil davon zu behalten, geschweige denn auszuüben. Demohnerachtet wurden sie bei Übertretung dieser so vielfältigen und oft sehr ungereimten Vorschriften entweder mit Worten oder mit Schlägen gestraft. Die natürliche Folge war, daß die Kinder auf nichts achteten, was man ihnen sagte; denn sie wußten schon, daß sie mit aller Aufmerksamkeit, die in ihrer Gewalt stand, doch nicht fähig waren, sich vor Übertretungen zu hüten und den Mißhandlungen zu entgehen, die darauf erfolgten.

Gib also deinem Sohne so wenig Regeln als nur möglich, und lieber zu wenig als zuviel. Denn wenn du ihn mit zuviel Vorschriften überhäufst, so muß allemal eins von beiden geschehen: entweder er muß oft gestraft werden, und er wird gegen die Strafen gleichgültig; oder man muß die Übertretungen einiger Regeln ungestraft hingehen lassen, wodurch ihm dieselben verächtlich werden müssen und der Vater sein Ansehen bei dem Sohne verliert. Man gebe also wenig Gesetze, aber halte streng auf die Beobachtung derselben, wenn sie einmal vorhanden sind. Das zarte Alter erfordert wenig Gebote: aber so wie die Jahre zunehmen und ein Gebot erst durch Übung gehörig eingeprägt ist, so kann man eins nach dem anderen hinzufügen.

§ 66. Vergeßt aber ja nicht, daß Kinder nicht durch Regeln gelehrt und unterrichtet werden müssen; denn diese entschlüpfen leicht aus dem Gedächtnisse. Alles was ihr glaubt, das sie unumgänglich leisten müssen, dazu haltet sie durch unausgesetzte Übung an, so oft sich die Gelegenheit darbietet; womöglich muß man die Gelegenheit selbst herbeiführen. Dieses wird ihnen Fertigkeiten verschaffen, und wenn solche einmal hervorgebracht sind, so äußern sie sich so leicht und ungezwungen, daß gar kein Gedächtnis dazu erfordert wird. Hierbei muß ich indes zwei Vorsichten empfehlen. Man behandle das Kind bei Übung der Sache, in welcher es eine Fertigkeit erlangen soll, mit freundlichen Worten und gemäßigten Ermahnungen; und wenn es etwa fehlt, so schelte und tadle man es nicht, als ob es mit Vorsatz gefehlt hätte, sondern man weise es bloß zurecht. Ein zweiter Umstand, den man wohl in acht zu nehmen hat, ist, daß man Kindern nicht mehrere Fertigkeiten auf einmal beizubringen suche, weil es sonst durch die Verschiedenheit der Dinge leicht irregemacht werden kann und so in keinem Stück zur Vollkommenheit gelangt. Ist erst eine Sache durch fortgesetzte Übung ihm leicht und natürlich geworden, so daß es sie, ohne darauf zu denken, verrichten kann, so ist es Zeit, eine andere Sache vorzunehmen.

Die Methode, Kinder durch fortgesetzte Übung zu unterrichten und sie dasselbe Geschäft, dieselbe Handlung unter den Augen und der Anleitung ihres Erziehers so lange immer ganz von vorn wiederholen zu lassen, bis eine vollkommene Fertigkeit daraus entsteht, ohne daß sie sich der Regeln dabei erinnern dürfen, diese Methode, sage ich, hat von allen Seiten betrachtet so viel Vorzüge, daß ich mich nicht genug wundern kann, wie es möglich ist, daß man sie so sehr vernachlässigt: aber freilich können sich oft die absurdesten Dinge unter dem Schirm der Gewohnheit sehr lange im Gange erhalten. Nur noch eines Vorteils muß ich erwähnen, der mir soeben beifällt. Wir können nämlich bei dieser Methode leicht beobachten, ob das, was wir von dem Kinde verlangen, auch seiner Fähigkeit angemessen ist, und ob es auch mit der natürlichen Anlage desselben übereinstimmt; denn hierauf muß man bei einer zweckmäßigen Erziehung allerdings auch Bedacht nehmen. Wir können uns nicht Rechnung machen, die ursprüngliche Gemütsart eines Kindes gänzlich umzuschaffen, das muntere in ein ernsthaftes und gesetztes oder das melancholische in ein lustiges zu verwandeln, ohne es zu ersticken. Gott hat den Gemütern der Menschen gewisse eigentümliche Charaktere eingedrückt, die so wie ihre äußere Gestalt vielleicht wohl ein wenig verbessert, aber schwerlich ganz umgeformt und in das Gegenteil verwandelt werden können.

Wer sich demnach mit Kindern beschäftigt, muß ihr Naturell und ihre Anlagen genau studieren und durch öftere Versuche zu erfahren suchen, was für eine Form sie am leichtesten annehmen und was sich für sie am besten schickt; er muß die eigentliche Grundlage des Charakters untersuchen, wie derselbe verbessert werden und was darauf gedeihen könne? Er muß erforschen, ob das, was dem Kinde gebricht, durch Fleiß, Anstrengung und Übung hineinzubringen sei, und ob es die Mühe lohne, sich damit abzugeben. Denn in vielen Fällen schränkt sich alles, was wir tun und bezwecken können, darauf ein, die Gaben, welche die Natur verliehen hat, bestmöglichst zu benutzen, den Fehlern und Unarten, zu welchen die jedesmalige Gemütsart am meisten sich hinneigt, zuvorzukommen und ihr alle die Vorzüge zu erteilen, deren sie fähig ist. Man muß die natürliche Fähigkeit jedes Individuums soweit ausbilden als man kann; fremde Anlagen und Talente aber ihm einimpfen zu wollen, wäre nur vergebliche Arbeit; denn alles was man dergestalt aufkleisterte, würde ihm doch immer verkehrt anstehen, und jederzeit ein affektiertes gezwungenes Ansehen behalten.

Affektation Geziertheit, Ziererei. ist in der Tat kein Fehler zarter Kindheit oder die Frucht der sich selbst überlassenen Natur. Sie gehört vielmehr zu der Gattung von Unkraut, welches nicht in unkultivierten Wüsten, sondern bloß in Gartenbeeten unter der nachlässigen Hand oder durch die ungeschickte Sorgfalt des Gärtners hervorkeimt. Es wird dazu eine gewisse Anführung und Anleitung erfordert, ein gewisses Gefühl von der Notwendigkeit einer guten Erziehung, woraus ein Bestreben entsteht, die natürlichen Mängel zu verbessern, in der lobenswürdigen Absicht zu gefallen, die jedoch immer verfehlt wird; denn je mehr man sich's angelegen sein läßt durch angenommenes Wesen zu gefallen, desto weiter entfernt man sich von seinem Zweck. Eben darum aber muß man sorgfältig auf der Hut dagegen sein, weil es ein eigentlicher Erziehungsfehler ist, in welchen junge Leute, entweder durch sich selbst oder ihre Aufseher irregeführt, verfallen.

Wer die Natur des einnehmenden Wesens, welches so allgemein gefällt, Rudolphi übersetzt (Nov.-Werk 9, 157): »Grazie, die überall gefällt«, v. Sallwürk und Wattendorff: »Anmut, die immer gefällt«. v. Sallwürk bemerkt dazu: »Dem Deutschen fehlen hier manchmal salonfähige Ausdrücke.« genau untersuchen will, wird finden, daß es in der natürlichen, ungezwungenen Übereinstimmung aller unserer Äußerungen und Handlungen mit einer wirklich gefälligen Gemütsverfassung, die sich in Zeiten, Umstände und Personen zu schicken sucht, besteht. Ein freundliches, leutseliges und höfliches Betragen muß uns allenthalben gefallen, wo wir es nur finden. Ein Geist, der edel und frei, sein selbst und aller seiner Handlungen Meister ist, nicht niedrig und klein, nicht hochmütig und aufgeblasen denkt und mit keinem auffallenden Fehler behaftet ist: ein solcher Geist wird jedermann einnehmen. Die Handlungen eines solchen Mannes gefallen eben darum, weil sie echte Kennzeichen seiner edlen Denkart sind, und als ganz natürliche Ausflüsse seiner inneren Verfassung können sie nicht anders als leicht und ungezwungen scheinen. Dies ist, wie mich dünkt, die besondere Anmut, welche bei einigen Menschen durch alle ihre Handlungen durchschimmert, allem, was sie tun, eine gewisse Grazie erteilt, und alle diejenigen einnimmt, die sich ihnen nähern. Denn sie haben durch beständige Übung ihr Äußeres gehörig ausgebildet, sie haben die kleinen Bezeichnungen des Wohlwollens und der Hochachtung, welche die Natur oder die Gewohnheit im Umgange eingeführt hat, sich dergestalt zu eigen gemacht, daß sie nicht erkünstelt und studiert, sondern ganz natürlich aus ihrer gefälligen Denkart und wohlgeordneten Gemütsfassung zu erfolgen scheinen.

Affektation im Gegenteil ist eine plumpe und gezwungene Nachahmung dessen, was natürlich und leicht sein sollte: eine Nachahmung, der es allemal an der Anmut gebricht, die nur bei dem Natürlichen anzutreffen ist. Denn es muß immer eine gewisse Disharmonie zwischen der äußeren Handlung und der inneren Bewegung des Geistes dabei stattfinden und zwar auf eine doppelte Weise. Man sucht nämlich entweder äußerlich eine solche Gemütsstimmung anzunehmen, die man in dem Augenblick wirklich nicht hat, und ist bemüht, durch ein erzwungenes Betragen, sich den Schein davon zu geben, doch so, daß man den Zwang, den man sich antut, selbst merken läßt. Auf diese Art stellen sich zuweilen Leute traurig, lustig oder freundlich, wenn sie es in der Tat nicht sind.

Eine andere Gattung von Affektation ist es, wenn man sich zwar nicht bestrebt, eine andere Gemütsstimmung zur Schau zu tragen, aber doch diejenige, in der man sich befindet, durch ganz unschickliche Zeichen ausdrückt. Dahin gehören alle gezwungenen Bewegungen, Handlungen, Reden und Mienen im Umgange, welche zwar teils Hochachtung und Höflichkeit gegen die Gesellschaft, teils Vergnügen oder Zufriedenheit mit derselben anzeigen sollen, aber eher Mangel dieser Empfindungen, oder wohl gar das Gegenteil davon verraten. Oft liegt der Fehler bloß in blinder Nachahmung anderer, ohne daß man das wirklich Einnehmende von dem unterscheidet, was ihrem Charakter besonders eigen ist. Übrigens macht jede Gattung von Affektion allemal einen widrigen Eindruck, sie mag entstehen, woher sie will. Wir hassen von Natur alle Nachäfferei und verachten diejenigen, die selbst nichts Eigentümliches besitzen, um sich zu empfehlen. Die rohe einfache Natur kleidet besser als alle erkünstelte Zierlichkeit und durch falsche Manieren verkleisterte Plumpheit. Wenn auch in dem Äußern noch manches mangelhaft ist und zu dem feinsten Anstande noch vieles fehlt, das wird leicht übersehen und weiter nicht getadelt. Affektiertes Wesen aber in irgendeinem Stück unserer Aufführung steckt allemal ein Licht über unsere Fehler auf, macht dieselbe offenbar und bringt entweder unsern Verstand oder unsere Aufrichtigkeit in Verdacht. Erzieher sollten daher desto aufmerksamer darauf sein, da es, wie oben bemerkt, ein erworbener Übelstand ist, welcher von übelverstandener Erziehung herrührt, und womit gewöhnlich nur diejenigen behaftet sind, die auf eine vorzügliche Bildung Anspruch machen und in dem, was zum guten Anstande und zur Annehmlichkeit des Umgangs gehört, nicht für unwissend gehalten werden wollen. Und wenn ich mich nicht irre, so hat dieser Fehler meistens seinen Ursprung in den leeren Erinnerungen derer, die so gern Regeln geben und Muster aufstellen, ohne mit ihrem Unterricht Übung zu verbinden und die Zöglinge vor ihren Augen jede dahin abzweckende Handlung vornehmen zu lassen, um das, was gezwungen oder übelständig ist, zu verbessern und ihnen eine natürliche Leichtigkeit und Fertigkeit beizubringen.


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