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Zehnter Abschnitt.

Von der Vertraulichkeit der Eltern gegen die Kinder.

§ 95. Um wieder auf unsere Methode zurückzukommen Siehe oben § 87. so hab' ich zwar vorhin gesagt, daß der Vater eine gewisse Ernsthaftigkeit und Strenge beobachten und dem Kinde, wenn es noch klein ist, Ehrfurcht gegen sich einprägen müsse, weil diese das vornehmste Werkzeug ist, das Kind zu regieren und zu lenken. Ich bin jedoch weit entfernt zu behaupten, daß diese Art der Behandlung so lange fortdauern solle, als es noch unter Zucht und Aufsicht steht; vielmehr bin ich der Meinung, daß dieselbe gemildert werden müsse, so wie das Alter, der Verstand und die gute Aufführung des Kindes es verstatten und zwar in dem Maße, daß ich dem Vater rate, mit seinem Sohn, sowie er zu Jahren kommt und verständiger wird, vertraulich zu sprechen, ja sogar ihn in Dingen, in welchen er einige Kenntnis und Einsicht besitzt, zu Rate zu ziehen und um seine Meinung zu befragen. Hierdurch wird derselbe zwei wichtige Vorteile zugleich bezwecken. Erstlich wird er das Nachdenken des Sohnes auf ernsthafte Betrachtungen leiten, besser als durch Regeln oder Anweisung. Je früher man ihm als einem Manne begegnet, desto früher wird er anfangen, es wirklich zu sein, und wenn ihr ihn zuweilen in ernsthafte Gespräche zieht, so wird er unvermerkt sein Gemüt über die gewöhnlichen Zerstreuungen der Jugend und über die spielenden Beschäftigungen, worauf sie gewöhnlich so erpicht ist, erheben. Denn man kann leicht selbst wahrnehmen, daß viele junge Leute die Denkungsart und den Umgang von Schulknaben weit länger beibehalten, als sonst geschehen würde, weil die Eltern sie immer in großer Entfernung von sich halten und in allen Stücken ihnen als kleinen Kindern begegnen.

§ 96. Eine andere noch wichtigere Sache, welche man hierdurch erlangt, ist die Freundschaft des Kindes. Viele Väter lassen es zwar bei ihren Söhnen nach Beschaffenheit ihres Alters und Standes nicht an anständigem Aufwande fehlen, halten aber den wahren Zustand ihres Vermögens und ihrer Angelegenheiten vor denselben so geheim, als ob sie ein Staatsgeheimnis vor einem Spion oder Feinde zu bewahren hätten. Wenn dies nicht ein offenbares Mißtrauen verrät, so ist es wenigstens kein Merkmal derjenigen Güte und Zutraulichkeit, die ein Vater gegen seinen Sohn beweisen sollte und hält unstreitig die liebevolle und freudige Zuversicht zurück, womit der Sohn dem Vater zugetan sein sollte. Und ich muß wohl gestehen, daß ich mich recht sehr wundere, wenn ich Väter sehe, die, obgleich sie ihre Söhne wirklich lieben, doch ihr ganzes Leben hindurch ein so steifes, ernsthaftes Wesen und eine solche Entfernung gegen sie beobachten, als ob sie von denen, die sie doch in der Welt am meisten lieben, in der Tat nicht eher etwas zu genießen oder Unterstützung zu erwarten hätten, als nur dann, wenn sie sie verlieren, d. h. nach ihrem Hinscheiden. Nichts aber gründet und befestigt die Freundschaft und das gegenseitige Wohlwollen mehr, als vertrauliche Mitteilung seiner Angelegenheiten und seines Interesses. Liebreiche Begegnung anderer Art läßt noch immer einen Zweifel zurück: aber wenn nun der Sohn sieht, daß ihr euer Herz ihm öffnet, wenn er bemerkt, daß ihr ihn an euren Angelegenheiten teilnehmen laßt, damit er ihnen dereinst selbst vorstehen könne, so wird er sich derselben als seiner eigenen annehmen, seine Zeit mit Geduld abwarten und bis dahin euch wirklich lieben, weil ihr ihn nicht in der Entfernung wie einen Fremden haltet. Zu gleicher Zeit wird er auch einsehen lernen, daß der Genuß, den ihr von den Glücksgütern habt, nicht von Sorgen befreit ist; jemehr er dies empfindet, desto weniger wird er euch um den Besitz beneiden, vielmehr wird er sich selbst umso glücklicher schätzen, daß er sich unter der Führung eines so gütigen Freundes und eines so liebevollen Vaters befindet. Schwerlich wird man einen jungen Menschen antreffen, der so wenig Nachdenken oder so wenig Empfindung besäße, daß er sich nicht einen zuverlässigen Freund wünschen sollte, zu dem er unter allen Umständen seine Zuflucht nehmen und ihn offenherzig zu Rate ziehen könnte. Durch die Zurückhaltung und Entfernung aber, welche Väter gegen ihre Söhne beobachten, berauben sie dieselben oft einer solchen Zutraulichkeit, die doch wahrlich mehr Nutzen stiften würde als unzählige Verweise und Schelte. Will euer Sohn etwa einmal einen lustigen Einfall oder einen Jugendstreich ausführen, wäre es denn nicht besser, daß es mit, als ohne euer Wissen geschähe? Denn da man in solchen Dingen jungen Leuten durch die Finger sehen muß, so kann man um so leichter großes Unheil verhüten, wenn Man von ihren Anschlägen und Absichten gehörig unterrichtet ist; man kann ihnen die wahrscheinlichen Folgen darstellen und auf diese Art sie mit guter Manier auch von geringeren Fehltritten zurückhalten. Wünscht ihr, daß euer Sohn euch sein Herz eröffne und zu Rate ziehe, so müßt ihr ihm hierin zuvorkommen und durch eine solche Begegnung sein Vertrauen zu gewinnen suchen.

§ 97. Er mag euch übrigens zu Rate ziehen, worin er will, so nehmt bloß den Ton eines Freundes von reiferer Erfahrung an, ohne Befehle noch das väterliche Ansehen mit unterzumischen, nicht anders als ob ihr es mit euresgleichen oder mit einem Fremden zu tun hättet – es sei denn, daß er in Gefahr wäre, sich in ein unwiederbringliches Unglück zu stürzen. Denn sonst würde er euch gewiß nie wieder fragen, noch jemals euren Rat sich wieder zunutze machen. Ihr müßt bedenken, daß er noch jung und daher zu Einfällen und Vergnügen aufgelegt ist, über die ihr schon hinaus seid. Ihr müßt nicht erwarten, daß er einerlei Neigungen mit euch haben und im zwanzigsten Jahre ebenso denken solle wie ihr im fünfzigsten. Alles was ihr verlangen könnt, ist, daß, da er einmal als junger Mensch einige Freiheit haben muß, er bei seiner jugendlichen Munterkeit immer die Offenherzigkeit eines Sohnes beibehalten und jene Munterkeit unter den Augen seines Vaters auslassen möge, weil alsdann keine sehr nachteiligen Folgen daraus entstehen können. Das beste Mittel hierzu ist, wie ich schon bemerkt habe, ihm, so wie es seine Fähigkeit erlaubt, eure Angelegenheiten zu entdecken, ihn vertraulich um Rat zu fragen, diesen, sobald er vernünftig ist, zu befolgen und wenn er gut ausschlägt, ihm das gebührende Lob zu erteilen. Solange ihr euer Vermögen noch selbst verwaltet, so lange bleibt der Kommandostab immer in euren Händen, und euer Ansehen ist um so fester, je mehr es durch Vertrauen und Güte gestärkt wird. Denn ihr dürft euch nicht eher schmeicheln, völlige Gewalt über ihn zu haben, als bis er sich mehr scheut, einen so gütigen Freund zu beleidigen, als einen Teil seiner künftigen Erwartungen einzubüßen.

§ 98. Wenn es einem Vater nicht unanständig ist, sich mit seinem Sohne vertraulich zu unterhalten, so wird um so mehr auch der Erzieher sich hierzu gegen den Zögling herablassen können. Er ist nicht da, ihm bloß Stunden zu geben oder in einem gebieterischen Tone bloß zu befehlen, was er beobachten und befolgen soll. Er muß auch den Zögling anhören und ihn gewöhnen, über das Vorgetragene zu sprechen. Dadurch werden die guten Lehren leichter eingehen, tiefer eindringen, und er wird Lust und Geschmack am Studieren bekommen. Dann erst wird er den Wert der Kenntnisse schätzen lernen, wenn er sieht, daß sie ihn zur Unterhaltung geschickt machen, wenn er Vergnügen und Lob einerntet, indem er das Seinige auch dazu beiträgt, seine Gründe zuweilen Beifall erhalten und Aufmerksamkeit erregen. Besonders muß man Fälle, welche die Moral, Klugheit und gute Lebensart betreffen, ihm vorlegen und sein Urteil darüber verlangen. Dieses öffnet den Verstand besser als Grundsätze, wenn sie auch noch so deutlich vorgetragen werden, und prägt die Verhaltungsregeln dem Gedächtnis weit tiefer ein, als es sonst geschehen könnte. Was man auf die Art lernt, haftet fester und behält länger dieselbe Klarheit und Evidenz wie bloße Reden, die gleich leeren Schatten vorübergehen und bald vergessen werden. Die Grundsätze und Regeln der Anständigkeit und Gerechtigkeit wird der Jüngling leichter fassen, das, was er zu tun hat, wird sich ihm lebendiger und dauernder eindrücken, wenn er über die ihm vorgelegten Fälle seine eigene Meinung sagt und mit seinem Erzieher über wohlgewählte Beispiele räsonniert, als wenn er den Vorlesungen stillschweigend, nachlässig und schläfrig zuhört. Auch wird dies ihm weit ersprießlicher sein als alle logischen Spitzfindigkeiten, Chrien und Deklamationen, die man ihm zur Ausarbeitung gibt. Das letztere würde ihn nur verwöhnen, nach witzigen Einfällen und falschem Schimmer zu haschen, nicht aber die Wahrheit zu suchen; das erstere aber verführt ihn zu Trugschlüssen, zur Disputiersucht und Rechthaberei; und beides schadet der Urteilskraft und entwöhnt uns vom gesunden und richtigen Denken. Wer sich aber selbst vervollkommnen und bei anderen beliebt machen will, muß sich vor beidem sorgfältig hüten.

§ 99. Um demnach euer Ansehen bei dem Kinde festzusetzen, dürft ihr es nur empfinden lassen, daß es unter eurer Abhängigkeit und Gewalt steht. Beobachtet ihr hierbei eine unbiegsame Strenge, wenn es sich bei wirklichen Bosheiten, die ihr ihm ausdrücklich verboten habt, besonders bei Lügen, hartnäckig und widerspenstig beweist, so werdet ihr ihm die für solche Fälle notwendige Scheu einflößen. Verstattet ihr sodann auf der anderen Seite ihm die seinem Alter angemessene Freiheit und legt ihm in kindischen Handlungen und in der unschuldigen Fröhlichkeit, die in den Jahren ihm ebenso unentbehrlich ist als Speise und Schlaf – auch wenn es sich in eurer Gesellschaft befindet, keinen Zwang an, so werdet ihr eure Gesellschaft ihm angenehm machen. Bezeugt ihr ihm überdem Nachsicht und Zärtlichkeit und – so oft es etwas recht macht, euren Beifall; gebt ihr ihm endlich aus tausend verschiedene Arten, welche die Natur selbst die Eltern besser lehrt, als ich es zu tun imstande bin, eure Zuneigung zu erkennen: so wird es von selbst gegen eure Liebe und Sorgfalt empfindlich werden. Eure Liebe und eure Zärtlichkeit, woran es den Eltern nie fehlt, wird auch dem Kinde besondere Zuneigung zu euch einflößen, und durch diese gelinde und liebevolle Behandlung werdet ihr in seinem Gemüt jene wahre Ehrerbietung hervorbringen, die ihr nachher sorgfältig zu erhalten suchen müsset, und zwar nach ihren wesentlichen Bestandteilen, nämlich Furcht und Liebe, welche die großen Triebfedern sind, durch die ihr sein Gemüt zur Tugend und zur Ehre leiten könnt.


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