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Einleitung des Herausgebers

John Lockes, des berühmten englischen Philosophen (1632–1704) »Gedanken über Erziehung« erschienen im Jahre 1693 anonym unter dem Titel: »Some thoughts concerning education«. » Einige Gedanken über Erziehung« wäre also der vollständige Titel für das Buch. Da aber Locke nicht nur einzelne Teile der Erziehung, sondern die ganze Erziehung ins Auge faßt, ist der gebräuchliche gekürzte Titel »Gedanken über Erziehung« vorzuziehen. Man vgl. E. v. Sallwürks Ausgabe von J. Lockes »Gedanken über Erziehung« in Fr. Manns Bibl. päd. Klassiker (Langensalza, H. Beyer & Söhne) und die Abhandlung: »J. Lockes Gedanken über Erziehung«, dargestellt und gewürdigt von Ed. Fechtner, 2. Aufl. Wien 1908, sowie die dort angegebene Literatur; ferner: A. Heubaum, »Das Zeitalter der Standes- und Berufserziehung« (Berlin); P. Barth, »Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung« (Leipzig); den Artikel »Locke« von Roloff in dessen Lexikon der Pädagogik (Freiburg, 1914).

Das Buch ist nicht streng systematisch angelegt, es macht vielmehr oft den Eindruck unzusammenhängender Einfälle und ist nicht frei von Wiederholungen. Und doch liegt in der Anordnung der Gedanken eine Absicht. Die leibliche und sittliche Erziehung beanspruchen den größten Teil des Werkes, ganz zuletzt wird von den zu erwerbenden Kenntnissen gesprochen. Zum ersten Male in der pädagogischen Literatur wird eben in den »Erziehungsgedanken« die Erziehung des Zöglings in den Mittelpunkt gestellt. Als erster fordert Locke, wie schon Herbart in seiner feinen Charakteristik des »schlichten Mannes«, dem er Selbständigkeit und Tiefe nachrühmt, bemerkt, »daß man den Erfolg eines Erziehers nicht nach der Summe der Kenntnisse, sondern nach der gewonnenen persönlichen Bildung des Zöglings schätzen solle«. Herbarts pädagogische Schriften von Willmann-Fritzsch, Bd. III, S. 464 (Osterwieck 1919). Alles Wissen muß im Dienste der Erziehung stehen. So tritt Locke den pädagogischen Ansichten seiner Zeit kühn entgegen. »Er bestreitet der herrschenden Gelehrtenkultur den von ihr beanspruchten einzigartigen Wert und stellt sein Ideal des gebildeten Mannes daneben, und er setzt an die Stelle der bisherigen Vorstellung des Gentleman eine neue auf seinem Begriff der Bildung beruhende Auffassung.« (Heubaum.)

Der Erfolg des Buches war ein ungeahnter: noch bei Lebzeiten Lockes erschienen vier Auflagen, eine fünfte bereitete er selbst noch vor seinem Tode vor, und die Übersetzung ins Französische durch Pierre Coste, die Locke selbst überwachte, erschien bereits im Jahre 1695. Erst als die Franzosen sich der »Gedanken« bemächtigten, sind sie Gemeingut der zivilisierten Welt geworden. Sallwürk nach Macaulay. Dies erreicht zu haben ist das Verdienst J. J. Rousseaus, »des Mannes von Genf, der in Flammenzügen schrieb, was Locke einst vor ihm gesagt hatte«.

Steht Locke in seinen »Gedanken« auf den Schultern Montaignes, so Rousseau in seinem »Emil« auf denen Lockes, obwohl der große Schweizer bestrebt ist, immer mehr den Gegensatz als die Übereinstimmung mit Locke zu betonen. Über Rousseau gewannen dann auch die Lockeschen Ansichten in Deutschland Verbreitung durch Basedow und seine Anhänger, die Philanthropisten. Man vergl. dazu die Einleitung zur Ausgabe des »Emil« in der Univ.-Bibl. Nr. 901–8, Basedows »Methodenbuch« (neue Ausg., Leipzig 1913) und »Vorstellung an Menschenfreunde« (Univ.-Bibl. Nr. 4663), sowie Trapps »Versuch einer Pädagogik« (neue Ausg., Leipzig 1913). Der »freundliche Bund der Erziehungsrevisoren« gab in dem großen Revisionswerke, in dem die philanthropistische Pädagogik in allen Zweigen dargestellt wird, Übersetzungen sowohl von Lockes »Gedanken« als von Rousseaus »Emil« heraus. »Locke und Rousseau«, heißt es in der Einleitung zu diesem Werke, »sind bisher unter den neueren Erziehungsphilosophen unstreitig diejenigen gewesen, deren pädagogische Lehrgebäude am weitesten bekannt und am meisten gelesen worden sind. Sie verdienen unstreitig auch noch jetzt von allen, denen die Erwerbung gründlicher Erziehungseinsichten am Herzen liegt, gelesen und studiert zu werden. Diese ehrwürdigen Männer waren unsere Vorgänger. Sie machten Bahn, wir anderen folgten.«

Obwohl Locke in seinen »Gedanken über Erziehung« nur die Erziehung eines jungen Edelmanns im Auge hatte, hat er durch die Philanthropien nicht nur die deutsche Erziehung, sondern auch das deutsche Schulwesen, das höhere wie das niedere, beeinflußt, und viele der »modernen« Gedanken haben ihren Ursprung in Locke. Erinnert sei nur an die Erziehung zur Urteilsfähigkeit, die Verwerfung der Gedächtnismethode, die Leibesabhärtung und Pflege von Sport und Handarbeit, die Stellung zur Körperstrafe, die Erforschung der Individualität und Anlage der Kinder, die Reihenfolge der Sprachen: Muttersprache, Französisch, Latein, Griechisch, die Stellung zum Religionsunterricht und anderes.

Der vorliegenden Ausgabe liegt die Übersetzung von Karl Siegmund Ouvrier (Leipzig 1787) zugrunde, ergänzt wurde sie durch die von Rudolphi im neunten Teil der »Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens«, herausgegeben von Campe (1787). Die Anmerkungen sind auf das Wichtigste beschränkt, insbesondere mußten die zahlreichen Verweise auf Rousseaus »Emil« unterbleiben.

Eine wertvolle Ergänzung finden Lockes »Gedanken über Erziehung« durch seine übrigen Werke, besonders durch die Abhandlung »Über den menschlichen Verstand« und die Schrift »Über die Leitung des Verstandes« (beide in Univ.-Bibl. Nr. 3816-25).

Ich schließe mit dem Wunsche Ouvriers: »Möchte das Buch auch heute noch vielen Eltern und Erziehern ein treuer Berater sein und zur Verbreitung pädagogischer Kenntnisse beitragen!« Denn wir müssen in Deutschland jetzt mehr als je unser Augenmerk auf den Nachwuchs richten. Und nur durch Erziehung und Bildung wird es möglich sein, die schweren Wunden, die der Krieg unserem Volke geschlagen hat, zu heilen.

Grimma, 1920.

Dr. Th. Fritzsch.

Widmungsschreiben Lockes an Eduard Clarke von Chipley, Esq.

Mein Herr!

Diese Gedanken über die Erziehung, welche nun ans Licht treten, gehören Ihnen mit Recht zu, weil sie schon vor einigen Jahren auf Ihre Veranlassung aufgesetzt wurden und es keine andern sind als diejenigen, welche sich bereits in meinen Briefen an Sie in Ihren Händen befinden. Ich habe fast nichts daran geändert, außer etwa die Ordnung und Zusammenstellung der Sachen, die ich zu verschiedenen Zeiten und bei besonderen Veranlassungen Ihnen schrieb, so daß der Leser aus dem vertraulichen und nachlässigen Ton bald merken wird, das Folgende verdiene eher den Namen einer Privatunterhaltung zwischen zwei Freunden, als einer für die Augen des Publikums bestimmten Abhandlung.

Ich weiß, es ist ein gewöhnliches Mittel, das Zureden und Anliegen seiner Freunde vorzuschützen, wenn man nicht gestehen will, daß man zur Herausgabe eines Werkes durch sich selbst versucht worden sei. Allein Sie können mit Wahrheit bezeugen, daß diese Papiere noch lange, bloß zum Privatgebrauch bestimmt, in der Dunkelheit geblieben sein würden, wenn nicht einige die Mitteilung und Bekanntmachung derselben ausdrücklich verlangt hätten. Da überdem diejenigen, deren Urteil ich am meisten traue, mich versicherten, daß dieser rohe Entwurf, wenn er bekannter würde, einigen Nutzen stiften könne, so war dies gerade die Ursache, die über mich am meisten vermag. Denn ich halte es für unweigerliche Pflicht, dem Vaterlande alle Dienste zu leisten, die in unserem Vermögen stehen: ich sehe auch nicht ab, welcher Unterschied sonst zwischen dem Menschen und seinem Tiere, dem es an Denkkraft gebricht, bestehen könne. Überdies ist der Gegenstand an sich selbst so überaus wichtig, und eine gute, zweckmäßige Erziehung von so allgemeinem Nutzen, daß es keiner fremden Aufmunterung, keines Zuredens bei mir bedurft hätte, wenn ich sonst gefühlt hätte, daß meine Fähigkeiten meinen Wünschen entsprächen. Inzwischen soll weder der geringe Gehalt dieser Blätter, noch die geringe Meinung, die ich selbst davon hege, oder die Scham, nur so wenig leisten zu können, mich abhalten, sie öffentlich mitzuteilen, da man weiter nichts von mir verlangt. Sollten indes mehrere im Publikum so damit zufrieden sein, daß sie dieselben des Druckes nicht für unwert achteten, so würde ich mir schmeicheln dürfen, nicht ganz ohne Nutzen gearbeitet zu haben.

Ich bin selbst hie und da von manchen Familien über die Erziehung ihrer Kinder zu Rate gezogen worden, und die frühe Sittenverderbnis der Jugend ist gegenwärtig eine so allgemeine Klage, daß man es wohl nicht tadeln kann, wenn man diesen wichtigen Gegenstand in Anregung bringt und dadurch wenigstens anderen Gelegenheit gibt, weitere Untersuchungen anzustellen oder das Gesagte zu berichtigen. Denn in keinem Fach sollten Irrtümer weniger geduldet werden als in dem Erziehungswesen. Es verhält sich mit diesen Irrtümern wie mit den Fehlern der Verdauung; was in den ersten Wegen verdorben ist, wird nie in den zweiten oder dritten wieder gut. Die Fehler der Erziehung verbreiten ihren Einfluß über alle Teile und Auftritte des Lebens.

Übrigens bin ich so weit entfernt, das, was ich hier vorgetragen habe, für unfehlbar zu halten, daß ich es vielmehr, schon um Ihretwillen, gern sehen würde, wenn ein der Sache kundiger Mann in einem ausführlichen Werke über die Erziehung der höheren Volksklassen, die Fehler berichtigen wollte, die ich etwa begangen hätte. – Denn es ist mir wahrlich mehr daran gelegen, daß man die beste Methode, junge Leute zu bilden und zu unterrichten, ausfindig mache, als meine Gedanken darüber mit Beifall aufgenommen zu sehen. Unterdessen können Sie selbst mir das Zeugnis geben, daß die hier vorgeschlagene Methode bei dem Sohns eines angesehenen Mannes, an den ich dabei nicht dachte, mehr als gewöhnliche Wirkung geleistet habe. Nun will ich zwar nicht leugnen, daß die gute Anlage des Kindes auch vieles dazu beigetragen; indessen sind doch Sie sowohl als die Eltern, wie ich glaube, überzeugt, daß eine entgegengesetzte Behandlung nach dem gewöhnlichen Schlage, das nicht würde ausgerichtet, noch das Kind dahin gebracht haben, daß es nicht nur Liebe zu den Büchern und Vergnügen am Lernen gewonnen, sondern sogar mehr Begierde nach Unterricht empfindet, als diejenigen, welche es umgeben, zu befriedigen für diensam halten.

Doch ich habe nicht nötig, Ihnen diese Abhandlung zu empfehlen, da ich Ihre Meinung darüber schon weiß; noch mag ich solche der Welt mittels dieses günstigen Vorurteils und Ihres Schutzes aufdringen. Die gute Erziehung der Kinder ist so sehr die Pflicht und das Interesse der Eltern, sie hängt so genau mit der Blüte und dem Wohlstande der ganzen Nation zusammen, daß ich glaube, sie werde jedem am Herzen liegen, und jeder werde nach reiflicher Erwägung und Prüfung dessen, was in dieser wichtigen Sache der Eigensinn, das Herkommen oder die Vernunft befiehlt, selbst so viel er kann, hilfreiche Hand anlegen, um die Jugend, nach Maßgabe ihres Standes und künftigen Berufes, auf dem leichtesten, kürzesten und besten Wege zu tugendhaften, brauchbaren und geschickten Menschen zu bilden; wiewohl die Erziehung der höheren Stände allerdings die größte Sorgfalt verdient; denn wenn diese nur gehörig gebildet sind, so wird die Bildung der übrigen um so leichter werden.

Ich weiß nicht, ob ich in diesen wenigen Blättern etwas mehr geleistet habe, als meinen guten Willen zu zeigen. Dem sei indes wie ihm wolle, so hat die Welt, das, was darin etwa eine gute Aufnahme verdienen möchte, bloß Ihnen zu verdanken. Meine Zuneigung zu Ihnen gab denselben ihr Dasein, und ich freue mich, der Nachwelt ein Denkmal meiner Freundschaft mit Ihnen überliefern zu können. Denn ich kenne in diesem Leben kein größeres Vergnügen, noch ein besseres Mittel sich selbst ein gutes Andenken zu stiften, als eine ununterbrochene Freundschaft mit einem edlen, gemeinnützigen, würdigen Manne und einem Freunde seines Vaterlandes. Ich bin

Den 7. März 1690.

Ihr ergebenster und aufrichtigster Diener
John Locke.


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